Das Gothaer „Nachparlament“ ist ein weitgehend unbeachtetes Ereignis der deutschen Demokratiegeschichte. Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 trafen sich vom 26. bis zum 28. Juni 1849 in der Residenzstadt Herzog Ernsts II. von Sachsen-Coburg und Gotha 150 liberale ehemalige Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung, um über die politische Zukunft Deutschlands zu beraten. Am 28. Juni verabschiedeten sie die „Gothaer Erklärung“, in der sie die Pläne des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., der nun seinerseits einen kleindeutschen Bundesstaat auf stärker konservativ-monarchischer Grundlage anstrebte, unterstützten. Auch wenn diese Pläne für eine „Deutsche Union“ am Ende scheiterten, stellte das Gothaer „Nachparlament“ doch einen wichtigen Schritt auf dem langen und steinigen Weg der Parlamentarisierung Deutschlands dar. Ziel der Tagung war es, das Ereignis näher zu untersuchen und nachhaltig auf das Thema aufmerksam zu machen.
Den Auftakt der Tagung bildete der öffentliche Abendvortrag von MICHAEL DREYER (Jena) am 27. Juni im Bürgersaal des Historischen Rathauses der Stadt Gotha. Dreyer gab einen grundlegenden Überblick über „Wege zur Demokratie. Zur Entwicklung des deutschen Parlaments im 19. Jahrhundert“. Dabei ging er zunächst kurz auf die vormodernen Ständeversammlungen ein, die äußerlich als Vorläufer der modernen Parlamente erscheinen, sich in ihrer Legitimation und Zusammensetzung aber grundlegend von diesen unterschieden. Auch das historisch seit dem Mittelalter gewachsene britische Parlament sei aufgrund der im 19. Jahrhundert bestehenden Einschränkungen des Wahlrechts noch nicht als ein demokratisches Parlament im heutigen Sinne zu verstehen.
Vorbild für die Verfassungsentwicklung in Europa seien zum einen die französische „Charte Constitutionnelle“ von 1814, zum anderen die belgische Verfassung von 1831, die eine parlamentarische Monarchie etablierte, geworden. Im 1815 gegründeten Deutschen Bund bestand die „Bundesversammlung“ als Vertretung der Einzelstaaten, die in gewisser Weise als Vorläufer des heutigen Bundesrates anzusehen sei. Verfassungen und Parlamente gab es zunächst nur in wenigen deutschen Staaten wie in den süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden, aber auch in einigen thüringischen Staaten. Grundlage dafür war der Artikel 13 der Deutschen Bundesakte von 1815, der bestimmte, dass in allen deutschen Staaten „landständische Verfassungen“ gegeben werden sollten. Infolge des Sturzes der Julimonarchie 1830 in Paris kam es auch in Deutschland und in anderen Teilen Europas zu Revolutionen und einer neuen Welle von Verfassungsgebungen.
Die Revolution von 1848/49 in Deutschland führte zur Frankfurter Nationalversammlung, die mit der Paulskirchenverfassung die modernste Verfassung Europas entwarf. Bei der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. stellte Dreyer die Frage, ob dabei auch eine Sorge vor den Reaktionen der europäischen Großmächte auf eine deutsche Nationalstaatsgründung eine Rolle spielte. Das Herzogtum Gotha, welches durch eine Personalunion mit Coburg verbunden war, erhielt 1849 ein sehr fortschrittliches Staatsgrundgesetz. Drei Jahre später wurde eine neue liberale Verfassung für die beiden Herzogtümer erlassen.
Die Wahlen waren zu dieser Zeit grundsätzlich öffentlich, eine geheime Wahl wurde erst am Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Nachdem in Preußen in der Verfassung von 1850 ein Dreiklassenwahlrecht vorgeschrieben wurde, gab es im Deutschen Kaiserreich ein allgemeines und gleiches Männerwahlrecht für den Reichstag. Der Weg in den modernen Parlamentarismus wurde jedoch erst in der Weimarer Republik 1919 durch das Prinzip der parlamentarischen Regierung vollendet. Hier erschien das Parlament nun in der Verfassung nicht mehr wie noch im Kaiserreich als drittes und letztes, sondern als erstes der obersten Reichsorgane. Der Reichstag war der Repräsentant des Trägers der Reichsgewalt, die nun beim Volk lag, und die Regierung war von ihm abhängig.
