(Ehemalige) Haftorte sind durch Projektionen stark aufgeladene Orte: Vorwissen, Medien und teils auch familiär tradierte Erzählungen von Hafterfahrung bestimmen den Blick, den Besucher:innen auf historische Gefängnisse richten. Wie kann es im Rahmen historisch-politischer Bildungsangebote an Orten ehemaliger Haftanstalten gelingen, ein differenziertes Geschichtsbild zu vermitteln? Mit Fokus auf Gedenkstätten und Lernorte in ehemaligen Haftanstalten der DDR diskutierten Akteur:innen aus Forschung, Gedenkstätten- und Schulpädagogik diese Frage im Rahmen des dritten Teils der Workshopreihe zu Forschung und historisch-politischer Bildung an ehemaligen Haftorten.
Vorangegangen waren im November 2021 ein Workshop zur Dekonstruktion von Masternarrativen über Strafvollzug, Untersuchungshaft und Justiz in der DDR sowie der alten Bundesrepublik.1 Ein zweiter Workshop im September 2022 befasste sich mit neuen Perspektiven auf historisch-politische Bildungsarbeit in ehemaligen Gefängnissen, vor allem im deutschen, aber auch europäischen Kontext.2 Daran anknüpfend widmete sich der dritte Teil im Mai 2024 nun Besucher:innenerwartungen und -projektionen als Herausforderung für Bildung, Vermittlung und Forschung. In einem multiperspektivisch und interdisziplinär zusammengesetzten Diskutant:innenkreis wurden in Form von zwei Vorträgen und einer Expert:innenrunde Fragen nach Gegenwart und Zukunft historisch-politischer Vermittlungsarbeit besprochen.
AMÉLIE ZU EULENBURG (Berlin) umriss in ihrer Begrüßung bezugnehmend auf den Titel der Veranstaltung den Begriff der Projektion in Anlehnung an Freuds Idee der Übertragung innerer Konflikte auf äußere Objekte und definierte Haftorte als Repräsentanten von Repression, als politisches Instrument für die Durchsetzung bestimmter politischer Ideen. Daraus ergebe sich an diesen Orten die besondere Schwierigkeit trotz ebenjener Übertragung komplexe Geschichtsbilder zu vermitteln. BIRGIT MARZINKA (Berlin) betonte anschließend aus Perspektive der langjährigen Leiterin des Lernorts Keibelstraße, die Wichtigkeit von Austausch- und Feedbackformaten, sowohl, um Rückmeldung von Besucher:innen einzuholen, aber auch im Austausch mit anderen Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen. Unter diesem Vorzeichen stellte sie die diverse Gruppe der Workshopteilnehmer:innen vor.
In ihrem Vortrag wies KATHRIN KLAUSMEIER (Leipzig) darauf hin, dass die Erforschung von Besucher:innenverhalten, obwohl in Museen wohl etabliert, in Gedenkstätten weiterhin herausfordernd ist. Sie begründete dies damit, dass Gedenkstätten, in Abgrenzung zu Museen, keine pädagogische Erlebnisräume, sondern „Orte des Leidens“ seien. Statt der Musealisierung von Vergangenheit stünden Dokumentation, Visualisierung und Beweissicherung im Vordergrund. Dies werfe die Frage auf, mit welchem Ziel Besucher:innenforschung dort betrieben und was Besucher:innenorientierung in diesem Kontext bedeuten kann. Als Grundsatz der Besucher:innenforschung an Gedenkstätten setzte Klausmeier bezugnehmend auf Bert Pampels Untersuchung zur Wirkung von Gedenkstätten auf Besucher:innen3 die Anerkennung subjektiver Voraussetzungen einzelner Besucher:innen und der Enttäuschung, die Gedenkstättenbesuche hervorrufen (können). Diese Enttäuschung entstehe häufig aus dem Kontrast zwischen der Faszination die Schreckensorten zugewiesen wird und den realen Verhältnissen und