Marginalisierung und Medizin in historischer Perspektive

Marginalisierung und Medizin in historischer Perspektive

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin des Bosch Health Campus
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
08.04.2024 - 10.04.2024
Von
Lukas Buchholz-Hein, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

In der Geschichte sind Marginalisierungen ein immer wiederkehrender Bestandteil des Umgangs von Gesellschaften und Gruppen mit aufkommenden oder vermeintlich wahrgenommen Problemen. Aus medizinhistorischer Perspektive bietet sich dabei ein breites Spektrum an Themen an, welche sich auch jenseits einer rein auf die Krankheit fokussierten Betrachtung ergeben. Die stigmatisierende Wirkung, die zum Ausschluss an der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, der medizinischen Versorgung oder der Lebensfähigkeit führt, ist nur ein kleiner Bestandteil dessen. Gesellschaftliche und staatliche Rahmenbedingungen bieten eine Grundlage für den sozialen Umgang mit Krankheiten von Betroffenen. Weggesperrt in Narrentürme, dem Siechtum oder der Forschung überlassen, ermordet, misshandelt oder im Rahmen der Familie gepflegt - die Spannweite des historischen Umgangs mit marginalisierten Patient:innen ist groß. Diesen Umgang zu analysieren, aber auch die zeitgenössischen Gegebenheiten in den notwendigen historischen und medizinhistorischen Kontext zu setzen und differenziert darzulegen, um ein ausdifferenziertes Bild medizinischer Marginalisierungen zu bekommen, war ein wichtiger Bestandteil des 41. Stuttgarter Fortbildungsseminars. Die von Jana Schreiber (Marburg), Lukas Alex (Bayreuth) und Pierre Pfütsch (Stuttgart), organisierte Nachwuchstagung vereinte hierbei Beiträge unterschiedlicher Ansätze, Zeiträume und geopolitischen Regionen.

Die erste Sektion widmete sich Sexualität und Gesellschaft.

Im Vortrag von AARON HOCK (Mainz) ging es um die pandemische Humandifferenzierung als soziokulturelle Praxis der dauerhaften Kategorisierung von Menschen während Pan- und Epidemien. Als Beispiele dienten hier Aids und Corona, anhand dessen aufgezeigt wurde, inwieweit sich ein komplexes Wechselspiel zwischen Marginalisierung von als Gefährdern wahrgenommenen Gruppen, deren Nutzung der Marginalisierung für das eigene Selbstbildnis und Handeln, auch in Bezug auf die Krankheit, und deren Umgang innerhalb der Gruppe und Gesellschaft, entwickelt.

Im Beitrag von VICTORIA MORICK (Göttingen) wurde der Blick auf die historische Betrachtung der Syphilis am Beginn des 20. Jahrhunderts, mit einem Fokus auf visuelle Quellen, geworfen. Dabei zeigte Morick auf, wie bestimmte weibliche Berufsgruppen als Übertragende und Verbeiter der Krankheit stigmatisiert und damit auch moralisierend ausgegrenzt wurden, im Vergleich zu Berufsgruppen, welche sich zwar Infizierten, jedoch nicht als Auslöser der Krankheit galten. Hierbei spielte die soziale Differenzierung zwischen gesellschaftlichen Schichten und die anerkannte Nützlichkeit der Tätigkeiten für die Gesellschaft und des „Volkskörpers“ ebenfalls eine wichtige Rolle.

Dieses vorherrschende Gedankengut eines „Volkskörpers“, den es zu schützen gilt, wurde bei PAUL FLORIAN STEFFAN (Düsseldorf) weiter ausgeführt. Dieser behandelte in seinem Vortrag die Thematik der Sterilisation und Kastration und deren Entwicklung in der gerichtsmedizinischen Praxis der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus anhand einer quantitativen Analyse der „Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin“ und zeigte so Zusammenhänge zwischen allgemein herrschendem eugenischen Gedankengut, Gesetzen und sich dadurch manifestierenden Trends auf. Deutlich wurde dabei, dass Krankheit und der Umgang damit nicht nur eine Thematik der Medizin ist, sondern diese immer auch an gesellschaftliche Rahmenbedingungen rückgekoppelt ist.

