15. Forum junger Bildungshistoriker:innen

15. Forum junger Bildungshistoriker:innen

Organisatoren
Sektion Historische Bildungsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
09.09.2023 - 10.09.2023
Von
Anna Strunk, Erziehungswissenschaft, Universität Hamburg; Stefanie Vochatzer, Erziehungswissenschaft, Universität Paderborn

Das Forum junger Bildungshistoriker:innen fand erneut im Voraus zu Sektionstagung der Historischen Bildungsforschung statt und ermöglichte den ‚Emerging Researchers‘ einen Raum, um ihre laufenden Forschungsarbeiten vorzustellen. Im Verlauf des zweitägigen Forums boten fünfzehn Vorträge eine umfangreiche Grundlage für Austausch und Diskussion. Nach der Begrüßung durch die Sprecher:innen ANDREAS OBERDORF (Münster) und STEFANIE VOCHATZER (Paderborn) und dem einführenden Grußwort von MARCELO CARUSO (Berlin) als Vorsitzender der Sektion begann die Präsentation der Dissertations- und Forschungsprojekte der anwesenden Emerging Researchers.

Das erste Panel „Kritische Potentiale“ wurde von LUKAS BIEHLER (Wuppertal) eröffnet: In seinem Projekt setzt sich Biehler mit der Gründung der Kritischen Universität in 1967 in Berlin und den vorher- und einhergehenden Studienreformen auseinander. Am Beispiel des Knauer-Borinski-Gutachtens als Kulminationspunkts des Konfliktes stellte er vorläufige Ergebnisse seiner Forschung vor, die das Ziel hat, die Universitätsgeschichte der Freien Universität Berlins zu erweitern. Im Anschluss sprach RICADA BIEMÜLLER (Frankfurt am Main) über die Bedeutung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung für die sozialwissenschaftliche Wende in der Erziehungswissenschaft. Dabei erörterte sie die Besonderheiten und die Relevanz eines wissensgeschichtlichen Ansatzes im Gegensatz zu einem disziplingeschichtlichen Zugang zur Geschichte der Pädagogik im 20. Jahrhundert. Ihre Ausführungen zum wissensgeschichtlichen Zugang zur Bildungsgeschichte veranschaulichte sie dabei vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, was auf große Zustimmung stieß. Das zweite Panel versammelte Präsentationen unter dem Schirm „Institutionelle Perspektiven“. Den Auftakt machte MAX ZETERBERG (Kassel), der seine Forschung zu pädagogischen Diskursen im evangelischen Pfadfinden zwischen 1962 und 1972 präsentierte. Im Rahmen seines Vortrags skizzierte er die Grundlagen seiner Diskursanalyse, die sich mit der (Neu-)konzeptualisierung von Jugendarbeit in Jugendverbänden beschäftigt. Es folgte ein Vortrag von JULIA KAUFMANN (Frankfurt am Main), die sich im Rahmen einer exemplarischen Quellenkritik mit der Frage auseinandersetzte, wie „geistige Behinderung“ in den 1950er-Jahren beschrieben wurde. Anhand der Patientenakte eines Jungen, der bis zu seinem Tod 1956 mit zehn Jahren auf einer geschlossenen psychiatrischen Station lebte, beschäftigte sie sich insbesondere mit den Beschreibungen der ihm zugeschriebenen (geistigen) Behinderung.

Am Nachmittag folgten drei Vorträge zum Thema „Die DDR und der ‚Osten‘“. Den Auftakt machte JESSICA DALLJO (Halle-Wittenberg), die über Spendenwerbungen als kommunizierte Agency in Kinderzeitschriften der DDR referierte. In einem Versuch, dem Narrativ von sozialistischer Kindheit der Indoktrination und Manipulation entgegenzuwirken, konzentrierte sie sich auf die Funktion der Kinderzeitschriften als Ausdruck generationenübergreifender Erziehung und den Kindern zugeschriebener Handlungsfähigkeit. Es folgte ein Vortrag von ARON SCHULZE (Dresden) über die Erneuerung der TU Dresden im Kontext des „Hochschulumbaus Ost“ zwischen 1989 und 1993. Basierend auf einem Forschungsdesiderat in der Forschung zum Umbau von Hochschulen mit technischem Schwerpunkt untersuchte er, welche Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten diese Schulen in der Transformationszeit besaßen und setzte sich dabei auch mit der These der vermeintlich unpolitischeren technischen Hochschulen auseinander. Das Panel wurde von ADRIAN WEISS (Kassel) abgeschlossen, der sich mit berufsbiographischen Interviews als Quelle für die Rekonstruktion des ostdeutschen Lehrer:innenhabitus beschäftigte. Im Fokus stand die These, dass es erst die Wende- und Transformationszeit war, die ehemaligen DDR Bewohner:innen zu der als „ostdeutsch“ zu kategorisierenden Erfahrungsgemeinschaft machte, wie sie heute wieder in der öffentlichen Debatte diskutiert wird.