Bildern in den Gedenkstätten. In Bezug auf die widersprüchlichen Forderungen, die an Gedenkstätten gerichtet werden, einerseits staatstragende Orte der Mahnung vor Diktatur zu sein und andererseits auf die eigen-willigen Sinnbildung, die Besucher:innen als Gruppen und Individuen dort erfahren, eingehen zu können, sprach sich die Vortragende dafür aus, Besucher:innenforschung nicht auf eine Effizienzsteigerung des Läuterungsauftrags auszulegen, sondern stattdessen als Grundlage zur Schaffung offener Lernsituationen zu verstehen. Besucher:innenforschung solle dabei als reflexives Mittel zur Subjektorientierung in einer diversen Gesellschaft verstanden werden. Im Sinne eines dialogischen und partizipativen Arbeitens plädierte die Vortragende praktisch dafür, dass Gedenkstättenpädagog:innen mit offenen Fragen nach Interessen und Bedarfen insbesondere an jugendliche Besucher:innen herantreten. Das Ziel dabei sei Betroffenheit zu erreichen, nicht als Überwältigungsstrategie, sondern als kognitive Einsicht. In einer diversen Gesellschaft, mit heterogenen Gedenkstättenbesucher:innengruppen, sei es dabei gewinnbringend, die DDR als exemplarische Diktaturerfahrung zu vermitteln, ohne jedoch ihre historische Spezifität zu verschweigen. Transparenz hinsichtlich Kontroverse und Geschichtskonstruktion, sowie der reflexive Umgang mit Barrieren, beispielsweise sprachlicher Natur, seien darüber hinaus unerlässlich. Zusammenfassend hielt sie fest, dass Besucher:innenorientierung in der Gedenkstättenarbeit als dialogische, reflexive und inklusive Subjektorientierung verstanden werden muss. Besucher:innenforschung sei dabei notwendig, um spezifische Bedarfe von Besuchenden herauszustellen und auf diese eingehen zu können.
Ausgehend von der These der Workshop-Organisatorinnen, dass Besucher:innen von Gedenkstätten aber auch Zuschauer:innen von Geschichtsdokumentationen Authentizität erwarten, illustrierte CHRISTIAN HALBROCK (Berlin) anhand unterschiedlicher Beispiele aus Spielfilmen mit DDR-Darstellung und zwei ehemaligen Haftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) den Authentizitätsbegriff. Aufgeschlüsselt in Echtheit, Zuverlässigkeit, Triftigkeit und Glaubwürdigkeit bewertete er die Darstellung der politischen und gesellschaftlichen DDR-Realität. Authentizität betrachtete er dabei auf drei Ebenen: Erstens auf der Ebene der baulichen Bewahrung der Gebäudesubstanz, zweitens auf der Ebene der triftigen Erzählung und drittens im Verhältnis zur Erwartungshaltung. Der Verknüpfung der ersten und zweiten Ebene widmete er sich anhand der ehemaligen Untersuchungshaftanstalten (UHA) des MfS Neustrelitz (1953-1987) und Neubrandenburg (1987-1990/2018). Diese Möglichkeit der gegenseitigen Authentifizierung der unterschiedlichen Ebenen machte Halbrock beispielsweise anhand der baulichen Einschreibung des strikten Überwachungscharakters im erhaltenen Teil des Gefängnisbaus fest, welche mit der Erzählung von Zeitzeug:innen korrespondiere. Ähnliches gelte für Berichte von repressiver Effizienz, die sich in der ehemaligen UHA Neubrandenburg in den noch vorhandenen Einschlusszellen zeige. Mit einer starken Tendenz zur Erhaltung originaler Bausubstanz betonte er auch die Schwierigkeit, die bauliche Sicherung und Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen für den Publikumsverkehr zu gewährleisten einerseits und der Substanzerhaltung andererseits.
