Wir verdanken dem Zeitraum vom 5. bis zum 13. Jahrhundert eine große Zahl von Spruchsammlungen, in denen sich häufig – neben Gnomen und Aphorismen – witzige Anekdoten von Philosophen und berühmten Persönlichkeiten sowie damit verbundene Weisheitssprüche finden. Die Popularität von Spruchsammlungen seit dem 5./6. Jahrhundert ist im Zusammenhang mit der verstärkten Produktion von Kompendien und Handbüchern zu unterschiedlichsten Themen zu sehen, die zur schnellen Orientierung auf einem Wissensgebiet dienten. Das Sammeln und Neuordnen ist eine Vorgehensweise, die typisch für die Literatur der Spätantike ist und später auch Spruchsammlungen in der islamischen Literatur beeinflusst hat: Aus der riesigen Menge von Schriften, welche die antike Literatur hinterlassen hatte, wurden Texte exzerpiert, neu zusammengefasst und so zusammengestellt, dass ein neues Textkorpus entstand.
Ein Kennzeichen solcher Weisheitssprüche ist die Fluidität des Materials, das – geprägt von einer Allgemeingültigkeit in ethisch-moralischer Hinsicht – verschiedenen Personen zugeschrieben werden kann. Wie funktionierte diese offenbar leicht zu bewerkstelligende Neuzuschreibung von Weisheitssprüchen? Lassen sich Gesetzmäßigkeiten feststellen? Und welche Tools der Digital Humanities kann die Forschung nutzen, um der riesigen Textmenge solcher Spruchsammlungen Herr zu werden?
Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Workshops, der Spezialist:innen der Spruch- und Erzählforschung sowie der Digital Humanities zusammenbrachte. Organisiert wurde der Workshop mit Mitteln der Fritz Thyssen Stiftung im Rahmen des von der VolkswagenStiftung geförderten LAESSI-Projektes an der Universität Göttingen.1 Eine interdisziplinäre Forschergruppe um Jens Scheiner untersucht seit 2022 historische Entwicklungslinien, die sich in der Spätantike ausmachen lassen. Neben politischen, religiösen und kulturellen Aspekten nimmt die Forschergruppe auch literarische Produkte wie Kompilationen und (Spruch-) Sammlungen in den Blick.
ULRICH MARZOLPH (Würzburg) widmete sich in seiner den Workshop eröffnenden Keynote Lecture zu Panel 1 dem Terminus der „Kristallisationsgestalt“, der auffallenderweise nur in der deutschsprachigen Erzähl- und Märchenforschung Verwendung findet.2 Dieser bezeichnet Personen, die bestimmte Geschichten „wie Kristalle“ an sich heften. Kristallisationsgestalten sind individualisierte, mit Namen versehene Protagonisten, häufig Herrschergestalten, geistig herausragende Personen wie Philosophen. Sie können aber auch fiktive Personen sein, die verschiedene Typen verkörpern. Marzolph wies darauf hin, dass dieser Begriff auch für Kleingattungen wie Schwank, Anekdote oder Witz Anwendung finden kann. In der Diskussion wurde schließlich deutlich, dass man das Konzept der Kristallisationsgestalt gewinnbringend auf die Untersuchung von Weisheitssprüchen und prophetischem Hadith anwenden kann.
UTE PIETRUSCHKA (Halle (Saale)/Göttingen) zeigte in ihrem Beitrag zum „weisen Luqman“, der als Weiser par excellence in der islamischen Überlieferung geführt wird, dass man unter Anwendung des Konzepts der Kristallisation verschiedene Typisierungen des Luqman herausarbeiten kann: Luqman als ein den vorislamischen Propheten gleichgestellter Weiser, Luqman als lebenskluger Sklave, Luqman als Philosoph oder Arzt. Der Tenor der Weisheiten, die Luqman im Laufe der Zeit zugeschrieben werden und die neben trivialer Allerweltsweisheit auch so manches geistreiche Diktum umfassen können, gibt Aufschluss über den religiösen und kulturellen Hintergrund der Überlieferung.
MAXIM YOSEFI (Uppsala/Göttingen) stellte überzeugend dar, dass Luqman in der vorislamischen Poesie ein Symbol für die Illusion von Langlebigkeit, Dauerhaftigkeit, Macht und Reichtum darstellt, die sich allesamt als vergänglich erweisen und dazu verdammt sind, vor der unsichtbaren Kraft (= Zeit/dahr), der alles in der Welt unterworfen ist, unterzugehen. Diese Kraft ist wohl schon zur Zeit der Entstehung des Islam mit der Allmacht Allahs in Verbindung gebracht worden. Erst in der nachkoranischen Dichtung wird Luqman zu einer Allegorie der Weisheit, die als außergewöhnlich und unvergleichlich dargestellt wird – eine Interpretation, die sich an den wenigen Koranversen orientiert, welche Weisheitssprüche des Luqman anführen.
