Am Deutschen Historischen Institut Paris endete in diesem Frühjahr die langjährige Dienstzeit von Rolf Große als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 2010 auch als Leiter der Abteilung „Mittelalterliche Geschichte”. Zu diesem Anlass haben Kolleg:innen eine deutsch-französische Festveranstaltung zu seinen Ehren organisiert, die sich einem Untersuchungsgegenstand widmet, der wie kaum ein anderer für das Wirken Rolf Großes steht: den Urkunden. Urkunden eröffnen vielfältige Perspektiven auf faszinierende Aspekte des mittelalterlichen Lebens und spiegeln die Pluralität mittelalterlicher Gesellschaften. Im Zentrum des Workshops stand einerseits das Wirken von Menschen durch und mit Urkunden, sei es als Aussteller:innen, Empfänger:innen, Schreiber, Kopisten, Historiographen verschiedener Epochen oder Herausgeber:innen dieser Dokumente. Andererseits wurden kuriose und merkwürdige Facetten der Diplomatik beleuchtet, die bei der Erforschung von Urkunden immer wieder aufscheinen.
Die erste der zwei Sektionen stellte die Materialität der Urkunde bzw. ihrer Überlieferung in den Mittelpunkt. Den Anfang machte SÉBASTIEN BARRET (Paris), der sich mit graphischen Besonderheiten der Urkunden des Klosters Cluny vom 9. bis zum 11. Jahrhundert auseinandersetzte. Dabei legte er besonderen Wert auf den menschlichen Einfluss auf die Urkunden, der sich nicht nur – offensichtlich – auf die graphische Gestaltung zum Zeitpunkt der Entstehung auswirkte. Denn auch bei Lagerung, Konservierung und Studium hinterließen die mit den Dokumenten interagierenden Menschen ihre Spuren. Dies verdeutlichte Barret anhand einiger Dokumente, die durch die Nutzung von Chemikalien im 19. Jahrhundert zwar kurzfristig lesbarer, langfristig jedoch unlesbar gemacht wurden. Barret gelang es, anhand der cluniazensischen Urkunden grundsätzliche Probleme zu verdeutlichen, die vor allem den Bereich der sogenannten Privaturkunden betreffen. Die der Diplomatik grundlegende Frage der Echtheitskritik orientiert sich häufig an einer formalen Regelhaftigkeit, sodass Abweichungen von diesen für einen Aussteller typischen Gepflogenheiten ein Dokument unter Verdacht stellen. Was aber, wenn – wie in Barrets Beispielen aus Cluny – Uneinheitlichkeit die Regel ist? Diese Frage wird die Diplomatik der Privaturkunde weiter beschäftigen.
Hingegen ist die Diplomatik der Papsturkunde ein lang etabliertes Forschungsfeld, auf dem die meisten Arbeiten von Rolf Große angesiedelt sind. Dass auch dort die Überlieferungsgeschichte noch spannende Erkenntnisse ermöglicht, zeigte SEBASTIAN GENSICKE (Aachen) in seinem Vortrag. Er untersuchte, wie graphische Symbole päpstlicher Urkunden in den Abfassungsanleitungen tradiert wurden, die in das Breviarium de dictamine des Alberich von Montecassino und das Elementarium doctrinae rudimentum des Papias Eingang gefunden haben. Anhand der Wiedergabe der graphischen Zeichen konnten auf der Basis von über 50 Handschriften innerhalb des Breviarium und der drei Redaktionsstufen des Elementarium (MC, β, α) einzelne Überlieferungsstränge nachverfolgt werden. Dabei ließ sich ein unterschiedlicher Umgang mit den einzelnen Zeichen feststellen: während das Benevalete-Monogramm zunehmend und bis zur Unkenntlichkeit verformt wurde, blieben bei zahlreichen Christusmonogrammen Merkmale erhalten, die im Text bereits nicht mehr beschrieben waren. Die leeren Felder der Rota luden hingegen manche Schreiber dazu ein, aktuellere Papstnamen einzufügen oder auf Petrus und Paulus zu verweisen. Der Vergleich der Christusmonogramme mit den auf zeitgenössischen Papsturkunden erhaltenen Invokationszeichen hat gezeigt, dass auf den Urkunden andere Formen verwendet wurden, als die Handschriften angeben. Schließlich gelang es Gensicke überzeugend darzulegen, dass das Elementarium des Papias frühestens zeitgleich zur Entstehung von Alberichs Breviarium (1077–1184) zu datieren und damit 20–30 Jahre später als bisher angenommen.
