Dieses Jahr feierte der Kasseler Italientag sein zehntes Jubiläum. Die jährlich stattfindende Veranstaltung wird vom Italien-Netzwerk der Universität Kassel organisiert und hat sich zum Ziel gesetzt, interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln und die internationale Zusammenarbeit aufzubereiten. In ihrer Eröffnung gab die derzeitige Sprecherin AGNIESZKA KOMOROWSKA (Kassel) einen Rückblick auf die letzten Italientage und die Entwicklung der Veranstaltung, die zum ersten Mal nicht auf dem Gelände der Universität, sondern im UNI:Lokal in der Innenstadt stattfand. Als Höhepunkt der vergangenen Italientage ist dabei sicherlich der siebte Italientag zum Thema Venedig im Gedächtnis geblieben, der inmitten der Coronazeit mit über 100 Teilnehmenden via Zoom stattfand. Der zehnte Italientag nahm wiederum eine historische Perspektive ein und fragte nach Diskursen über Gewalt und Geschlecht in Italien von der Renaissance bis zur Gegenwart. Komorowska erinnerte in ihrer Einführung zudem an die Aktualität des diesjährigen Themas.
Den Auftakt machte CHRISTIAN JASER (Kassel), der sich mit den italienischen Paliorennen in der Renaissance beschäftigte. Der Vortrag eröffnete damit, dass die gegenwärtige Aufmerksamkeitskonzentration auf dem zweimal jährlich stattfindenden Palio di Siena ganz im Gegensatz zu der viel breiteren Paliokultur der Renaissance mit ihren Wettkämpfen in vielen Städten Nord- und Mittelitaliens (zum Beispiel Bologna, Florenz) stünde. Jaser betonte die Ambivalenz des Gewaltbegriffs im Mittelalter – zum einen die potestas als Herrschaftsgewalt und zum anderen die violentia als die illegitime Gewalt. Eine Kopräsenz beider Begriffe findet sich beim Palio der Renaissance. So waren Pferderennen eine Signatur der kommunalen Hoheit über den städtischen Raum. Die Stadt hatte die organisatorische Kontrolle über den Wettkampf, dessen Regeln sie bestimmte, sowie über die Tiere und Zuschauer. Die Nähe zur Herrschaftsgewalt wird auch beim Rennkurs durch die Stadt, der meistens geradlinig durch die Stadt von einem Stadttor zum anderen und an wichtigen Bauwerken vorbei verlief, deutlich. Zugleich galten die wertvollen Pferde als Stellvertretertiere ihrer Patrone, wodurch sie – wie im Fall von Cosimo de Medici und seinem Hengst – zu potenziellen Attentatszielen wurden. Dazu gab es ein hohes Verletzungs- und Unfallrisiko, wenngleich dieses geringer als beim heutigen Palio di Siena war. Der Vortrag stellte die Paliorennen als Arenen gemischtgeschlechtlicher Statusrepräsentation dar. Da es ein Wettbewerb auf Stellvertreterebene war, konnten sowohl Männer als auch Frauen daran teilnehmen. Jaser hob Isabella d’Este hervor, welche eine bekannte Patronin war und als Kennerin der Paliorennen galt, zu denen sie mit ihrem Mann Hunderte von Briefen austauschte. Obwohl vor allem Hengste an den Wettbewerben teilnahmen, gab es auch spezifische Stutenrennen. Die Hengste waren jedoch bekannter, wie das „Paninibuch“ der Rennpferde zeigt, in dem nur eine einzige Stute dargestellt und anders als die Hengste nicht namentlich benannt wird. Jaser zeigte auf, dass die Paliorennen ein vielschichtiges gesellschaftliches Phänomen waren, das verschiedene Aspekte von Macht, Status und Geschlecht miteinander verband.