Ein weiteres Beispiel für eine Kristallisationsgestalt ist Alexander der Große, den JAN VAN GINKEL (Berlin) in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte. In der syrischen Literatur wird Alexander häufig als Vorbild für moralisch richtiges Verhalten und als weiser Herrscher dargestellt, der nicht nur Rat gibt, sondern auch annimmt. Der Begriff der Weisheit spielt eine wichtige Rolle in dem Spruchgut, das ihm zugeschrieben wird, steht aber nicht immer im Mittelpunkt. Deutlich wird das bei den Sprüchen der Philosophen an seinem Grab. Bei der Analyse dieser Sprüche ist der Ansatz, Alexander als Kristallisationsgestalt zu sehen, sehr hilfreich: Er wird über die Jahrhunderte und über Sprachgrenzen hinweg als paganer, christlicher oder muslimischer Herrscher gesehen, dem entsprechende Sprüche zugeschrieben werden, ohne dass die Grundaussage dieses Materials (weltliche Macht ist vergänglich) verändert wird. Inwieweit dieses Spruchmaterial davor anderen Persönlichkeiten zugeschrieben wurde, muss im Einzelfall untersucht werden, ist aber letztlich zweitrangig.
Wie Erzählstoffe aus christlichen Quellen mit koranischem Material verknüpft werden, demonstrierte DMITRIJ BUMAZHNOV (Göttingen) anhand eines Hadithes aus der al-Risāla fī l-taṣawwuf (Sendschreiben zum Sufitum) des al-Qushayri (gestorben 1074). Es handelt sich hierbei um drei Wiegenwunder, das heißt Erzählungen über drei aus der Wiege heraus sprechende Säuglinge. Während die erste Erzählung auf eine koranische Passage (Q 19:27–33) zurückgeht, stammen die beiden anderen Erzählungen aus den Apophthegmata Patrum, die so umgeformt wurden, dass ihr christlicher Ursprung nicht mehr erkennbar ist. Alle drei Geschichten dienen der Illustration einer Grundaussage: Gottesfürchtige Männer können Wunder bewirken. Hier wird deutlich, dass mit relativ einfachen Mitteln (zum Beispiel Zuschreibung an andere Personen oder Anonymisierung) Spruchmaterial kulturelle, religiöse und sprachliche Grenzen überwinden und einem neuen Kontext angepasst werden kann.
Das Spruchkorpus des Ahiqar – mit Zeugnissen aus dem gesamten antiken Mittelmeerraum, einschließlich der jüdischen, christlichen und islamischen Überlieferung bis in das Mittelalter hinein – nimmt in religionsgeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Perspektive einen herausragenden Platz ein. Ahiqar tritt in einer großen Vielfalt literarischer, kultureller und religiöser Kontexte auf, wobei die Präsentation seiner Weisheitslehren geschickt angepasst wird und neue Literaturformen für die Vermittlung von Weisheitslehren des Ahiqar eingeführt werden.
SETH BLEDSOE (Nijmegen) zeigte in seiner Keynote Lecture zu Panel 3, dass wir es beim Ahiqar-Material mit einer dynamischen Tradition zu tun haben, die das Bild des Weisen in verschiedenen Kontexten geprägt hat und Einfluss auf die Komposition von Weisheitsgeschichten in späterer Zeit hatte. Die Untersuchung von Fabeln in der Ahiqarerzählung ist ein geeigneter Ausgangspunkt für Beobachtungen zum Konzept der Weisheit und für Überlegungen, wie Ahiqar als einflussreiche Weisheitsfigur über einen langen historischen Zeitraum in unterschiedlichem religiösen Umfeld funktioniert haben könnte. Das gilt auch für Weisheitsfiguren, die nach dem Modell von Ahiqar gestaltet wurden und für welche die Fabel ebenfalls ein bedeutendes Identifizierungsmerkmal war (zum Beispiel Äsop, Kallimachos, Luqman). Eine solche Analyse scheinbar disparater Korpora von Weisheitssprüchen, die mit anderen literarischen Kurzformen verbunden werden, ermöglicht einen literaturvergleichenden Interpretationsansatz, welcher keine intertextuellen Abhängigkeiten voraussetzen muss.