Das weitere Tagungsprogramm begann am 28. Juni im Festsaal des „Tivoli“ in Gotha im ersten Panel mit einem Vortrag von RÜDIGER HACHTMANN (Potsdam) über Kleinstaaten und ihr Verhältnis zu den benachbarten Großmächten. Dabei stellte der Referent heraus, dass die Kleinstaaten 1848 bis 1850 durchaus ein Vorreiter der Demokratie sein konnten und machte dies vor allem am Beispiel der Anhalter Staaten deutlich. Anhalt-Dessau sowie Anhalt-Bernburg erhielten in diesem Zeitraum sehr fortschrittliche Verfassungen. Die Demokraten hätten sogar eine Republik bevorzugt, begnügten sich aber mit der konstitutionellen Monarchie – auch aus Angst vor einem möglichen Eingreifen Preußens. Durch die kleinstaatliche Struktur mit direktdemokratischen Elementen wurde die demokratische Entwicklung begünstigt. Zudem spielte die Eisenbahn, welche die Verknüpfung und Kommunikation vereinfachte, nicht nur in den Anhalter Staaten eine zunehmend wichtige Rolle. Daneben gab Hachtmann einen Ausblick auf Europa und stellte am Beispiel der Römischen Republik 1849 dar, wie die europäischen Großmächte auch mit militärischer Gewalt auf kleinere liberale Staaten reagierten. Ein Gradmesser für die Demokratie könne dabei die Judenemanzipation sein. In Rom wurden die dortigen Juden 1849 zunächst emanzipiert, bis ihre politischen Rechte nach der Gegenrevolution wieder aufgehoben wurden.
Auf die thüringische Perspektive bei der Revolution von 1848/49 und die Rolle Gothas ging MARKO KREUTZMANN (Jena) ein. Während sich die Revolution 1848/49 schon auf nationaler Ebene in vielen verschiedenen Zentren wie Berlin, Frankfurt oder Wien abspielte, traf dies auch auf die Region Thüringen zu. Dort gab es aufgrund der kleinstaatlichen Strukturen ebenfalls viele revolutionäre Zentren, die auf einem engen Raum konzentriert waren. Im preußischen Erfurt gab es außerdem noch die Auseinandersetzung mit der Obrigkeit Preußens. Ansonsten wurde die Revolution in Thüringen durch die Mittellage, den frühen Eisenbahnanschluss und die gebildete Bürgerschicht begünstigt. Exemplarisch für letztere steht der liberale Publizist Friedrich Gottlieb Becker als wichtiger Akteur der Revolution in Gotha und Organisator des Gothaer „Nachparlaments“. Für Gotha war auch der seit 1844 regierende Herzog Ernst II. von Bedeutung. Dieser verfügte über wichtige dynastische Verbindungen nach England sowie Belgien und verfolgte zudem eigene nationale Ziele. Daher unterstützte er auch nach der Revolution die liberal-nationale Vereinsbewegung. Dennoch gab es 1848/49 auch angestaute Probleme, die in der Revolution in Gotha zu einem Staatsgrundgesetz führten, welches das monarchische Prinzip einschränkte. Die neue Verfassung setzte daher Maßstäbe in Thüringen und auch darüber hinaus.
Im zweiten Panel der Tagung beschrieb SVEN BALLENTHIN (Gotha) in seinem Vortrag die Vorbereitungen, den Verlauf und die Ergebnisse des Gothaer „Nachparlaments“. Der Ort Gotha bot sich vor allem durch seine zentrale Lage und den liberalen Hof an. An der Versammlung selbst durften nur geladene Gäste teilnehmen: Von den etwa 270 eingeladenen ehemaligen Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung kamen 150 Teilnehmer nach Gotha. Der Weimarer Großherzog war nicht unter den Eingeladenen und konnte somit trotz ausdrücklichen Wunsches nicht an den Gesprächen teilnehmen. Die Grundlage für die Diskussionen in der Versammlung bildete die Reichsverfassungsvorlage des Dreikönigsbündnisses. Dabei wurde besonders über die Wahlrechtsfrage diskutiert. Dem Frankfurter Modell des allgemeinen Männerwahlrechts stand die preußische Version des Dreiklassenwahlrechts aus dem Reichsverfassungsentwurf entgegen. Trotz der anfänglichen Unterstützung des allgemeinen Wahlrechts rückten die Gothaer Abgeordneten schließlich davon ab und einigten sich auf einen Kompromiss. In der Schlusserklärung wurde zudem die Rechtsgültigkeit der Reichsverfassung hervorgehoben, diese wäre jedoch nicht durchsetzbar.