Seinen Abschluss fand der erste Konferenztag mit einem Panel zu erziehungs- und bildungsgeschichtlichen Perspektiven auf das 18. und frühe 19. Jahrhundert. Es begann HENDRIK HOLZMÜLLER (Münster), der sich mit Potentialen einer deutsch-niederländischen Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts auseinandersetzte. Holzmüller wählt die Rezeptionsgeschichte des „Katechismus der Natur“ von Johannes Florentius Martinet um verschiedene Domänen der kulturellen Verflechtung zwischen den beiden Ländern aufzuzeigen. Anschließend unternahm DANIEL LIEB (Jena) den Versuch sich kritisch mit der Geschichte des Bildungsbegriffs auseinander zu setzen. In Anschluss an Wallerstein und Postones begibt sich Lieb auf die Suche nach dem Arbeitsbegriff und wendet diese Perspektive auf Humboldts Bildungstheorie an. Die kritische Diskussion ließ Raum für weitere Fallstricke und Perspektiven.

DANNY THOMAS (Paderborn) stellte anschließend seine Untersuchungen zum Wirken Julius Kells (1813-1849) vor. In seinem Projekt untersucht THOMAS den Kontext des Vormärz und nimmt sich dabei vor allem der journalistisch-schriftstellerischen Handlung Kells an. Gegenstand der Analyse sind die sächsische Schulzeitung und die Volks- und Jugendschriften, die Kell als Medium nutzte, um auf schulpolitische Missstände aufmerksam zu machen. Der methodische Zugang und die Frage nach der Stimme des Autors wurde im Anschluss an die Präsentation gewinnbringend diskutiert.

Der zweite Konferenztag begann mit drei Vorträgen zu „Erziehungs- und Bildungsmedien“. ANNA STRUNK (Hamburg) stellte ihr Forschungsprojekt vor, in dessen Rahmen sie Comics als Bildungsmedien in der Bundesrepublik Deutschland von 1960-1980 untersucht. Mit Hilfe der historischen Diskursanalyse erschließt Strunk Debatten über Comics in pädagogischen Kontexten und arbeitet am Beispiel Hessen heraus, wie die Überlegungen zu Comics Eingang in die rechtliche Normierung in bspw. Rahmenrichtlinien oder Bildungspläne fanden. Ein weiteres Bildungsmedium wurde anschließend von SOPHIA SCHORR (Frankfurt am Main) vorgestellt. Am Beispiel der Lesehallenbewegung, die vornehmlich von der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur im ausgehenden 20. Jahrhundert gefördert wurde, markierte Schorr die Abgrenzung der Lesehallen von Ausleihbibliotheken als Wendepunkt des Bücherzugangs und arbeitete deren soziale und politische Dimension heraus. Abschließend stellte BERND REUTER (Potsdam) seine Dissertation vor, in welcher er die Veränderungen der Erziehungspositionen in der sowjetisch besetzten Zone und ihre Reflexion in DEFA-Filmen von 1946 bis 1949 untersucht. Reuter analysiert inwieweit diese Filme die Diskussionen und Entwicklungen in der Pädagogik und Politik zur Erziehung widerspiegeln und welche erzieherischen Absichten möglicherweise den Filmemachern zugrunde lagen.

Das letzte Panel fasste Präsentationen zu Traditionslinien und Wirkungsgeschichten. CHRISTINA HOFAMNN (Bayreuth) untersucht in ihrer Dissertation die Rezeption von Jerome Bruners Unterrichtsvorschlägen in der Bundesrepublik, abseits des technizistischen Curriculum-Mainstreams der 1960er- und 1970er-Jahre. Durch Interviews mit beteiligten Pädagog:innen und die Analyse von schriftlichen Quellen, die einerseits MACOS-Aufnahmegesuche dokumentieren und andererseits Bruners Rolle in den Reformdiskursen reflektieren, zeichnet sie die vielfältige Episode der Curriculumreform in der BRD nach. Abschließend stellte MAX SCHNELLBACH (Halle-Wittenberg) sein abgeschlossenes Masterarbeitsprojekt zu migrantischen Jugendlichen in er Bundesrepublik der 1970er und 80er Jahre vor. An Hand von medialen Berichterstattungen über die „Zweite Generation“ von Arbeitsmigrant:innen und über Quellen des Modellprojekts „Internationales Jugendzentrum Haidhausen“ in München konnte Schnellbach das Narrativ um die Gewalt migrantischer Jugendlicher analysieren und die dahinterliegende Bedeutungsebene der inneren Sicherheit und kulturellen Toleranzgrenzen aufdecken. In Anschluss an die Präsentation der Ergebnisse wurden weitere Möglichkeiten in Hinblick auf eine Promotionsarbeit diskutiert, im Vordergrund stand der internationale Vergleich sozialpädagogischer Angebote für migrantische Jugendliche in England.