Eine Zusammenschau von erzählerischen Elementen – insbesondere der Fabel – und Spruchmaterial in der Weisheitsgeschichte des Ahiqar nahm auch IOANNIS M. KONSTANTAKOS (Athen) vor. Er wies darauf hin, dass im Laufe der Überlieferungsgeschichte – beginnend mit dem originalen aramäischen Text – das Arrangement der Weisheitssprüche und der darum rankenden Weisheitserzählung mehrfach verändert wurde, so dass Erzählung und Sprüche eine unterschiedliche Gewichtung bekamen. In den späteren Redaktionen des Werks wurde der erzählerische Teil stark ausgeweitet und aus einer kurzen Rahmenhandlung für eine Spruchsammlung ein spannendes, romanhaftes Werk entwickelt. In dieser neuen Form stand die Erzählung im Vordergrund und die Sprüche wurden der Handlung untergeordnet. Die Fabel als Form der Weisheitsliteratur erlangte ab dem hellenistischen Zeitalter eine besondere Bedeutung. Es entstanden spezialisierte Fabelsammlungen, die bald zur Norm wurden; die Fabel wurde so von den anderen nicht-narrativen Formen der Weisheitsliteratur getrennt. Die alte mesopotamische Tradition der allumfassenden Weisheitssammlungen, die mit dem ursprünglichen Ahiqar ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde spätestens in hellenistischer Zeit von Formen des Storytellings abgelöst, welche Weisheit in anderer, unterhaltsamer Form präsentierte.
Die griechische Adaption des Ahiqar im Leben des Äsop (erstes oder zweites Jahrhundert nach Christus) setzt ein Textmodell mit zwei getrennten, in die Erzählung integrierten Spruchfolgen voraus. Eine Spur dieses Modells findet sich im Buch Tobit, einer Spätschrift des Alten Testaments aus dem dritten oder zweiten Jahrhundert vor Christus, von der sowohl hebräische als auch aramäische Fragmente in den Schriftrollen vom Toten Meer gefunden wurden, die aber nur auf Griechisch (in zwei Fassungen) vollständig überliefert ist. Der Vortrag von REINHARD KRATZ (Göttingen) stellte die relevanten Passagen des Buches Tobit vor und zeigte, wie die ursprünglich nichtjüdische Erzählung vom weisen Ahiqar und seinen Sprüchen in die jüdische Tradition aufgenommen wurde und sich verändert hat.
SIMON BIROL (Göttingen) ging in seiner Präsentation auf das vorherrschende Verständnis des Ahiqar als Weisheitsfigur in der syrischen Tradition ein. Er demonstrierte anhand von zwei Beispielen, wie Weisheiten des Ahiqar in andere Texte eingebunden und neu interpretiert werden. In der Diskussion wurde deutlich, dass man bei einer solchen Untersuchung einer vereinzelten Parallele zu einem Spruch, die im Wortlaut vage übereinstimmt, nicht unbedingt auf eine textliche Abhängigkeit schließen kann. Hierfür können ganz andere Ursachen verantwortlich sein – zum Beispiel, dass ein Spruch weite Verbreitung als Allgemeinplatz hatte. Ein Grundsatz für die Spruchforschung ist, dass erst das Aufspüren ganzer Textcluster mit einer bestimmten Spruchabfolge auch den sicheren Nachweis der Intertextualität erbringen kann.
Gerade bei Spruchsammlungen haben wir es also häufig mit der Wiederverwendung von Texten (Text re-use) zu tun, deren Untersuchung durch Methoden der Digital Humanities ganz neue Impulse erhält und die im Mittelpunkt von Panel 2 dieses Workshops standen. Die Digital Humanities stellen Werkzeuge bereit, die große Datenmengen vergleichen können und mit denen die Entwicklung von Textsammlungen auch über kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg untersucht wird.
MAXIM ROMANOV (Hamburg) konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die biographische Sammlung Taʾrīkh al-islām des al-Dhahabī (gestorben 1347) und auf die Identifizierung seiner Quellen. Romanov verwies auf die Software passim3, die für die Verwendung von OpenITI, dem größten Korpus klassischer arabischer Texte, angepasst wurde. Passim erwies sich besonders für die Untersuchung von Zitierpraktiken geeignet und erlaubt die gezielte Untersuchung spezifischer Textsorten. Man kann sich also mit den Textdaten auf verschiedenen Ebenen auseinandersetzen, wobei die Fragestellungen von Text re-use-Praktiken einzelner Autoren bis hin zu gattungsübergreifenden Trends reichen können. Insbesondere durch diesen Vortrag wurden wichtige Anregungen für die weitere Spruchsammlung-Forschung gegeben.
