Jüdische Filmgeschichte(n) transnational: Europäische Perspektiven

(Post-)Doktorand:innen Kolloquium: Jüdische Filmgeschichte(n) transnational: Europäische Perspektiven

Organisatoren
Nachwuchsforschungsgruppe „Was ist jüdischer Film?“, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf
PLZ
14482
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
04.03.2024 -
Von
Tirza Seene, Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf

Das Forschungsfeld „Jüdischer Film“ öffnet als disziplinäre Schnittstelle einen Diskursraum, in dem Film und jüdische Erfahrung miteinander in Beziehung treten. Die Perspektive auf transnationale Verflechtungen nähert sich der Gegenstandsbestimmung „Jüdischer Film“, indem sie Austausch zwischen europäischen Filmkulturen und ihren Akteur:innen berücksichtigt und dabei die jüdischen Perspektiven in den Fokus rückt. Wie werden historische Ereignisse und Filmentwicklungen in den verschiedenen europäischen Kontexten interpretiert, wie unterscheiden sich jüdische Filmgeschichte(n) in den europäischen Ländern und wo können Verbindungslinien gezogen werden? Diesen Fragen widmete sich das dritte (Post-)Doktorand:innen Kolloquium am 4. März 2024, veranstaltet von der Nachwuchsforschungsgruppe „Was ist jüdischer Film?“ an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf und gefördert vom Postdoc-Netzwerk Brandenburg. Das diesjährige online Fachtreffen mit dem Titel „Jüdische Filmgeschichte(n) transnational: Europäische Perspektiven“ hatte nicht nur zum Ziel neue Forschungsperspektiven zu diskutieren, sondern auch die Möglichkeiten sowie Grenzen inter- und transnationaler jüdischer Filmforschung zu erörtern. In vier Panels präsentieren insgesamt neun Referent:innen ihre aktuellen Forschungsarbeiten mit anschließenden Responses und Diskussionen.

Das erste Panel widmete sich akteur:innenzentrierter Forschung und transeuropäischer Biografien. Die metaphorische Analyse von MIRJAM FRANKE (Marburg) verdeutlichte die Intersektionen von „Jewishness“, Gender und Antisemitismus im Weimarer Film. Dabei stand die Frage im Vordergrund, warum und wie jüdische Filmschaffende in der Weimarer Republik Stereotype übernahmen. Anhand der Beispielfilme „Anders als die Anderen“ (R: Richard Oswald, 1919) und „Fräulein Else“ (R: Paul Czinner, 1929) verdeutlichte sie, wie die Identität jüdischer Filmschaffenden über Metaphern wie der Praxis des Verkleidens, Motiven wie „den Außenseitern“ sowie symbolischen Affektstategien wie der Angst als leitendes Gefühl subtil in ihren Werken eingewebt und dadurch sichtbar wurden. Gleichzeitig problematisierten die Filme die Tabuisierung von Queerness und die Sexualisierung von Jüdinnen im Stereotyp „der schönen Jüdin“. Anschließend wurde diskutiert, inwiefern Unterschiede zwischen dem Film „Fräulein Else“ und Schnitzlers Literaturvorlage gedeutet werden können und wie jüdische Stereotypisierung im Film über visuelle Marker, wie dem Pelz als „an Antisemitismus anschlussfähiges Dingsymbol” (Luisa Banki, Wuppertal) verstärkt wird. Die Respondentin TIRZA SEENE (Babelsberg) fragte nach den untersuchten Quellen und Materialien zur inner-jüdischen Rezeption, die die Stereotype meist nicht kritisieren, sondern eher positiv übernahmen.