In der zweiten Sektion Beruf und Gesundheitswesen wurde diese gesellschaftliche Wirkmacht unter einem anderen Blickpunkt wieder aufgenommen und die Perspektive zuerst auf die betroffenen Patient:innen gerichtet.

So begann TERESA SCHENCK (Berlin) mit einem Fokus auf Frauen als Praktizierende und Zielgruppe der Naturheilkunde im deutschen Kaiserreich zwischen 1880 bis 1914. Hierbei stellte Schenk einerseits heraus, wie die Naturheilkunde in der breiten Masse der Bevölkerung anklang fand und durch diese Entwicklung medizinische Themen für Frauen öffentlich behandelt wurden. Gleichzeitig wurden Frauen instrumentalisiert, um eine medizinische Grundbildung für den „Volkskörper“ zu gewährleisten, während in den naturheilkundlichen Vereinen durch patriarchale Vereinsstrukturen versucht wurde deren Beitrag zu kaschieren.

SARA MÜLLER (Zürich) lenkte dem Blick von dem Menschen aufs Tier und betrachtete dabei die wechselseitige Beziehung unter einem medizinhistorischen Fokus. Müller zeigte hierbei auf wie sich verschiedene historische Entwicklungen in der veterinärmedizinischen Behandlungspraxis von Kälbern widerspiegeln. Durch diesen, durch multispecies intersectionality geprägten, Ansatz betonte Müller nicht nur den durch, auch gesellschaftliche, Bedeutungsverschiebungen ausgelösten veränderten Umgang, sondern vollzog den Bedeutungswandel anhand vieler historischer Beispiele nach.

Ebenfalls mit gesellschaftlichen Wechselprozessen und deren Auswirkungen auf die Medizin setzte sich LARS BÖLSCHER (Magdeburg) auseinander. Er betrachtete die Physiotherapie unter dem Gesichtspunkt des nach der Wiedervereinigung entstandenen Berufsgesetzes. Hierbei beschäftigte sich Bölscher mit den Gegebenheiten in BRD und DDR der verschiedenen Berufsstände und Rahmenbedingungen, um damit seine These des nichtvorhandenen Einflusses der Gegebenheiten der DDR auf das Gesetz darzulegen.

Die dritte Sektion behandelte das Themenfeld Psyche und Ordnung. Hierbei wurde der Umgang mit psychisch Kranken im Kontext von oktroyierender Macht betrachtet. Dabei wurde einerseits soziale Ordnung als Handlungsgrundlage für Marginalisierungen und andererseits psychisch Kranke, eine besonders betroffene Gruppe, in den Mittelpunkt gestellt.

Es begann LOUISA-DOROTHEA GEHRKE (Leipzig) mit einem Fallbeispiel von Epilepsie in Königsberg im 18. Jahrhundert. Anhand diesem wurde das damalige Medizinverständnis in einem Wechselspiel zwischen Arzt, Gesellschaft, Religion und tradiertem Aberglauben dargelegt. Dabei verdeutlichte Gehrke die Machtgefälle zwischen Arzt und Patient:innen, in welchem die Patient:innen im eigenen Handeln eingeschränkt und der Willkür und Deutungshoheit der Ärzte und Gesellschaft aufgeliefert waren, während es im Zuge der Aufklärung gleichzeitig eine Offenheit höherer Bildungsschichten für den Umgang mit Krankheit jenseits des Aberglaubens gab.

Mit dieser Machtlosigkeit von Patient:innen gegenüber staatlicher Herrschaft beschäftigte sich auch JENS KOLATA (Frankfurt am Main) mit seinen Untersuchungen zum Umgang mit forensischen Anstaltspatient:innen zur Zeit des Nationalsozialismus. Hierbei vertrat Kolata die These, dass die Verbindung von Straffälligkeit und Krankheit die forensischen Anstaltspatient:innen im besonderen Maße der nationalsozialistischen Verfolgung aussetzte, da diese als „kriminelle Geisteskranke“ eine besondere Gefahr für den „Volkskörper“ darstellten. Die Analyse der Lebenswege dieser besonders vulnerablen Gruppe, deren Leid auch nach 1945 zumeist nicht anerkannt wurde, zeigt gut auf, wie gesellschaftliche Faktoren Mehrfachmarginalisierungen prägen können.

