Ausgangspunkt des Workshops bildete die Beobachtung, dass „Aushandeln“ in der Forschung zur vormodernen Konfliktbeilegung und Entscheidungsfindung zwar äußerst präsent ist, es sich jedoch inzwischen oft um einen Containerbegriff für unförmige Prozesse handelt, der deutlich an Schärfe und damit an Erklärungspotential eingebüßt hat. Daher waren es erklärte Ziele der Veranstaltung, Aushandlungsprozesse auszudifferenzieren, das Verhältnis zu vormodernen Verfahren zu bestimmen und damit Erkenntnispotentiale des Begriffs freizulegen.
In der Einführung nannten ULRIKE LUDWIG (Münster) und VERA TESKE (Münster) zunächst drei relevante Kategorien zur Beschreibung von Aushandlungsprozessen: Handlungen, Interaktion, Kommunikation; Institutionen, Foren, Normen sowie Akteure, Gegenstände und Ziele. Potentielle Leistungen dieser Prozesse sahen die Organisatorinnen vor allem in der Ergänzung von bzw. Abgrenzung zu formellen Verfahren, nämlich in der Entschärfung bestehender Normenkonkurrenzen, in der Kanalisierung sozialer Handlungslogiken, der Integration bestehender Strukturmerkmale sowie der Eröffnung von Kommunikationskanälen.
Der Workshop gliederte sich in drei Sektionen, in denen die Rolle von Aushandlungsprozessen auf den Feldern politischer Entscheidungsfindung (I), herrschaftlicher Administration (II) sowie (außer )gerichtlicher Konfliktlösung thematisiert wurde.
Die erste Sektion eröffnete EVA ORTLIEB (München) mit einem Beitrag zum Aushandeln im Rahmen zweier Statuskonflikte auf dem Reichstag von 1640/41, die sich zwischen dem Erzbischof von Salzburg, dem Erzherzog von Österreich und dem Kurfürsten von Bayern um das Einreiten bzw. Einlaufen bei Eröffnung des Reichstags sowie Teilnahme bei der Übergabe der Beschlüsse entsponnen. Zur Beschreibung der Bemühungen um Beilegung der Konflikte bot Ortlieb ein abstrahierendes, in der Folge vielfach aufgegriffenes Phasenmodell an: Provokation – Dramatisierung – Suche nach Verbündeten/ Argumentation – Vermittlung – Entscheiden/ Nicht-Entscheiden.
Im zweiten Vortrag behandelte STEFAN SCHÖCH (Innsbruck) die frühmittelalterlichen Papstwahlen als frühe Verfahren sowie deren „Lücken“ und die hierauf reagierenden Kaiserpacta. Spätestens seit dem dritten Laterankonzil (1179) habe die Papstwahl bereits ihre Legitimität aus dem Verfahrensablauf bezogen, sodass man von Verfahrensautonomie sprechen könne. Davor gestaltete sich das Konzept der spätantiken Bischofswahl hingegen als unspezifisches und vielgestaltiges Zusammenspiel von technisch-instrumentellen und symbolisch-zeremoniellen Formen. In die bestehenden Verfahrenslücken stießen Verträge zwischen Papst und Kaiser, die seit 824 hinsichtlich der Papstwahl Sanktionierungsmöglichkeiten durch den Kaiser vorsahen. Diskutiert wurde unter anderem die Frage, inwiefern die Volksbeteiligung als unkontrollierbarer Störfaktor dagegen spricht, in diesem Zusammenhang Verfahrensautonomie zu konstatieren.