Im zweiten Vortrag widmete sich ANDREAS JACKE (Berlin) der französischen Filmemacherin Chantal Akerman und untersuchte in seinem Beitrag die Beziehungen zwischen Akermans Filmsprache und der ästhetischen Überlegungen von Levinas. Demnach zeige sich Levinas’ Bildverständnis der „Ästhetik des Anderen” in einer De-Identifizierung in Akermans Filmen. Die Figuren blieben fremd und Annäherung durch Identifizierung würde aktiv verhindert werden. Statt Objekt mit Identität gleichzumachen, würden das Erkennen und Sein getrennt: Das Bild hält den Anderen auf Distanz. Der Verzicht auf Psychologisierung in Akermans Filmen zugunsten reiner bewegter Bilddarstellungen sprechen für eine Veränderung der filmische Form, die den Anderen auf Distanz hält und den “göttlichen Menschen”, der sich im Star-Kult des mainstream Films manifestiere und auf christlichen Leitbildern basiere, ablehnt. JOHANNES BENNKE (Jerusalem) ordnete in seiner Response ein, dass die nicht ausformulierte Ästhetik Levinas’ hauptsächlich auf Theoremen der Sprachlichkeit fuße und statt dem klassischen Bilderverbot eher das “Ideolatrieverbot bei Bildern”, also die Nicht-Rationalisierung des Objekts, beschreibt. Die Spur des Anderen in der Kunst und in den Medien sei etwas, das widerrufe, störe und zum Nachdenken anregt: „Es geht dann um Negationsformen, die irritieren, etwas unterbrechen und Widerständiges in Erinnerung rufen“, wie Johannes Bennke weiter formulierte. Diskutiert wurden anschließend die spezifischen Interrelationen von Levinas Ästhetik und Akermans Filmverständnis. Die statischen Kameraeinstellungen und die Betonung der temporalen Achse bei Akerman (zum Beispiel durch Zeitdehnungen) ließen sich als „Grammatik des Films” in der Montage beschreiben, in der der Rhythmus zum Marker wird, an dem Levinassche Ästhetik für den Film übersetzt werden könnte.

Den Abschluss des Panels bildete der Vortrag von LOUISE VON PLESSEN (Berlin). Anhand der Filme „Menschen im Busch“ (1930) und „Insel der Dämonen“ (1932) des jüdischen Filmemachers Friedrich Dalsheim (1895–1936) beschrieb sie die Pionierarbeit des späteren Emigranten für den ethnografischen Film. Um „ethnographische Authentizität” zu gewährleisten, entwickelte Dahlsheim seine Filme in Unterstützung mit Indigenen und ließ seine Subjekte direkt in die Kamera sprechen. Sein progressiver poetischer Film „Menschen im Busch“ ist nicht zuletzt von Zeitgenossen wie Siegfried Kracauer in der Filmpresse gelobt worden. In ihrer Response thematisierte LUCY ALEJANDRA PIZAÑA PÉREZ (Babelsberg) die Schwierigkeiten biographischer Forschung, die neben dem Zugang zu Quellen auch die Zerstreutheit der Materialien in unterschiedlichen Archiven beinhaltet. Die Diskussionen kreisten zudem um die Frage des „Othering”. Obwohl Dahlsheims Filme in ihrer hybriden Form, mit teils ethnographisch-dokumentarischen, teils narrativen Elementen und ihrem innovativen transkulturellen Ansatz als „Meilenstein des ethnographischen Kinos” bezeichnet werden können, dürfe nicht vernachlässigt werden, dass sich die Filmemacher:innen in Indonesien in abgesicherten kolonialen Verhältnissen bewegten.

Im zweiten Panel „Memory & (Dis-)Placement” stellte EMILY ROSE-BAKER (Southampton) ihre Fallstudie zu Daria Martins „Tonight the World” (Juni 2019–Februar 2020) vor. In ihrer Analyse untersucht sie Ästhetiken des Holocaustfilms und die spezifischen Modi des Erinnerns und des Zeugnisses im Werk der Filmemacherin, deren Großutter, Susi Stiassny, Holocaust Überlebende war. Ihrer These zufolge kehren die inszenierten Träume des poetischen Kurzfilms, der auf Traumtagebüchern der Mutter basiert, als „political and artistic witnesses“ wieder. In ihrer Inszenierung verwebe Martin nicht nur das Horror Genre mit dem Holocaustfilm, sondern schaffe auch eine „testimonial relationship with Susi through the medium film”. Indem sich die Figur der Susi im Film aktiv den nationalsozialistischen Verfolgern entgegenstellt, erobere sie in diesem feministischen Moment „agency“ über ihre Erinnerung zurück. LUISA BANKI (Wuppertal) betonte in ihrer Response, dass künstlerische Ausdrucksformen der 3. Generation spezifische Formen der Mediation annehmen und eine „transcription of a trauma“ (Banki) stattfindet, in der die Enkelin durch das Medium Zugang zu den Erfahrungen der Großmutter bekommt. Im Anschluss wurde das doppelte „Embodiment“ des Fallbeispiels diskutiert, das erstens in der körperlichen Erfahrung durch das Horror Genre und zweitens in der Immersivität der Installation im Museum erfahrbar wird. Baker betonte in diesem Zusammenhang die Mediationen zwischen Filmrealität und Realität und plädiert für die Reevaluation des Traumes als spezifische Form und besonderen Ausdruck des Denkens.

