Neue Forschungen zu Themen der Geschichte der ländlichen Gesellschaft

Neue Forschungen zu Themen der Geschichte der ländlichen Gesellschaft – Sommertagung der Gesellschaft für Agrargeschichte

Organisatoren
Gesellschaft für Agrargeschichte (GfA) (Landwirtschaftsverlag Münster (LV))
Ausrichter
Landwirtschaftsverlag Münster (LV)
Veranstaltungsort
Hülsebrockstraße 2–8
Förderer
DLG; LV Münster
PLZ
48165
Ort
Münster
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
27.06.2024 - 28.06.2024
Von
Henning Bovenkerk, Seminar für Neuere Geschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die Sommertagung 2024 der Gesellschaft für Agrargeschichte verzichtete dieses Jahr bewusst auf eine thematische Eingrenzung, sondern setzte sich zum Ziel, neue Forschungen von Nachwuchswissenschaftler:innen zur Agrargeschichte zu präsentieren. Die vorgestellten Projekte verdeutlichten, wie facettenreich und vielfältig – sowohl in Bezug auf Themen als auch Methoden – sich die aktuelle Forschung zum ländlichen Bereich darstellt. Die Tagung fand in den Räumlichkeiten des Landwirtschaftsverlags in Münster-Hiltrup statt. Passend zu den Räumlichkeiten eröffneten nach einer kurzen Begrüßung durch die Organisator:innen MALTE SCHWERDTFEGER (Münster) und GISBERT STROTDREES (Münster) vom Landwirtschaftsverlag die Tagung. Auch sie stellten das breite Spektrum der Agrargeschichte heraus. Strotdrees gab ausgehend davon einen Einblick in seine eigene Forschung zu jüdischer Geschichte auf dem Land.1

Den Einstieg in die Tagung machte STEPHAN EBERT (Darmstadt), der anhand von Verwaltungsschriftgut der Klöster Eberbach (Rheingau) und Rein (Steiermark), kulinarischer und diätetischer Fachprosa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Reiseliteratur sowie klösterlicher Bibliotheksbeständen Verflechtungstendenzen zwischen Theorie und kulinarischer Praxis aufzeigte. So präsentiere sich auf vornehmer Ebene insgesamt ein homogenes kulinarisches Bild im deutschsprachigen Raum des 15. Jahrhunderts, in dem Rezeptsammlungen und tatsächlich gereichte Speisen im Einklang stehen. Parallel zu dieser Entwicklung seien aber gerade bei neuartigen Gewächsen wie beispielsweise Mais auch empirische Ansätze greifbar, die einen wechselseitigen Informationsaustausch zwischen ländlicher Bevölkerung und den frühen Botanikern des 16. Jahrhunderts vermuten lassen. Ebert geht davon aus, dass dieser Prozess aufgrund klimatischer Gunstlagen vor allem in der Rheinebene und im Südosten des deutschen Sprachraums (Kärnten, Krain, Steiermark) angestoßen wurde.

LEON ZIMMERMANN (Tübingen) beleuchtete die Entwicklung des ländlichen Lebensstandards in Südwestdeutschland im Zeitraum von 1680 bis 1805. Um die Stärke verschiedener Einflussfaktoren auf diesen festzustellen, verglich Zimmermann systematisch die agrarischen, gewerblichen und marktwirtschaftlichen Entwicklungen verschiedener Dörfer des deutschen Südwestens miteinander, um aufzuzeigen, wie die Diversität dieser Faktoren lokal unterschiedliche Lebensstandards produzierte. Er stellte einerseits die günstige Entwicklung von Ernteerträgen und neuen arbeitsintensiveren Bewirtschaftungsmethoden als relevante Größen bei dessen Verbesserung heraus, andererseits wies er auch einen positiven Einfluss der Existenz protoindustrieller Produktionsformen nach. Die letztgenannten Punkte könnten dabei als ländliche industrious revolution gesehen werden. Die Steigerung des Lebensstandards zeige sich – neben der größeren Verfügbarkeit von Grundnahrungsmitteln – auch in der starken Verbreitung von Baumwollstoffen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, die er anhand von Zehnterträgen und Nachlassinventaren rekonstruieren konnte.