Im Anschluss thematisierte JACOPO ROMEI (Kassel) den Femizid in Italien, zu dem das Istituto nazionale di statistica (ISTAT) über 300 Fälle zwischen 2022 und 2024 dokumentierte. Der Mord an Giulia Cecchetti rückte das Thema in die öffentliche Aufmerksamkeit mit dem Ziel, die narrativen Konstruktionen zu durchbrechen. Femizide in Italien sind eine kulturelle Realität, die sowohl durch Musik und Kunst als auch in der Literatur vermittelt wird. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte um Clorinda und Tacredi in Torquato Tassos Das befreite Jerusalem (1581), die den Femizid ästhetisiert, das Leiden der Toten übergeht und sich auf den Ruhm des Mörders konzentriert. Romei zeigte an ausgewählten Liedern die Aktualität solcher Annäherungen an den Femizid in der Musik, deren harmlose, fröhliche Melodien im Kontrast zur Lyrik stehen. Mit dem weit verbreiteten Motiv der Gewalt verbindet sich hier die „Schwäche“ der Männer, welche die Frauen erst verursacht haben sollen. Mit dieser Rhetorik wird den Frauen die Schuld am eigenen Tod gegeben; die Handlungen der Männer werden verharmlost und entschuldigt. Der Vortrag endete, wie er begann, mit Giulia Cecchetti, ihrer Ermordung durch Turetta und der öffentlichen Wahrnehmung des Falles. Einerseits gab es Berichte, die nicht an eine vorsätzliche Handlung glaubten, Turetta psychische Probleme nachsagten und ihn deshalb von jeder Schuld freisprachen; andererseits ertönen immer wieder Stimmen, die Turetta als Ungeheuer bezeichnen. Giulias Schwester versuchte hingegen deutlich zu machen, dass Turetta keine Ausnahme und somit kein Ungeheuer, sondern ein gesundes Kind des Patriarchats sei, weswegen es sich um ein systemisches und gesellschaftliches Problem handle, das gelöst werden müsse.
Anschließend zeigte RUDOLF BEHRENS (Bochum) an drei ausgewählten Erzählungen, wie in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts das Verbrechen der Vergewaltigung thematisiert und in kriminalanthropologische Diskurse der Zeit (Sighele, Lombroso, Tarde) eingebettet wurde. Dabei trat vor allem der Süden des Landes als Handlungsort oder als Bezugshorizont hervor, da sich dort die Unsicherheiten bei der Transformation einer ruralen und feudalistisch geordneten in eine bürgerlich-libertäre Gesellschaft besonders bemerkbar machten. In allen Fällen bleibt die Perspektive des weiblichen Opfers im strengen Sinne unartikuliert: Entweder interessiert nur die atavistisch-primitivistisch eingefärbte Darstellung der männlichen Gewalttat als massenpsychologisches Phänomen, das in der zeitgenössischen Rechtsprechung zu Problemen der Schuldzuweisung und der Rekonstruktion der Motivlage führte (so in Vergas Tentazione), oder die erzählerisch thematisierte Stimme des Opfers wird indirekt oder direkt von einer männlichen Perspektive dominiert (so in Capuanas Tortura und in D’Annunzios La Vergine Orsola). So scheint Capuana nach Behrens seine Erzählung zwar auf den ersten Blick ausschließlich den inneren Qualen der vergewaltigten Frau zu widmen, aber deren „hysterische“ Gefühle und Überlegungen erweisen sich bei näherem Hinsehen allesamt als Sorge um die Integrität ihrer männlichen Umgebung (Gatte, Täter, Beichtvater). So wendet das Opfer seine Aggression auf sich selbst, indem es sich als Ursprung einer Verletzung patriarchalischer moralischer Ordnungsprinzipien versteht. Bei D’Annunzio ist diese latente Umkehrung der Täter-Opfer-Relation auf die Spitze getrieben: Durch eine lange Vorgeschichte, in der Orsolas wundersame Heilung vom Typhus mit einer Entdeckung des eigenen Begehrens und der eigenen körperlichen Attraktivität verknüpft wird, „provoziert“ das Opfer durch seine „animalische“ Substanz geradezu das Verbrechen und „ermöglicht“ den atavistisch markierten männlichen Handlungsimpuls des „Sich-Nehmens“. D’Annunzio öffnete damit den naturalistisch-veristischen Rahmen einer bloß dokumentierenden Erzählperspektive in Richtung seines späteren Dekadentismus, der die Faszinationskraft des mit dem Tode verschwisterten Begehrens betonte.