ANNA HOFMANN (Hamburg) stellte in ihrem Vortag den poetischen Kurzfilm „Ce Lieu“ (2021) der israelischen Künstlerin Danielle Schnitzer, die aus Israel nach Frankreich emigrierte, vor. Anhand des Beispiels ging sie der Frage nach, welche Rolle die Visualisierungen von „space“ in jüdischen Selbstportraits der dritten Generation im poetischen Film spielen. Der Kurzfilm, der den Umzug von der Wüste in die Stadt und die Bewegung zwischen „Lokalitäten“ thematisiert, sei Ausdruck eines Gefühls der „between localities“, „translocalities“ und „placelessnes“. Die Abwesenheit direkter filmischer oder textueller Bezüge zur Shoah erschwere die Interpretation des Films anhand des biographischen Hintergrundes von Schnitzer, ohne dabei essentialistische Vorannahmen zu bedienen. In der Diskussion hob die Respondentin LUISA BANKI (Wuppertal) hervor, dass Filme der dritten Generation zeitliche Verwischungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vornehmen und der biografische Ansatz hier als Kontext gebendes Objektiv fungieren kann. Hofman formulierte die These, dass diese poetischen Filme eine Beziehung zwischen dem Zeitlichen und dem Örtlichen repräsentieren und hier „space“ als Mittel fungiert, um Zeitlichkeit zu erschießen.

Das dritte Panel beschäftigte sich mit Fragen rund um die Definition eines jüdischen Filmerbes und die dazugehörigen Praktiken und Akteure des Sammelns und Bewahrens. Im ersten Vortrag erörterte ULRIKE SCHNEIDER (Potsdam), wie „Jüdisches Filmerbe“ in DEFA Filmen konkretisiert werden könne. Dabei schlug sie vor, die bislang unterrepräsentierten Darstellungen jüdischen Kulturerbes und jüdischer Geschichte in DEFA Dokumentar- und Fernsehfilmen zu fokussieren. Diese Gegenstände seien besonders schwierig zu untersuchen, da sich vor 1990 kaum Darstellungen jüdischen Lebens finden und diese in den jeweiligen Archiven und Institutionen nicht unter dem Begriff des „jüdischen Filmerbes“ subsumiert wurden. „Jüdisches Filmerbe“ beschreibt Schneider als prozesshaftes „doing heritage“, das aus der Gegenwart verstanden und von Institutionen und Akteur:innen als kontinuierlicher, experimenteller Dialog mit der Vergangenheit konstruiert wird. Neben den Beständen der DEFA und des DDR-Fernsehens, die vorrangig von der DEFA-Stiftung verwaltet und gesammelt werden, sind auch Aktualisierung des Filmmaterials, wie Retrospektiven und Filmreihen nach 1990 relevant. In der Diskussionsrunde wurde problematisiert, inwiefern Institutionen zu Prozessen der Kanonisierung beitragen. In ihrer Response ging LISA SCHOß (Berlin) darauf ein, dass der Umgang mit vielfach problematischen DEFA Filmen über Israel Forscher:innen vor besondere Herausforderungen stelle, da sie oft starke Zerrbilder beinhalten.

Darauffolgend stellte LAURA BRÜGGEMANN (Potsdam) ihr Dissertationsprojekt vor. Die Kategorie Gebrauchsfilme beschreibt professionell und für einen bestimmten Zweck erstellte Filme, wie beispielsweise Industrie-, Image- und Museumsfilme. Diese wurden, da sie nicht als Teil der visuellen Kultur angesehen waren, in der Filmgeschichte kaum berücksichtigt und daher auch nicht unter diesem Begriff gesammelt. Anhand dreier Beispiele von Displaced Persons Fundraising Filmen des United Jewish Appeal („ The Future Can Be Theirs“ [1948], „The Will to Live“ [1947], „Not One Shall Die“ [1957]) beschrieb Brüggemann die Gattungsverwischungen innerhalb der Gebrauchsfilme, die sich zwischen Werbung, Dokumentar- und Propagandafilm bewegten, aber auch fiktionale Formate beinhalten könnten. Im Plenum wurde besonders über die unterschiedlichen Provenienzen der Filme und ihrer Bildmaterialien gesprochen. Ihre Herkunft sei schwer zu ermitteln, da sie oft aus Newsreels oder Amateurfilmen entnommen wurden und keine Quellenangaben beinhalteten. Gesammelt würde meist nur dasjenige, dem künstlerischer Wert zugesprochen wurde, wie etwa Auftragsarbeiten für Museen.