In der anschließenden, von IRMGARD ZÜNDORF (Berlin) moderierten Diskussionsrunde sprach sich Kathrin Klausmeier noch einmal für die Nutzbarmachung eigen-sinniger Aneignungsprozesse historischen Wissens von Gedenkstättenbesucher:innen aus. Auf Grundlage des Wissens aus der Besucher:innenforschung, dass historisches Lernen subjektiv geschehe, könne historisch-politische Bildung versuchen, andere Perspektive zu ermöglichen, neue Denkanstöße zu liefern und die Konstruktion von Geschichte sichtbar machen. In der Teilhabe von Besucher:innen an Prozessen der Gedenkstättenarbeit läge sogar die Chance, besonders während der Pandemie so virulent gewordene, wissenschaftsskeptische Narrative zu dekonstruieren. Ehrliches, dialogisches Interesse an Rezipient:innen pädagogischer Angebote, wie CORNELIA SIEBECK (Berlin) betonte, sei dabei die Grundlage bedürfnisorientierter historisch-politischer Bildungsarbeit. JAN HAVERKAMP (Berlin) wandte gegen die theoretisch begrüßenswerte Idee offener historischer Lernprozesse eine pragmatische Schwierigkeit ein: die Idee des werturteilsfreien historischen Lernens stünde dem politischen moralischen Auftrag von Gedenkstätten konträr entgegen. Kathrin Klausmeier widersprach: viel sinnvoller als diese strikte Trennung, sei ein Zusammendenken von Gedenken und Lernen. Beispielsweise durch die Sichtbarmachung der Konstruiertheit von Erinnerungsorten.
In der Fishbowl-Diskussion, moderiert von Birgit Marzinka, kamen Diskutant:innen mit gedenkstättenpädagogischen, schulischen und wissenschaftlichen Perspektiven zu Wort. In Bezug auf die Erwartungshaltung waren sich alle Teilnehmer:innen aus der pädagogischen Praxis einig, dass unerfüllbare Authentizitätsansprüche an Gedenkstätten gerichtet werden. Lehrpersonen würden insbesondere den Wunsch an Gedenkstätten herantragen, als Orte der „Diktaturabschreckung“ zu fungieren, wie Jan Haverkamp bemerkte, was nur schwer mit dem eigenen wissenschaftlichem Selbstanspruch zu vereinen wäre. Die Erwartungen von Schüler:innen hingegen seien oft etwas schwerer zu fassen, weswegen JENS GIESECKE (Potsdam) Kathrin Klausmeiers Ansatz unterstrich und für eine stärkere Besucher:innenforschung plädierte. Ziel sei es dabei die Ergebnisse zu nutzen, um (falsche) Erwartungen besser dekonstruieren zu können.
KATHARINA HOCHMUTH (Berlin) und SUSANNE SCHÄFFNER-KROHN (Brandenburg an der Havel) betonten den Spagat zwischen inklusiven und immer ausdifferenzierten Ansätzen bedürfnisorientierter Bildungsarbeit, der aus der Orientierung an Besucher:innenforschung resultiere. WALTRAUD SCHREIBER (Eichstätt) schlug im praktischen Umgang damit das Konzept des Universal Designs vor. Darin würde Diversität von Gruppen anerkannt und unterschiedliche Angebote seitens der Bildner:innen gemacht, der Gruppe schließlich aber selbst überlassen, auszuwählen, womit sie sich beschäftigen möchte. Ergänzend machte Schreiber stark, Irritationspotenzial und Fremdheitserfahrung für Bildungsprozesse auszunutzen. Beides sei grundlegend für Interessensentwicklung und Lerneffekte. Schließlich, und damit widersprach sie der Sorge vor einer Beliebigkeit (zu) dekonstruktivistischer Geschichtserzählungen, betonte sie die Relevanz empirischer Triftigkeit. Diese sei selbstverständlich Grundlage jeder historischen Bildungsarbeit. AXEL JANOWITZ (Berlin) hob daran anschließend die Schwierigkeit hervor, eben jene empirische Triftigkeit einzuhalten, historische Komplexität darzustellen, dabei aber Inhalte auf einen kommunizierbaren, vermittelbaren Kern herunterzubrechen.
Ein weiterer wichtiger Punkt der Diskussion war die Erwartung, die die Politik an Gedenkstätten richte und woraus sich eine Förderlogik der Jahrestage ergebe. JOCHEN KRÜGER (Berlin) stellte infrage, inwiefern die Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses in Zeiten der erstarkenden Rechten mit einer klaren Bezugnahme auf Parteien in der historisch-politischen Bildungsarbeit noch eingehalten werden könnten.