Zum Abschluss sprach MARTINA SITT (Kassel) über die reiche Bildtradition zur Darstellung der römischen Patrizierin Beatrice Cenci (1577–1599), deren Aussehen aus keiner zeitgenössischen Abbildung bekannt ist. So verbreiteten sich mehr als 150 Jahre hauptsächlich Geschichten über sie, ihr unbarmherziges Schicksal unter einem gewalttätigen Vater, ihre Verzweiflung, ihr Aufbegehren und ihre vermutliche Anstiftung zum Vatermord, ehe ein vermeintlich authentisches Porträt in der Galleria Barberini 1783 die Rezeption anregte. Das Inventar spricht von „che si crede di cenci“ und „che si crede di Reni“, also von Guido Reni als dem Maler, der ihr aber nie begegnet sein kann. In der Folge rezipierten J. H. W. Tischbein und andere deutsche Maler dieses sehr eindrucksvolle Bildnis und machten Cenci zum Spielball der Deutungen. Sitt verband dies mit Fragen dazu, wie ein tugendhaftes Opfer und wie eine verlogene Intrigantin aussehen würden. Sie konturiert Beatrice als eine in der Rezeption schillernde Figur, die je nach Medium (Text, Bild, Musik) und Perspektive andere Deutungen ihres Schicksals provoziert. Die Korrektur der Zuschreibung des Bildnisses der Donna con turbante – neuerdings an die Malerin Ginevra Cantofoli – ändert daran kaum etwas. So bleibt die Figur der Beatrice Cenci im Spannungsfeld zwischen unschuldigem Opfer und teuflischer Täterin gefangen.
Insgesamt kann der zehnte Italientag wieder als voller Erfolg bezeichnet werden. Die Vorträge aus verschiedenen Disziplinen beleuchteten das Thema Gewalt und Geschlecht in Italien in vielfältiger Weise. Sie eröffneten einen weitreichenden Diskurs über den historischen Wandel und die Perspektiven des Gewaltbegriffs, dessen Konnotationen nur an wenigen Beispielen verdeutlicht werden konnten. In den stimulierenden Diskussionen offenbarte sich das rege Interesse der zahlreich herbeigeströmten Zuhörenden an der Bedeutung geschlechterspezifischer Gewalt in Italien und der Frage, wie historischer, kultureller und gesellschaftlicher Kontext in diesem Bereich zusammenwirk(t)en. Aufschlussreich war, dass sich die Vorträge trotz aller Unterschiede hervorragend gegenseitig ergänzten und das Spannungsfeld zwischen Gewalt und Geschlecht, Opfer- und Täterzuschreibungen in Geschichte, Kunst, Literatur oder Musik vielgestaltig ausgeleuchtet wurde.
Konferenzübersicht:
Agnieszka Komorowska (Kassel): Einführung
Ingrid Baumgärtner (Kassel): Moderation
Christian Jaser (Kassel): Gewalt, Geschlecht, Pferde – die italienischen Paliorennen der Renaissance
Julia Leitherer (Kassel): Moderation
Jacopo Romei (Kassel): Un domani non c’è per tuttә: riflessioni sul femminicidio nell’ Italia contemporanea
Agnieszka Komorowska (Kassel): Moderation
Rudolf Behrens (Bochum): Das stille Verbrechen. Sexuelle Gewalt im italienischen veristischen Erzählen (Verga, Capuana, D’Annunzio)
Nikola Roßbach (Kassel): Moderation
Martina Sitt (Kassel): Beatrice Cenci – ein Leben zwischen Opferszenarien und Ordnungsmacht