Zu Beginn der zweiten Sektion stellte BIRGIT NÄTHER (Berlin) die Frage nach der Abgrenzung von Verhandlung und Aushandlung und den Spezifika der Begriffe im Kontext von Visitationen in Bayern zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. Als zeitgenössischer Begriff bezeichnete Verhandlung die Sequenz eines Gerichtsverfahrens, nicht aber einer Visitation. Als analytisch-abstrakter Begriff adressiere sie Kommunikation über divergierende Interessen mit dem Ziel einer Lösung. Das Aushandeln, hier in Anlehnung an moderne Begriffe des Privatrechts definiert, bezeichne demgegenüber einen zweiseitigen Interessensausgleich mit größeren Handlungsspielräumen auf beiden Seiten und mit der Einsicht, dass Zwang keine Lösungsoption ist. In diesem Sinn sei Aushandeln an Verfahren angeschlossen, Verfahrensrollen werden zumeist beibehalten.
Den Ausgangspunkt des Vortrags von BIRGIT EMICH (Frankfurt am Main) bildete die Suche nach den Begriffen negozio und negoziare in Akten der römischen Staatsverwaltung im frühen 17. Jahrhundert. Zunächst warf sie jedoch die für den Workshop insgesamt relevante Frage nach der Verwendung des Begriffs „Aushandeln“ in der Forschung auf: In Bezug bspw. auf Heiligkeit und Konfessionskulturen bezeichne er einen langlebigen, nicht ergebnisorientierten Kommunikationszusammenhang; Einer anderen, auf den konkreten Abschluss ausgerichteten Logik folgten Aushandlungen um Verträge oder Preise; Zentral sei der Begriff jedoch bei der Interpretation vormoderner Herrschaft, wo er Kommunikationsprozesse beschreibe, die zwar von Asymmetrie geprägt waren, in denen aber dennoch beide Seiten aufeinander angewiesen blieben. Mit Blick auf die römischen Akten und in Anlehnung an Reinhard1 und Holenstein2 präsentierte Emich Aushandeln als Formel zur Beschreibung von Herrschaft in der europäischen Frühen Neuzeit, als „Kommunikative Grundordnung langer Dauer“, eine asymmetrische aber nicht rechtsfreie Konstellation mit zentralen Kommunikationswegen.
VERA TESKE (Münster) richtete zu Beginn der dritten Sektion den Blick von der Makroebene politischer Kultur wieder auf die Mikroebene des Konfliktaustrags zwischen Einzelakteuren und -institutionen. Das Thema ihres Vortrags bildeten Zuständigkeitskonflikte zwischen Magistrat und Geistlichkeit in Münster in der Zeit zwischen 1540 und ca. 1620. Teske präsentierte ein Beschreibungsmodell, in dem ein Basiskonflikt in mehreren Einzelkonflikten sichtbar wird, die jeweils über Aushandlungsprozesse bearbeitet werden. Letztere verliefen in einem Phasenmodell, das dem eingangs von Eva Ortlieb vorgestellten ähnelte. Im Rahmen der Aushandlung seien unterschiedliche Foren und Verfahren genutzt sowie städtische und externe Institutionen involviert worden, wobei der Aushandlungsprozess als analytische Klammer den über die einzelnen Verfahren hinausreichenden Zusammenhang darstelle.
TOBIAS SCHENK (Göttingen) widmete sich Georg Christian Knorr (1691–1762) als Grauer Eminenz am Wiener Hof und der Verfahrensmacht, die es ihm ermöglichte, sich als Handwerkersohn gegenüber Hochadeligen und wichtigen Amtsträgern im Reichshofrat zu behaupten. Schenk konstatierte einen Mangel an prozeduralen Perspektiven auf die gerichtliche Praxis der Vormoderne, der u.a. zu einem vorsoziologischen Verständnis von Aushandlung als sympathischer, weil auf Konsens beruhender Alternative zu autoritativer Konfliktregelung führe. Die Untersuchung der Tätigkeit des Reichshofrats mittels der Luhmannschen Organisationssoziologie ermögliche es hingegen, Wechselwirkungen zwischen Verfahren und Aushandlungsprozessen als Summe informeller Kommunikation zu greifen. Der Blick auf die Praxis des Reichshofrats schütze vor der Vorannahme allzu großer Verfahrensautonomie. Beschlossen wurde der Vortrag durch einen Aufruf, die umfangreichen Resolutionsprotokolle mittels Verfahren der Digital Humanities aufzubereiten und auszuwerten und so theoretische Überlegungen mit archivalischer Empirie zu verknüpfen.