Den Abschluss dieser ersten an der Materialität ausgerichteten Sektion bildete der Vortrag von JEAN-CHARLES BÉDAGUE (Paris), der in seinem Titel das berühmte Zitat von Francis Bacon (Audacter calumniare, semper aliquid haeret) aufgriff und in Bezug auf sein Thema abwandelte: Grattez, grattez, il en restera toujours quelque chose. Diesem Motto folgend, betonte Bédague die Bedeutung von in Palimpsesten überlieferten Dokumenten anhand einer Briefsammlung Gregors VII., deren scheinbar leere Seiten er einer hochmodernen Multispektralanalyse unterzog. Die Ergebnisse waren beeindruckend, bildete sich doch ein deutlich erkennbarer wie lesbarer Text ab. Die Hoffnung, mit dieser Technologie vielleicht einen noch unbekannten Brief Gregors VII. zu finden, hat sich zwar nicht erfüllt – es war eine weitere Kopie eines bereits bekannten Textes. Doch die Möglichkeiten dieser aufwendigen Sichtbarmachung sind deutlich geworden und werden künftig sicher vor allem in Zweifelsfällen zum Einsatz kommen oder wenn berechtigte Hoffnung auf Neufunde besteht. Zudem ermöglichte die Entdeckung der ausradierten Abschrift neue Perspektiven auf das Verhältnis der Empfänger (Stift Saint-Omer) zu Robert I., Graf von Flandern.
Die zweite Sektion widmete sich dem „Sitz im Leben” päpstlicher und königlicher Urkunden. Seit die Päpste ab Mitte des 11. Jahrhunderts anfingen, Privilegien und Briefe nicht nur auf Anfragen, sondern „aus eigenem Antrieb“ (R. Schieffer) auszustellen, kann man aus manchen dieser Schreiben auch biographische Details oder persönliche Bezüge eines Papstes zu Personen oder Institutionen ablesen. Diesen wertvollen Informationen ging URSULA VONES-LIEBENSTEIN (Köln) am Beispiel Hadrians IV. (1154–1159) nach, indem sie seine Schreiben auf seine persönliche Bindung an die Abtei Saint-Ruf in Avignon hin untersuchte, deren Abt er vor seiner Wahl zum Papst war. Im Zentrum stand die Frage, inwiefern ein ehemaliger Abt auf der Cathedra Petri seine Beziehungen in „seine” Abtei pflegte. Es gelang Vones-Liebenstein einen breiten Kreis an Weggefährten Hadrians zu ziehen, sodass sie sein Eingreifen zugunsten Graf Raimunds Berengar IV. von Barcelona genauso nachvollziehbar werden ließ, wie den päpstlichen Einsatz zur Freilassung Erzbischofs Eskil von Lund, oder die Unterstützung für Hugo Pierleoni, dessen Wahl zum Bischof von Piacenza Hadrian IV. begünstigte. Ferner arbeitete sie aus den Schriftstücken die thematischen Interessengebiete des Papstes heraus, der sich in seinen Briefen – ganz im Geiste der Regularkanoniker – mit Themen wie der hospitalitas oder der vita communis auseinandersetze. So erklären sich unter anderem seine Aufforderungen zur strengeren Beachtung des Stundengebets, die er für Regular- sowie Säkularkapitel vorsah. Wenngleich das Vorhaben, einer mittelalterlichen Persönlichkeit auf die Spur zu kommen, kritisch diskutiert werden kann, hat Vones-Liebenstein das Erkenntnispotential päpstlicher Schreiben vor Augen geführt, denen dank einer kritischen Quellenanalyse tiefgreifende Informationen über Bindungen und Diskussionsthemen zwischen Zeitgenossen abzugewinnen sind.