Insgesamt bot die Nachwuchstagung einen inspirierenden Raum für den Austausch von Ideen und die Vernetzung der Forschenden, die sich mit spannenden Herausforderungen und Perspektiven der Historischen Bildungsforschung in den verschiedensten Zeit- und Bildungsräumen auseinandersetzen. Die unterschiedlichen methodischen Zugänge und Themen, die in dem zweitägigen Forum präsentiert und diskutiert wurden, spiegeln die Vielfalt der Historischen Bildungsforschung. Neben Diskussionen über Forschungsprojekte stand im Rahmen des Forums auch die Neuwahlen der Sprecher*innen an, Andreas Oberdorf (Münster) wurde nach vier Jahren als Sprecher verabschiedet. Wiedergewählt wurde Stefanie Vochatzer (Paderborn), neu gewählt wurde Anna Strunk (Hamburg).

Konferenzübersicht

Panel 1: Kritische Potentiale

Lukas Biehler (Wuppertal): Kritische Universität Berlin. Die Kontroverse um das Knauer-Borinski-Gutachten vor dem Hintergrund der Studienreformdiskussion

Ricarda Biemüller (Frankfurt am Main): Über die Bedeutung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS) für die sozialwissenschaftliche Wende in der Erziehungswissenschaft

Panel 2: Institutionelle Perspektiven

Max Zeterberg (Kassel): Pädagogische Diskurse im evangelischen Pfadfinden 1962–1976

Julia Kaufmann (Frankfurt am Main): Exemplarische Quellenkritik einer Patientenakte: Wie wird „geistige Behinderung“ in den 1950er Jahren beschrieben?

Panel 3: Die DDR und der „Osten“

Jessica Dalljo (Halle-Wittenberg): „Solidarität ist Herzenssache.“ Spendenwerbungen als kommunizierte Agency in Kinderzeitschriften der DDR

Aron Schulze (Dresden): Sonderstatus in der Transformation? Die Erneuerung der TU Dresden im Kontext des „Hochschulumbaus Ost“ (1989–1993)

Adrian Weiß (Kassel): Berufsbiographische Interviews als Quelle für die Rekonstruktion des ostdeutschen Lehrer:innenhabitus

Panel 4: Erziehungs- und bildungsgeschichtliche Perspektiven auf das 18. und frühe 19. Jahrhundert

Hendrik Holzmüller (Münster): Potentiale einer deutsch-niederländischen Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts

Daniel Lieb (Jena): Zur Historisierung der Arbeit im Bildungsbegriff

Danny Thomas (Paderborn): Zum Verhältnis von politischer und religiöser Erziehung im Vormärz. Konzeptionen und Praktiken des Volksschullehrers und Theologen Julius Kell (1813–1849) in Sachsen

Panel 5: Erziehungs- und Bildungsmedien

Anna Strunk (Hamburg): Comics als Bildungsmedien in der Bundesrepublik Deutschland (1960er–1980er Jahre)

Sophia Schorr (Frankfurt am Main): Lesehallen – die soziale und politische Dimension

Bernd Reuter (Potsdam): Die Veränderung von Positionen zur Erziehung in der sowjetisch besetzten Zone und ihre Widerspiegelung in DEFA-Filmen 1946-1949

Panel 6: Traditionslinien und Wirkungsgeschichten

Christina Hofmann (Bayreuth): Bruner goes Bielefeld and beyond. Zur Wirkungsgeschichte von Jerome Bruners Vorschlägen für sozialwissenschaftlichen Unterricht in der Bundesrepublik

Max Schellbach (Halle-Wittenberg): Emanzipation im Ghetto: Traditionslinien kritischer Sozialarbeit mit migrantischen Jugendlichen in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre

Redaktion
Veröffentlicht am