Den Abschluss bildete das Panel “Antisemitism & Film: European Perspectives”. Zunächst beschrieb TIRZA SEENE (Babelsberg) in ihrem Vortrag einen thematischen Zusammenhang aus ihrer Dissertation Antisemitismus und Film. Um den Komplex Antisemitismus und Film zu strukturieren schlug sie zunächst vor, ein Analysemodell auszuarbeiten, welches die vier Ebenen filmischer Text, Produktionskontexte, Paratexte/Diskussionen über Film und Kino als Ort ausdifferenziere. So kämen nicht nur jüdische Figuren und antisemitische Narrative, sondern auch der Ausschluss jüdischer Filmemacher:innen oder nationalsozialistische Kinoproteste in den Blick. Anhand des Quellentextes „Der Emporkömmling“ von Willy Rath, Vertreter der Kinoreformbewegung, erläuterte sie, wie frühe Debatten um das entstehenden Kino die Industrie selbst und weniger Repräsentationen im Film betrafen. In den Debatten verdichteten sich Symbole des „Großkapitals“ und der „Otherness“ im Feindbild Kino. „Das Jüdische“ verbinde sich mit „dem fremden Französischen“ und bliebe dabei implizit, da es Nationen als das „Dritte“ (Klaus Holz) angeheftet würde. Schließlich wurde in der Diskussionsrunde darüber debattiert, auf welche Geschichte antifranzösische und antisemitische Ressentiments in Deutschland zurückblicken können und wie sich antisemitische Repräsentationen weitergetragen und verändert haben.

In der Abschlussdiskussion gab VERENA HANNAH DOPPLINGER (Wien) einen Ausblick auf einen differenzierten Umgang mit Stereotypisierungen im Film. Filme könnten Stereotype umdrehen, um ihre Figuren zu ermächtigen, anstatt sie in antisemitische Klischees umkippen zu lassen. Dabei wurde in der Runde anhand der Frage „Is there such a thing as ‚the Jewish Other‘ in European film?“ diskutiert, dass nicht nur die Charakterentwicklung jüdischer Figuren zu berücksichtigen sei, sondern auch die Tradition bestimmter Bilder.

Die Perspektive des diesjährigen Kolloquiums verdeutlichte die vielfältigen Interrelationen verschiedener Forschungsperspektiven und -gegenstände jüdischer Filmgeschichte, die durch den breiten transnationalen Ansatz neu aufeinander bezogen werden können. So ergeben sich neue thematische Foci und interdisziplinäre Schnittstellen, wie die Analyse von “Ortlosigkeit” der dritten Generation und deren Untersuchung aus philosophischer und ästhetischer Perspektive. Eine Fortsetzung des Forschungskolloquiums im Jahr 2025 ist geplant.

Konferenzübersicht:

Panel 1: (Transeuropäische) Biografien und akteur:innenzentrierte Forschung [Deutsch]

Mirjam Franke (Marburg): Sichtbarkeit jüdischer Identität im Kino der Weimarer Republik

Response: Tirza Seene (Babelsberg)

Andreas Jacke (Berlin): Feministischer Film, Trauma und Judentum: Levinas und Chantal Akermann

Response: Johannes Bennke (Jerusalem)

Louise von Plessen (Berlin): Friedrich Dalsheim – ein Leben zwischen den Welten, zwischen Ethnographie, Film und Emigration. Vortrag mit Filmausschnitten

Response: Lucy Alejandra Pizaña Pérez (Babelsberg)

Panel 2: Memory & (Dis-)Placement [Englisch]

Emily-Rose Baker (Southampton): Horror, Gender and Intergenerational. Holocaust Memory in Daria Martin's Tonight the World

Anna Hofman (Hamburg): Place-Making in Context: Discussing Poetry Film. Joint viewing and discussion round

Response: Luisa Banki (Wuppertal)

Panel 3: Jüdisches Filmerbe sammeln und bewahren [Deutsch]

Ulrike Schneider (Potsdam): Perspektiven auf ein Jüdisches Filmerbe bei der DEFA

Laura Brüggemann (Potsdam): Jüdische Gebrauchsfilme - Fallbeispiele und (Un-)Zugänglichkeiten

Response: Lisa Schoß (Berlin)

Panel 4: Antisemitism & Film: European Perspectives [Englisch]

Tirza Seene (Babelsberg): “Gallican fools” and “Jewish Schund”. Interrelations of anti-French and anti-Jewish ressentiments in debates on early
cinema in Germany

Verena Hanna Dopplinger (Wien): Discussion round: Is there such a thing as “the Jewish Other” in European film?

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