Ebenfalls mit der Verkettung von gesellschaftlichem Handeln und Vorstellungen nationalsozialistischer Eugenik setzte sich SOPHIE KÜSTERLING (Luzern) auseinander. In ihrem Vortrag behandelte sie die Thematik des durch die Eugenik geprägten Umgangs mit psychisch Kranken Schweizer:innen in Deutschland, bei welchem sich die Schweizer Behörden nicht aktiv für einen Schutz der eigenen Staatsangehörigen einsetzten und somit der Zwangssterilisierung in Deutschland diplomatisch keinen Riegel vorschoben. Dabei legte Küsterling dar, wie die ideologische Befürwortung des eugenischen Handelns mit einem diplomatischen Zurückziehen auf ökonomische Begründungen zu einem faktischen freiwilligen Zwang wurde.

In der vierten Sektion stand das Themengebiet von Fremdheit und Staat im Fokus.

DIRK MODLER (Bochum) betrachtete den Umgang mit erkranktem Militär durch die Zivilbevölkerung während des Ersten Koalitionskrieg. Hierbei stellte Modler heraus, dass durch Art der Kriegsführung und der zu dieser Zeit verbreiteten Miasmentheorie, die durch die Kriegssituation grassierenden Erkrankungen nicht den Soldaten angelastet wurden, sondern den Lazaretten, in denen die Erkrankten untergebracht und versorgt wurden. Somit wurden nicht die Soldaten, sondern die Lazarette als Gefahr für die Zivilbevölkerung wahrgenommen.

Der Beitrag von MARTIN GABRIEL (Klagenfurt) thematisierte die Epidemiebekämpfung und die damit einhergehende Marginalisierung sowie die Medizin im Spannungsfeld des politischen Machterhalts. Dies zeigte Gabriel anhand eines Vergleiches des Umgangs von zwei Pockenepidemien in Süd- und Nordamerika durch die Spanier und US-Amerikaner. Dabei wird verdeutlicht wie Gesundheitspolitik staatlicher Akteure, unter dem Gesichtspunkt hegemonialer Politik, die den Menschen gezielt eine Wertigkeit zuordnet und danach anhand der eigenen politischen Ziele handelte oder nicht, bestimmend sein konnte für den Umgang mit Krankheiten und den davon betroffenen Menschen.

Im Beitrag von FRANCESCO TONCICH (Ljubljana) standen die Umbrüche, die durch den Zerfall der Habsburger Monarchie ausgelöst wurden und deren sichtbaren Einfluss im Gesundheitswesen in Verbindung eines Findungsprozesses nationaler Zugehörigkeit, im Mittelpunkt. Toncich zeigte hierbei anhand von Patientenakten sichtbargewordene Prozesse der Zugehörigkeit zu Nationalstaaten und des Heimatrechts am Beispiel der Südsteiermark und die damit einhergehende Problematik für Patient:innen und Gesundheitssysteme durch die neu entstandenen Grenzen. Toncich konnte aufzeigen, welche zentrale Rolle medizinische Einrichtungen für den Aushandlungsprozess der nationalen Zugehörigkeit und medizinischen Versorgung spielte.

Die Tagung zeigte auf, dass Medizin seit der Frühen Neuzeit auch immer im Kontext von Macht gedacht wurde. Macht von Akteuren, Patienten und Staaten, Handelnden oder Behandelten, aber auch nicht Behandelten. Im Kontext eines Netzes von Machtgeflechten interagierenden Gruppen, die diese nutzen, um selbst handlungsfähig und wirkmächtig zu bleiben und eigene Bedürfnisse durchzusetzen, ist Marginalisierung ein spezifischer Ausdruck dieser Macht.