HARALD MÜLLER (Aachen) widmete sich einem Schriftstück, dessen Echtheit zwar nie von der Forschung angezweifelt wurde, dessen Untersuchung allerdings so manch eine Frage unbeantwortet lässt. Wenige Tage nach seiner Krönung in Aachen am 13. März 1138 gewährte Konrad III. der heute in der Stadt Aachen gelegenen Abtei Burtscheid ein umfangreiches Privileg, das dem Kloster den Status einer Reichsabtei zu bestätigen scheint. Das Diplom gewährte dem Abt weitgehende Vorrechte im Umgang mit dem König, wie beispielsweise eine mensa regalis, die dem Abt einen Platz am Tisch des Königs vorbehält. Doch schon der Umstand, dass der Begriff mensa regalis vor 1200 sonst nur in gefälschten Urkunden auftaucht, sollte stutzig machen. Darüber hinaus ordnete Harald Müller die Königsurkunde in die Geschichte des Klosters ein und konnte so die einzelnen verbrieften Rechte auf ihre Plausibilität hin prüfen. Insbesondere mit Blick auf die Bedeutung des Marienstifts muss die hier angeblich gewährte Rolle des Burtscheider Abts bei einem Herrscherbesuch jedoch mit einem großen Fragezeichen versehen werden, sodass eine Neubewertung der Privilegierung in Betracht gezogen werden sollte.
Zum Abschluss des Tages beleuchtete MICHELLE BUBENICEK (Paris), Direktorin der École des Chartes, in ihrem Festvortrag das Thema der von Herrscherinnen ausgestellten Urkunden, das dank der Pionierarbeit von Andrea Stieldorf langsam aber sicher ins Erkenntnisinteresse der Diplomatik rückt. Anhand der Urkunden ausgewählter französischer Königinnen des Spätmittelalters ging Bubenicek zunächst der Frage nach, unter welchen Umständen diese Herrscherinnen überhaupt Urkunden ausstellten, um sich anschließend konkreten Dokumenten zu widmen. Dabei erwies sich ihr Fokus auf die Besiegelung dieser Urkunden als fruchtbarer Ansatz für neue Befunde, denn Bubenicek konnte feststellen, dass das Siegel hochadeliger Frauen an deren Statusänderungen durch Eheschließung oder Witwenschaft angepasst wurde. Damit ist ein selten bedachter Handlungsspielraum weiblicher Selbstrepräsentation angesprochen. An diesen Befund anknüpfend, typologisierte Bubenicek die beispielhaft untersuchten Urkunden zunächst nicht nach deren Formelaufbau, sondern nach den historischen Kontexten ihrer Ausstellung, womit sie zur Diskussion stellte, inwiefern Veränderungen der äußeren wie inneren Merkmale dieser Schriftstücke auf die Ausstellungsstände einer Regentschaft oder Witwenschaft zurückzuführen seien. Ihre Ergebnisse formulierte Bubenicek bewusst offen, um auf die vielen Forschungsdesiderate aufmerksam zu machen, denen sich künftige Untersuchungen widmen können.
Konferenzübersicht:
Sébastien Barret (Paris): Des curiosités graphiques dans l’œil des chercheurs. Les »actes privés« des ixe–xie siècles.
Sebastian Gensicke (Aachen): Ut plenius autem in hoc monogrammate Christi nomen appareat, tali mea sententia effigiabitur specie. Die Christusmonogramme der Papsturkunden bei Papias und Alberich von Montecassino.
Jean-Charles Bédague (Paris): »Grattez, grattez, il en restera toujours quelque chose«. Une collection de lettres de Grégoire VII réinterrogée à la lumière du multispectre.
Ursula Vones-Liebenstein (Köln): Papsturkunden als Spiegelbild der Persönlichkeit ihres Ausstellers.
Harald Müller (Aachen): Stets zu Gast am Tisch des Königs. Ein staunenswertes Privileg Konrads III. für den Abt von (Aachen-)Burtscheid.
Michelle Bubenicek (Paris): Existe-t-il une diplomatique féminine au Moyen Âge? Étude de cas, XIVe-XVe siècles.