Eine ähnliche Betrachtung schloss sich mit dem Vortrag von HENNING BOVENKERK (Tübingen) an, der anhand eines disaggregierten Datensatzes von Nachlassverzeichnissen die Unterschiede von Konsum und materieller Kultur ländlicher Haushalte in verschiedenen Gemeinden Nordwestdeutschlands analysierte. Die präsentierten Ergebnisse betonten dabei – ebenso wie Zimmermann – die Relevanz der sozio-ökonomischen Voraussetzungen für die Aneignung und den Wandel neuer Konsumstrategien. Auch hier stellten sich die agrarwirtschaftlichen Voraussetzungen, genauso wie der Zugang zu überregionalen oder städtischen Märkten als bedeutende Variablen dar. Der Existenz von Konsumpionieren in Form des Adels oder der oberen städtischen Schichten wies er eine eher untergeordnete Rolle zu, während seine Ergebnisse in Kontrast zu denen von Zimmermann eher einen negativen Einfluss von protoindustriellen Arbeitsformen auf die Veränderung des Konsums nachweisen.

KARSTEN IGEL (Münster) betrachtete in seinem Vortrag Wirtschafts- und Rechnungsbücher des Osnabrücker Benediktinerinnenklosters Gertrudenberg aus der Zeit der Bursdorfer Reform 1475 bis zur Aufhebung des Klosters 1802, die tief reichende Einblicke in die landwirtschaftliche Eigenwirtschaft des Klosters sowie die sich vom Cloppenburgischen bis in den Gütersloher Raum erstreckende Grundherrschaft liefern. Igel präsentierte erste Ergebnisse zu Ertragskurven um 1500, den Rechts- und Abgabenverhältnissen der Eigenbehörigen sowie den Ausgabenrechnungen des Klosters. Ziel des Projektes ist es, die bisher nur zu einem kleinen Teil bearbeiteten Bücher vollständig zu erfassen.

Der ländlichen Migrationsgeschichte widmete sich VIVIEN SPECHT (Kiel), die anhand der Besiedlungs- und Kultivierungsunternehmungen zur Mitte des 18. Jahrhunderts auf der jütischen Halbinsel die Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen beteiligten Akteur:innengruppen analysierte. Die Relevanz dieser Aushandlungsprozesse stellte sie anhand unterschiedlicher Problemfelder bei der Besiedlung und Nutzbarmachung der neuen Flächen dar. Ihre Ergebnisse betonen, dass – unabhängig des Erfolges oder Misserfolges der Unternehmungen – alle Akteur:innen Einfluss auf die Ausgestaltung der Siedlungsmigration nehmen konnten.

JAN OCKER (Kiel) beleuchtete in seinem Vortrag die „innere Kolonisation“ mit ihren „Rentengütern“ im Königreich Preußen als agrarpolitisches Großprojekt. Für die Zeit zwischen 1890 und dem Erstem Weltkrieg nahm er speziell die beiden Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein in den Blick, um die Siedlungsmaßnahmen auf nationaler sowie auf sozialer und volkswirtschaftlicher Ebene einzuordnen. Er ergänzte mit der Betrachtung der Quellen für Nordschleswig/Sønderjylland das Bild vom umkämpften deutsch-dänischen Grenzgebiet aus agrarhistorischer Sicht und stellte die Spannungen bei den Prozessen – auch denen in Bezug nationaler Identitäten und Zugehörigkeiten – heraus.

Den Abschluss des ersten Tages machte JOHANNA KELLER (Halle), die erste Befunde ihres Oral History-Projektes zur subjektiven Wahrnehmung und Erfahrung der Kollektivierungsprozesse zur Bildung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) ab den 1950er-Jahren in der DDR vorstellte. Anhand von Zeitzeugeninterviews zeigt sie (Dis-)Kontinuitäten – vor allem am Beispiel der ambivalenten Wahrnehmung von Kollektivierung und Arbeit in den LPGs – auf. Daneben verdeutlichten ausgewählte Hörbeispiele, dass von den Interviewpartner:innen ganz selbstverständlich auch hoch aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen – von Klimawandel über Nachhaltigkeit bis zur Work-Life-Balance – stets vor dem Hintergrund ihres eigenen spezifisch ostdeutschen Erfahrungswissens verhandelt wurden.