Dies kann sowohl durch gezielt eingesetzte medizinische Versorgung oder aber auch durch das Abschneiden derer geschehen. Medizinisches Wissen und die Professionalisierung eines Berufsstandes ermöglichen die Deutungshoheit über das eigene Gebiet, wie es im Falle der Epilepsie oder Physiotherapeuten dargelegt wurde. Gleichzeitig kann dies auch, wie im Falle der Naturheilbewegungen geschehen, dazu führen, dass neue Strömungen in Abwehr zu einem entstanden allgemeinen Anspruch entstehen. Staatliche Macht spielt dabei immer wieder eine richtungsweisende Rolle für den Umgang mit einzelnen Gruppen und deren medizinischer Versorgung. Wie anhand verschiedener Beispiele verdeutlicht wurde, bildet diese richtungsgebende Macht einen Überbau, der den weiteren Umgang mit der Krankheit maßgeblich bestimmt und damit den Patient:innen einen Raum gibt, in dessen Grenzen agiert werden kann. Auch um u.a. diesen Raum der Patient:innen nochmals anders zu betrachten, wird sich das nächste Stuttgarter Fortbildungsseminar im April 2025 mit Sinnen und Emotionen in der Geschichte der Medizin befassen.

Konferenzübersicht:

Auftakt

Jana Schreiber (Marburg) / Lukas Alex (Bayreuth): Überlegungen zum Fortbildungsthema

Sektion 1 – Sexualität und Gesellschaft
Pierre Pfütsch (Stuttgart): Moderation

Aaron Hock (Mainz): How to have theory in (yet another) epidemic. Vergleich pandemischer Humandifferenzierungen in Zeiten von Aids und Corona

Victoria Morick (Göttingen): Syphilis als Instrument der Ausgrenzung? Die Marginalisierung weiblicher Berufsgruppen und ihrer Körper zwischen 1900 und 1930

Paul Florian Steffan (Düsseldorf): Sterilisation, Kastration und Entmannung in der Weimarer Republik und Nationalsozialismus

Sektion 2 – Beruf und Gesundheitswesen
Lukas Alex (Bayreuth): Moderation

Teresa Schenk (Berlin): Gender, Wissen und Naturverehrung: Zur Bedeutung von „Frauenleiden“ und Sexualaufklärung in der Naturheilkunde (1880–1914)

Sara Müller (Zürich): Das Kalb als Patient. Mehrfachmarginalisierungen im Schweizer Gesundheitswesen des frühen 20. Jahrhunderts

Lars Bölscher (Magdeburg): Die deutsch-deutsche Wiedervereinigung und das Berufsbild der Physiotherapie (1980er und 1990er Jahre)

Sektion 3 – Psyche und Ordnung
Jana Schreiber (Marburg): Moderation

Louisa-Dorothea Gehrke (Leipzig): „der gemeine Mann hat aber ausgesaget, sie wäre besessen“ – Epilepsie im Königsberg des 18. Jahrhunderts

Jens Kolata (Frankfurt am Main): Forensische Anstaltspatienten im Nationalsozialismus

Sophie Küsterling (Luzern): „Zudem sei die Sterilisation Anormaler nicht das Dümmste, was im Dritten Reich gemacht werde“ – Diplomatischer Schutz von psychisch kranken Schweizer:innen in NS-Deutschland

Sektion 4 – Fremdheit und Staat
Lukas Alex (Bayreuth): Moderation

Dirk Modler (Bochum): “alle pfaaren, in welche die Truppen Verlegt wurden: mit Krankheit angesteckt, starben auch Viele.“ – Erkranktes Militär als Gesundheitsgefahr für die Zivilbevölkerung während des Ersten Koalitionskrieges (1792-1797)

Martin Gabriel (Klagenfurt): Epidemiebekämpfung und Marginalisierung: Die Fallbeispiele Guatemala (1780) und New Mexico (1898/99)

Francesco Toncich (Ljubljana): Grenzziehung und nationale Homogenität durch Krankheiten. Die Schaffung neuer Zugehörigkeiten und Mobilität durch die medizinische Praxis nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie (1918-1924)