Im letzten Vortrag stellte FRANZ-JOSEF ARLINGHAUS (Bielefeld) einen Konflikt zwischen einem Mailänder Presbyter und dessen Erzbischof aus der Zeit um 1100 vor, der sich um Simoniebeschuldigungen entwickelte und dessen Bewältigung informelle Absprachen, ein Gottesurteil, ein formelles Verfahren der Synode in Rom sowie das Einschreiten wichtiger Mailänder beinhaltete. Eine Zuordnung der einzelnen Sequenzen zu „ordentlichen“ Verfahren oder „unordentlicher“ Aushandlung anhand vormoderner Maßstäbe sei, so Arlinghaus, nicht zielführend. Stattdessen konstatierte er, dass Aushandlung in der bestehenden Forschung nicht einen bestimmten, vermeintlich weniger strukturierten Verfahrenstyp adressiere, sondern auf die Machtverteilung der Akteurskonstellation abhebe. Der Begriff betone die Agency der vermeintlich Machtlosen und damit informelle Verfahren, sei jedoch nicht auf selbige beschränkt. Daher sei es unabhängig vom Verfahrenstyp immer dann sinnvoll von Aushandlungsprozessen zu sprechen, wenn die Bedingungen interessieren, unter denen den Subalternen Macht zufällt. Nicht die Sachdimension, sondern die Sozialdimension in Form von Status und Zugehörigkeit sei dabei primärer Gegenstand vormoderner Aushandlungsprozesse gewesen.
In Abschlusskommentar und -diskussion stellte ULRIKE LUDWIG heraus, dass die Differenzierung unterschiedlicher Ebenen eine wesentliche Herausforderung, aber auch Chance für das Nachdenken über Aushandlungsprozesse darstellt. Ausgangspunkt des Workshops sei zunächst die Mikroebene gewesen, womit einzelne, abgrenzbare und regelgeleitete Interaktionszusammenhänge angesprochen sind. Dabei unterscheide sich das Aushandeln von den Verfahren als spezialisierte Interaktionssysteme nach Luhmann vor allem dadurch, dass die Regeln verhandelbar und die Rollen flexibler blieben, die Dritte Instanz nicht Entscheider, sondern Mediator ohne Zwangsmittel sei, der Öffentlichkeit ein stärkeres Gewicht zukomme, häufig ein Stillstellen statt eines klar markierten Endes zu erkennen sei und Legitimation weniger durch die Interaktion selbst, also vielmehr durch Konsens, Machtkonstellationen oder eben Öffentlichkeit hergestellt werde. Wenngleich die Vielfalt der Formen und die Abgrenzbarkeit des Zusammenhangs problematisch bleiben, wie Ludwig konstatierte, sind damit doch wesentliche Beschreibungs- und Unterscheidungskriterien angesprochen, die den Begriff des Aushandelns bei der Analyse von Konflikten auf der Mikroebene produktiv machen. Auf der Makroebene sei vor allem das Aushandeln vormoderner Herrschaft als generalisierte Kommunikationsordnung langer Dauer, wie Emich sie skizzierte, scharf gestellt worden. Der Nutzen des Konzepts in diesem Zusammenhang liege vor allem in der vergleichenden Perspektive, da er Unterscheidungen in regionalen Varianzen und zeitlichem Wandel ermögliche. Die Mesoebene ließ sich, wie üblich, am schwierigsten greifen. Diesbezüglich hob Ludwig das Potential des Phasenmodells des Aushandelns von Teske und ähnlich von Ortlieb hervor, das durch die Verknüpfung von Aushandlungsprozessen und Basiskonflikt die Möglichkeit biete, Mikro- und Makroebene zu verschalten.