Der zweite Tag stellte noch mehr als der erste die Vielfältigkeit der verschiedenen agrarhistorischen Themen heraus. Nach der Möglichkeit, die Bibliothek des Landwirtschaftsverlags zu besuchen, eröffnete JULIUS VIRNYI (Münster) das Vortragsprogramm mit seinem Beitrag zu westfälischen Hofnamen zwischen Alltagspraxis und staatlicher Regulierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ausgehend vom Versuch, Familiennamen anstelle der widerrechtlich weiter geführten Hofnamen durchzusetzen, stellte Virnyi aus praxeologischer Perspektive die Frage nach dem Spannungsverhältnis von lokaler Herrschaftsausübung und Widerstand der ländlichen Bevölkerung. Er verweist dabei auf die elementare Relevanz der Bedeutung der Zugehörigkeit zu dezidierten sozialen Schichten, welche die Erfolgswahrscheinlichkeiten einer erfolgreichen Namensänderung deutlich beeinflussten.

Erste Eindrücke ihres Promotionsprojekts präsentierte ZOFIA DURDA (Goslar). In diesem fragt sie nach den Rahmenbedingungen sowie architektonischen und sozialen Vorbildern für die Typenbauten der Treuhandstelle für Flüchtlingssiedlung in Niedersachsen im Zeitraum von 1949 bis 1959. Ausgehend von unter anderem den Entwürfen des zuständigen Architekten Walter Ganske wird dazu die gesamte Tätigkeit der Treuhandstelle in den Blick genommen. Die bisherigen Ergebnisse betonen die Problematiken zwischen Architektur, Umsetzung und Nutzung sowie entstehende Spannungsverhältnisse zwischen neuen Siedlern und der Bevölkerung vor Ort.

Ebenso präsentierte DANIEL SOBANSKI (Bochum) mit der Rolle der Landbevölkerung während der Frühindustrialisierung in Rheinland und Westfalen einen Aspekt seines Dissertationsprojekts. Sobanski verdeutlichte eindrucksvoll, wie vielgestaltig die Anknüpfungspunkte zwischen ländlicher Bevölkerung sowie der Ansiedlung und dem Betrieb von Unternehmungen des frühindustriellen Eisengewerbes – in Form der Bereitstellung von Transportdienstleistungen sowie Arbeitskraft – waren. Er machte deutlich, dass sich diese nicht immer einvernehmlich, sondern auch konfliktbehaftet gestalteten und das die Relevanz des ruralen Aspekts der Frühindustrialisierung bisher teilweise deutlich unterschätzt wurde.

JADON NISLY-GORETZKI (Kassel/Witzenhausen) wandte sich in seinem Vortrag der Bedeutung des Tierwohls in Konflikten um die Privatisierung von Gemeinheiten in der Zeit von 1750 bis 1850 zu. In bäuerlichen Bittschriften gegen die daraus resultierenden Weideverbote wurden wiederholt gesundheitliche Vorteile der Weidehaltung für die Tiere vorgebracht. Beim Vergleich mit weiteren Quellen reflektierte Nisly-Goretzki, dass diese Argumente sowohl als Spiegel des bäuerlichen Praxiswissens als auch dem von traditionellen Tierbildern angesehen werden können und Einblicke in den damit verbundenen Wissenstransfer und die Mensch-Nutztier-Beziehungen geben. Gleichzeitig sind die Argumente als Teil hierarchischer Kämpfe der Beteiligten um die Nutzung der bestehenden Flächen zu sehen.

Auch die Präsentation von MICHAEL SCHULZ (Potsdam) setzte sich daran anknüpfend mit Tierwohl – jedoch im Zeitraum des 19. und 20. Jahrhunderts – auseinander. Er stellte einen Teil seines Habilitationsprojekts, das sich mit den Lebensbedingungen der Nutztiere in Deutschland von 1850 bis 1950 befasst, vor. An der Darstellung des sogenannten „Ringelns“ von Schweinen in der tierzüchterischen Fachpresse und Lehrbüchern zeigte er Argumentationsmuster und die Einstellung der Züchter zum Thema Schweinehaltung sowie Tierwohl, die weniger vom eigentlichen Tierwohl als von der ökonomischen Nutzenmaximierung geprägt waren.

Dem Thema der ländlichen Rezeption in urbanen Kontexten widmete sich MARIE HELLEN SCHNEIDER (Berlin), die Landdiskurse der frühen Umweltbewegung aus der städtischen Perspektive analysierte. Die städtische Faszination für Protest auf dem Land und die romantische Verklärung des Landlebens fasst sie als urban gaze und macht damit ein neues Konzept der Perspektivierung der agrarhistorischen Forschung nutzbar. An einem Fallbeispiel zeigte sie, wie ländliche Umweltgruppen diese Blicke und Diskurse rezipierten und sie sich etwa in der Verwendung als stereotyp ländlich wahrgenommener Symbole für ihre Zwecke aktiv zunutze machten.