Einige Fragen wurden kontrovers diskutiert, ohne auf eine Lösung zu kommen. Zugleich ergaben sich aus der Runde aber auch ganz konkrete, praktische Anreize: So betonte Kathrin Klausmeier den Vorteil von Bildungspartnerschaften nach dem Vorbild des Landes Nordrhein-Westfalen, die eine längerfristige Kooperation und einfachere Kommunikation zwischen Schulen und Gedenkstätten ermöglichten, Axel Janowitz wies auf die Nachhaltigkeit für Bildungsprozesse hin, wenn Besuche außerschulischer Lernorte (digital) vor- und nachbereitet werden würden und ULRIKE SEECK (Berlin) empfahl, statt klassischen Führungen, methodendiverse, aktivierende Angebote durchzuführen.
ELKE STADELMANN-WENZ (Berlin) schloss mit einem Plädoyer für mehr Austausch und Kooperation zwischen einzelnen Institutionen der historischen Gedenk- und Bildungsarbeit, was BIRGIT MARZINKA (Berlin) als „Plattform mit Synergieeffekten“ bezeichnete und allgemein begrüßt wurde.
Dass ein regelmäßiger, interdisziplinärer Austausch zwischen forschender und vermittelnder Gedenkstättenpraxis als auch schulischen Perspektiven notwendig ist, zeigten die angeregte Debatten, die sich auch schon an die Vorträge anschlossen und an der sich unterschiedlichste Stimmen rege beteiligten. Als solches Forum war der Workshop erfolgreich und wichtig. Insbesondere Hinweise auf konkrete Erfahrungswerte und praktische Methoden erwiesen sich als gewinnbringend.
Der Redebedarf einiger Workshopteilnehmer:innen in Bezug auf unerfüllbare Ansprüche, die aus Besucher:innenperspektive, aber auch aus Politik und Fördermittelvergabe an Gedenkstätten und Lernorte an ehemaligen Haftorten gerichtet werden und die Belastung, die daraus für Mitarbeiter:innen dieser Institutionen resultiere, betonte auf ernüchternde Weise die Prekarität historisch-politischer Bildungsarbeit. An dieser Stelle wurde deutlich, dass es an konkreten Unterstützungsangeboten und kollegialen Beratungsmöglichkeiten mangelt, solche aber wichtig wären, um bei Formaten wie diesem den thematischen Fokus nicht zu verlieren.
Konferenzübersicht:
Amélie zu Eulenburg (Berlin) / Birgit Marzinka (Berlin): Begrüßung
Impulsvorträge:
Irmgard Zündorf (Potsdam): Moderation
Kathrin Klausmeier (Leipzig): Besucher:innen im Fokus. Was heißt Besucher:innenorientierung an Gedenkstätten?
Christian Halbrock (Berlin): Eine Forschungsperspektive auf die Haftorte. Authentischer Ort, Erwartungen, Fakten
Fishbowl: Wie weiter in der Vermittlungsarbeit?
Birgit Marzinka (Berlin): Moderation
Elke Stadelmann-Wenz (Berlin)
Susanne Schäffner-Krohn (Brandenburg an der Havel)
Axel Janowitz (Berlin)
Ulrike Seeck (Berlin)
Jens Gieseke (Potsdam)
Anmerkungen:
1 Hendrik Wehling, Tagungsbericht zu: Bildungsarbeit zu Strafvollzug und Untersuchungshaft in der DDR, in: H-Soz-Kult, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127866, (03.05.2024).
2 Hendrik Wehling, Tagungsbericht zu: Neue Perspektiven auf historisch-politische Bildung in ehemaligen Gefängnissen, in: H-Soz-Kult, https://www.hsozkult.de/searching/id/fdkn-131934?title=neue-perspektiven-auf-historisch-politische-bildung-in-ehemaligen-gefaengnissen&recno=11&q=keibelstra%C3%9Fe&sort=&fq=&total=28amp;fq=&total=28 (03.05.2024).
3 Bert Pampel, "Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist". Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher, Frankfurt am Main 2007.