Die Akteure des Gothaer „Nachparlaments“ wurden von JULIA BEEZ (Gotha) vorgestellt. Bei den Teilnehmern in Gotha handelte es sich nicht nur um Liberale, sondern es waren verschiedene Positionen aus der Frankfurter Nationalversammlung vertreten. Die äußerste Linke und die äußerste Rechte aus Frankfurt wurden allerdings nicht eingeladen. Die in Gotha anwesenden Abgeordneten waren am häufigsten Juristen oder Verwaltungsbeamte. Von den rund 270 eingeladenen Personen sagten mehr als 100 ihre Teilnahme ab. Unter denen, die in Gotha nicht erschienen, waren auch prominente Historiker wie Johann Gustav Droysen und Georg Gottfried Gervinus. Der Grund dafür war unter anderem eine zum Teil verbreitete pessimistische politische Stimmung nach den Erfahrungen der Frankfurter Nationalversammlung. Von den zehn eingeladenen Abgeordneten aus Thüringen kamen bis auf Bernhard von Lindenau alle nach Gotha. Diese waren stark an ihr herzogliches Haus gebunden und das Eigeninteresse des jeweiligen Kleinstaats hatte zumeist Priorität vor dem nationalen Interesse. Die thüringischen Abgeordneten kamen überwiegend aus der linken Fraktion der Frankfurter Nationalversammlung, zusätzlich waren drei aus der Casino-Fraktion.
Der Vortrag von WERNER GREILING (Jena) ging der Frage nach, welche Rolle die Öffentlichkeit für das Gothaer „Nachparlament“ spielte. Um 1848/49 gab es bereits politische Vereine, die zumeist liberal oder demokratisch ausgerichtet waren. Die Vereine leisteten auch öffentliche politische Arbeit, indem sie beispielsweise Petitionen erstellten. Daneben erhielt die Straße eine besondere Bedeutung als öffentlicher Ort der Revolution. Durch die öffentlichen Proteste auf der Straße konnte diese als Podium für die Revolution genutzt werden und wurde somit zu einem wichtigen massenwirksamen Medium. Dort konnten politische Aktivisten Flugblätter verteilen. Daneben spielte aber auch Gewalt auf der Straße eine Rolle. Politische Themen wurden ab 1848 zunehmend häufiger öffentlich debattiert. So sollten etwa kommunale Fragen in den Rathäusern öffentlichkeitswirksam verhandelt werden. In Frankfurt waren die Beratungen öffentlich bekannt und wurden auch in der Presse diskutiert. Die Presse erhielt durch politische Zugeständnisse eine gesteigerte Bedeutung und es kam zu vielen Neugründungen von Zeitungen. Zum Gothaer „Nachparlament“ wurde allerdings weniger in der Presse publiziert, da die Versammlung nicht öffentlich und explizit privat ausgerichtet war. Zudem ist wiederum ein leichter Bedeutungsverlust der Presse in dieser Zeit zu erkennen, nachdem es zuvor noch einen großen Aufschwung bei den Zeitungen gab. Einige Akteure des Parlaments bedienten sich gezielt der Presse. Ansonsten wurden nur die öffentlichen Einladungen und einige knappe Berichte in der Presse abgedruckt.
Am Beginn des dritten Panels beschäftigte sich HANS-WERNER HAHN (Jena) in seinem Beitrag mit der Wahlrechtsfrage, die nicht nur zuvor in Frankfurt, sondern auch in Gotha ein wichtiger Teil der Verhandlungen war. Die Forderungen nach einem Parlament gingen schon auf die Gründungszeit des Deutschen Bundes zurück. Nach der Julirevolution wurde diese Frage wieder aktuell, es gab allerdings noch keine einheitlichen Vorstellungen über das Wahlsystem. Für die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung waren die Wahlrechte der einzelnen Länder die Grundlage. Anschließend erhoffte man sich eine einheitliche Regelung durch eine Reichsverfassung. Bei den Verhandlungen in Frankfurt einigten sich die Abgeordneten trotz Kontroversen auf ein allgemeines Wahlrecht. Im Gothaer „Nachparlament“ wurden das allgemeine und das Dreiklassenwahlrecht diskutiert. Für die meisten Liberalen war ein Wahlrecht nach verschiedenen Klassen zumindest nicht abwegig, da die Wähler dort nach ihrer eigenen Leistung und nicht nach ständischen Kriterien eingeteilt wurden. Die abschließende gemeinsame Erklärung enthielt aber kein Bekenntnis zu einem der beiden Wahlsysteme und nur die Aussage, dass das Frankfurter Wahlrecht schwer durchsetzbar wäre. Dadurch stimmten insgesamt nur sechs Abgeordnete gegen das gesamte Programm. Die Mehrheit der Gothaer Liberalen stand dem allgemeinen Wahlrecht jedoch eher ablehnend gegenüber. Für sie war eine neue deutsche Verfassung wichtiger, bei der es keinen Rückfall in das alte System des Deutschen Bundes geben sollte.