SARA MÜLLER (Zürich) gab in ihrer Präsentation Einblicke in ihr Projekt „Nutztiere im Anthropozän“. Müller präsentierte am Beispiel der Schweizer Rinderzucht die Verschiebungen der Praktiken rund um Reproduktion und Gesundheit in der modernen Rinderproduktion. Ihr Beitrag thematisierte diese anhand von frühen Versuchen mit künstlicher Besamung in der Schweiz und stellt dabei den analytischen Mehrwert des „Anthropozän“ für die agrarhistorische Forschung zur Disposition.

Die Sommertagung machte – wie sich ebenso in der abschließenden Diskussion zeigt – deutlich, dass agrarhistorische Forschung sich nicht nur aus ihren „klassischen“ Disziplinen zusammensetzt, sondern sich mittlerweile in weit angrenzende Bereiche erstreckt. Sie ist anschlussfähig an die großen Forschungsentwicklungen und es besteht ein ausgeprägtes Interesse an interdisziplinären Arbeiten im Kontext der ländlichen Geschichte. Aufgrund des großen Interesses an der Tagung wurde die Idee entwickelt, das Format in einer Regelmäßigkeit beizubehalten – mit dem Ziel der deutschsprachigen agrarhistorischen Forschung mehr Raum zu geben. Die themenbezogenen Tagungen der Gesellschaft für Agrargeschichte bleiben aber weiterhin bestehen. So wird bereits die Jahrestagung 2025 zum „Bauernkrieg“ vorbereitet.

Konferenzübersicht:

Gunter Mahlerwein (Saarbrücken/Mainz) / Friederike Scholten-Buschhoff (Möhnesee): Einführung in die Tagung

Malte Schwerdtfeger (Münster) / Gisbert Strotdrees (Münster): Begrüßung durch den Landwirtschaftsverlag

Stephan Ebert (Darmstadt): Zur Kulinarik des ausgehenden Mittelalters im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis

Leon Zimmermann (Tübingen): Ländliche Lebensstandards in Südwestdeutschland ca. 1680–1805

Henning Bovenkerk (Tübingen): Soziale Agrosysteme und Konsum: Voraussetzungen des Wandels materieller Kultur in ländlichen Haushalten Nordwestdeutschlands, spätes 16. – frühes 19. Jahrhundert

Karsten Igel (Münster): Die Gertrudenberger Register als Quelle zur westfälischen Agrargeschichte

Vivien Specht (Kiel): Haus, Feld und Saatgut!? Aushandlungsprozesse bei der Siedlungsmigration der Heide und Moorflächen der jütischen Halbinsel im 18. Jahrhundert

Jan Ocker (Kiel): Die vergessenen „Rentengüter“. Zur „inneren Kolonisation“ im Königreich Preußen und speziell in den Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein zwischen 1890 und Erstem Weltkrieg

Johanna Keller (Halle): Erfahrungswissen in Sachsen-Anhalt von 1900 bis heute

Julius Virnyi (Münster): „Sitte“ oder „Unsitte“? Hofnamen in Westfalen zwischen Alltag und staatlicher Regulierung, 1901–1919

Zofia Durda (Goslar): Nebenerwerbsstellen, Stallgebäude und Mehrzweckschuppen. Die Typenbauten der Treuhandstelle für Flüchtlingssiedlung in Niedersachsen (1949–1959)

Daniel Sobanski (Bochum): Fuhrleute, Erzgräber, Pächter. Die Rolle der Landbevölkerung während der Frühindustrialisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Jadon Nisly-Goretzki (Kassel/Witzenhausen): „Auch die Kuh brauche frische Luft und Sonne“ – Tierwohl als bäuerliches Argument in Konflikten um die Privatisierung der Allmende

Michael Schulz (Potsdam): Tierschutz und Tierwohl in der Debatte über landwirtschaftliche Nutztiere im Deutschen Reich 1900–1939

Marie Hellen Schneider (Berlin): Ländliche Räume, städtische Blicke: Projektion und Praxis von Protest auf dem Land

Sara Müller (Zürich): Neue Akteure im Stall des Anthropozäns

Anmerkung:
1 Vgl. Gisbert Strotdrees, Jüdisches Landleben. Vergessene Welten in Westfalen, Münster 2024.