Die vorgeschlagene Skalierung der Aushandlungsprozesse berge jedoch die Gefahr der Begriffsverwirrung, da alle Ebenen – Konzeptionen europäischer Herrschaftsgestaltung ebenso wie innerstädtische Konfliktlösung – mit dem gleichen Begriff bezeichnet werden, der damit wieder an Prägnanz verliere. Einen Lösungsansatz könne die stärkere Einbeziehung zeitgenössischer Begrifflichkeiten bieten. Zu den im Workshop eher angesprochenen denn beantworteten Fragen gehöre auch die Binnendifferenzierung der Aushandlungsprozesse, bspw. nach Ergebnisorientierung, Formalisierungsgrad oder Machtkonstellation. Weiterhin offen bliebe zudem die Frage, ob das Verfahren als Bestandteil der Aushandlung anzusehen ist oder gerade nicht. Ludwig schloss mit der These, dass es gerade Kernaufgabe vormoderner Organisation gewesen sei, verfahrensfremde Logiken des Aushandelns in Verfahren zu integrieren – zur Beschreibung dessen brauche es wiederum klar abgrenzbare Begrifflichkeiten.
Angesichts der Komplexität und Vielfalt der anregenden, theorie- und konzeptgeleiteten Vorträge sowie der offenen Diskussionen ist es nicht verwunderlich, dass einige Fragen, wie etwa die nach der Abgrenzung von etablierten Konzepten wie bspw. der Infrajustiz im Bereich des Konfliktaustrags, unbeantwortet bleiben mussten. Die wichtigsten gesteckten Ziele konnten die Organisatorinnen erreichen: Aushandeln wurde deutlicher konturiert und als wichtige geschichtswissenschaftliche Beschreibungskategorie hervorgehoben.
Konferenzübersicht:
Ulrike Ludwig / Vera Teske (beide Münster): Begrüßung und Einführung
Sektion 1: Aushandlungsprozesse im Kontext politischer Entscheidungsfindung
Moderation: Sophia Mösch (Münster)
Eva Ortlieb (München): Aushandeln auf der langen Bank. Der Streit um die Direktion des Fürstenrats
Stefan Schöch (Innsbruck): Lücken im Verfahren? Die Bestimmungen der Kaiserpacta des 9. Jahrhunderts zur Papstwahl
Sektion 2: Aushandlungsprozesse im Kontext herrschaftlicher Administration
Moderation: Ulrike Ludwig
Birgit Näther (Berlin): Aushandeln, verhandeln, verfahren: Überlegungen zu Techniken administrativen Arbeitens in der Vormoderne
Birgit Emich (Frankfurt am Main): Negozi, negoziare: Aushandeln auf Italienisch
Sektion 3: Aushandlungsprozesse im Kontext (außer-)gerichtlicher Konfliktlösungsprozesse
Moderation: Benjamin Seebröker (Münster)
Vera Teske: Von der Aushandlung zum Verfahren? Konfliktlösung zwischen Gericht, Verwaltung und lokaler Praxis
Tobias Schenk (Wien): Aushandlungsprozesse in Kontaktsystemen. Beobachtungen an den Grenzen frühneuzeitlicher Rechtsorganisationen
Franz-Josef Arlinghaus (Bielefeld): Die Dynamik der Konsensorientierung. Aushandlungsprozesse in stratifizierten Gesellschaften
Ulrike Ludwig: Abschlusskommentar
Anmerkungen:
1 Wolfgang Reinhard, Zusammenfassung: Staatsbildung durch „Aushandeln“?, in: Ronald Asch / Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, S. 429–438.
2 André Holenstein, Kommunikatives Handeln im Umgang mit Policeyordnungen. Die Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert, in: ebd., S. 191–209.