Die Erkennung von Text re-use ist ein wichtiges Instrument zur Vertiefung unseres Verständnisses, wie innerhalb einer Schrifttradition, aber auch sprachübergreifend Spruch- und Weisheitskorpora miteinander verflochten sind. SAMUEL RUBENSON (Lund) präsentierte Monastica4, eine digitale interaktive Arbeitsplattform, die sich der Transmission der Apophthegmata Patrum in verschiedenen Sprachen (Griechisch, Latein, Syrisch, Koptisch, Arabisch, Äthiopisch, Armenisch, Georgisch und Altslawisch) widmet. Sie stellt Ressourcen (eine Dynamic Library sowie eine Datenbank) und Werkzeuge für detaillierte Analysen der verschiedenen Sammlungen und Versionen der Sprüche sowie verwandter Texte zur Verfügung. Mithilfe dieser Tools ist es möglich, die „Abstände“ zwischen den verschiedenen Textversionen (text similarity measurement) zu messen und damit die Entwicklung der Texte in den verschiedenen Kulturkreisen darzustellen – anhand phylogenetischer Modelle zur Berechnung von Ähnlichkeiten und Abständen, aber auch anhand verschiedener textlinguistischer Modelle wie der thematischen Modellierung oder des Text re-use.
Der Diskutant dieses Panels, MICHAEL MARX (Berlin), erläuterte darüber hinaus, welche digitalen Tools das Projekt Corpus Coranicum5 entwickelt hat und wie sich moderne Koranuntersuchungen durch solche Werkzeuge bereichern lassen.
Alle drei Panels waren durch eine intensive Diskussion im Anschluss an die jeweiligen Beiträge geprägt, die Anregungen für weitere Untersuchungen lieferten – insbesondere in Verbindung mit digitalen Forschungsmethoden, welche für die Untersuchung großer Spruchkorpora in Zukunft unerlässlich sein werden.
Konferenzübersicht:
Panel 1: The Sage as “Crystallizing Figure”
Ulrich Marzolph (Würzburg): “Kristallisationsgestalten” in Middle Eastern Narrative Tradition
Jan van Ginkel (Berlin): Alexander the Great as a “Kristallisationsgestalt”. The various forms and motives of Alexander to promote a morally correct life
Maxim Yosefi (Uppsala/Göttingen): From the Symbol of Doomed Power to the Personification of Wisdom: Luqmān in Classical Arabic Poetry
Ute Pietruschka (Halle (Saale)/Göttingen): The Many Faces of the Sage: Luqman and his Manifestations in Arabic Literature
Dmitrij Bumazhnov (Göttingen): Macariana Islamica II: Reflections on Christian Roots of the Triple Hadith about Infants Speaking in Their Cradles
Panel 2: Text Re-use in Large Text Corpora
Maxim Romanov (Hamburg): Text Reuse in the Arabic Written Tradition: A Case of Biographical Collections
Samuel Rubenson (Lund): Tracing the Transmission of Desert Wisdom
Panel 3: Ahiqar from the Ancient Near East to Late Antiquity
Seth Bledsoe (Nijmegen): The Concept of Wisdom in the Book of Ahiqar: Rethinking the Fabled Wisdom of an Influential Sage
Simon Birol (Göttingen): Ahiqar as the Epitome of Wisdom in the Syriac Tradition
Reinhard Kratz (Göttingen): Making Ahiqar an Israelite in the Book of Tobit
Ioannis M. Konstantakos (Athen): Ahiqar and the Genres of Wisdom: Fables and Sayings in Ancient Near Eastern Narrative and Wisdom Literature
Anmerkungen:
1 Vgl. zum Projekt „Late Antiquity and Early Islamic Studies“ (LAESSI): https://www.uni-goettingen.de/de/668647.html (02.09.2024).
2 Siehe hierzu die Definition in der Enzyklopädie des Märchens: Ines Köhler-Zülch, Kristallisationsgestalten, in: Rolf Wilhelm Brednich u.a. (Hrsg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 8 Klerus – Maggio, Berlin 1996, Sp. 460–466.
3 Vgl. zur Software „passim“: https://github.com/dasmiq/passim (02.09.2024).
4 Vgl. zur Arbeitsplattform „Monastica“: https://monastica.ht.lu.se/ (02.09.2024).
5 Vgl. zum Projekt „Corpus Coranicum“: https://corpuscoranicum.de/de (02.09.2024).