Abschließend stellte TOBIAS HIRSCHMÜLLER (Eichstätt-Ingolstadt) in seinem Vortrag die Frage nach der Rezeptionsgeschichte des Gothaer „Nachparlaments“. Zunächst wurde die Gothaer Versammlung in der Geschichtsschreibung nur wenig beachtet, beispielsweise erwähnte Heinrich von Sybel die Zusammenkunft nur in einem Nebensatz. Umfangreicher beschrieb Georg Witzmann später die Versammlung und benutzte auch den Begriff des „Nachparlaments“. Der Hintergrund für diese genauere Betrachtung war die Reichseinigung, in deren Kontext Witzmann die Gothaer Versammlung sah. Da die Gothaer Abgeordneten mit Preußen verhandeln wollten, bewertete Witzmann das „Nachparlament“ als einen Schritt in Richtung der Einigung und zog zugleich eine Linie von der Gothaer Partei bis zur Nationalliberalen Partei im Kaiserreich. Ansonsten wurde das Gothaer „Nachparlament“ bis 1918 aber nur wenig in der Literatur behandelt und auch in der Weimarer Republik nur selten erwähnt. Selbst in der Gothaer Stadtgeschichte ist es in dieser Zeit nur als ein weniger bedeutendes Ereignis genannt. In der alten Bundesrepublik stand das Gothaer „Nachparlament“ ebenfalls weniger im Vordergrund und wurde nur als Nachspiel der Revolution von 1848/49 gesehen. Die Historiker aus der DDR bewerteten es dagegen ausdrücklich negativ, da sie in der Revolution 1848/49 einen Sieg der „Konterrevolution“ erkannten. Daher beschrieben sie die Versammlung in Gotha als „antinational“ sowie „konterrevolutionär“ und kritisierten die Liberalen im Gothaer „Nachparlament“. Hirschmüller resümierte, dass in der gesamten Geschichtsschreibung das Gothaer „Nachparlament“ eher als Randnotiz eine Rolle spielte. In den Debatten war es vor allem ein politisches Argument, welches unter anderem von Theodor Heuss genutzt wurde.
In der abschließenden Diskussion ging es besonders um den Begriff des „Parlaments“ als Zuschreibung, aber auch als Eigenbezeichnung. Dabei wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht andere Begriffe wie „Parteitag“ oder „Klausurtagung“ zutreffender wären. Als Beschreibung ist auch „Versammlung“ geeignet, welche schon in den Quellen als Selbstzuschreibung auftaucht. Ein gewähltes Parlament war die Versammlung in Gotha jedenfalls nicht, sodass der bereits zeitgenössisch auftauchende und mitunter kritisch-satirisch verwendete Begriff des „Nach-“ oder auch des „Vor-Parlamentes“ (mit Blick auf das spätere Unionsparlament) semantisch in die Irre führen kann. Eine genaue Begriffsgeschichte erscheint hier als ein Forschungsdesiderat. Für einen Ausblick wurde ebenfalls die Frage diskutiert, welche historische Bedeutung man dem Gothaer „Nachparlament“ beimessen kann. Hier ist nicht nur relevant, welche Erwartungen und Hoffnungen die Teilnehmer hatten. Auch aus der heutigen Zeit ist das Gothaer „Nachparlament“ interessant, vor allem wenn es um die Bewertung und Einordnung der Gothaer Versammlung aus demokratiegeschichtlicher Sicht geht.
Konferenzübersicht:
Knut Kreuch (Gotha): Grußwort
Alexander Krünes (Gotha): Einführung
Öffentlicher Abendvortrag
Michael Dreyer (Jena): Wege zur Demokratie. Zur Entwicklung des deutschen Parlaments im 19. Jahrhundert
Panel 1
Steffen Raßloff (Erfurt): Moderation
Rüdiger Hachtmann (Potsdam): Demokratie unter Druck? Kleinstaaten und ihr Verhältnis zu den benachbarten Großmächten
Marko Kreutzmann (Jena): Gotha und die Revolution von 1848/49 in Thüringen
Panel 2
Alexander Krünes (Gotha): Moderation
Sven Ballenthin (Gotha): Das Gothaer Nachparlament: Vorbereitung – Verlauf – Ergebnisse
Julia Beez (Gotha): Die Akteure des Gothaer Nachparlaments
Werner Greiling (Jena): Das Gothaer Nachparlament in Presse und Öffentlichkeit
Panel 3
Christian Faludi (Weimar): Moderation
Hans-Werner Hahn (Jena): Deutsches Parlament und Wahlrechtsfrage: Zum Stellenwert der Gothaer Versammlung in der deutschen Demokratiegeschichte
Tobias Hirschmüller (Eichstätt-Ingolstadt): Zur Rezeptionsgeschichte des Gothaer Nachparlaments