„Geschwinde Practicken“ im Reich. Verschwörungstheorien, politische Prognostik und fürstliche Ratsstube zwischen Reformation und Religionskrieg, ca. 1500 - 1635

„Geschwinde Practicken“ im Reich. Verschwörungstheorien, politische Prognostik und fürstliche Ratsstube zwischen Reformation und Religionskrieg, ca. 1500 - 1635

Organisatoren
Hannes Ziegler, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
18.04.2024 - 19.04.2024
Von
Nina Opgen-Rhein, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Am Anfang des Workshops stand die Beobachtung, dass für den Zeitraum zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg der Zusammenhang zwischen Bedrohungsszenarien und politischen Handlungsdynamiken ein zentrales Kennzeichen der politischen Kommunikation und Praxis darstellt. Davon ausgehend fragten die Teilnehmer:innen nach dem Einfluss von Verschwörungstheorien auf politisches Handeln im 16. und frühen 17. Jahrhundert, wobei neben dem Heiligen Römischen Reich auch andere europäische Herrschaftsräume in den Blick genommen wurden.

Der erste Vortrag von MARKUS MÜLLER (München) widmete sich den zur Zeit der sogenannten „Türkengefahr“ stattfindenden Bauernunruhen in Salzburg. Auf der Grundlage dreier Quellenbeispiele aus den Jahren 1478, 1495 und 1525 ging Müller der Frage nach, wann in dieser von vielfachen Umwälzungen geprägten Zeit Gerüchte im politischen und sozialen Kommunikationsgefüge in Erscheinung traten und wie diese verbreitet, eingesetzt oder entkräftet wurden. In einer vergleichenden Perspektive identifizierte Müller strukturelle Ursachen für die Entstehung von Gerüchten, wobei er den Antagonismus zwischen dem Salzburger Dompropst und dem Erzbischof, die habsburgischen Interessen am Erzstift oder den Zweifel an der rechtmäßigen Verwendung von Steuern als gleichbleibende Motive ausmachte, die einen idealen Nährboden für Verschwörungen boten. Positionen der politischen und sozialen Inferiorität seien zudem als dynamisierender Faktor hervorgetreten, was Anlass zu weitergehenden emotionsgeschichtlichen Untersuchungen des Zusammenhangs zwischen Unsicherheit und Bedrohungsszenarien und Gerüchten und Verschwörungstheorien gebe.

Auch STEFAN BECKERT (Dresden) untersuchte anhand eines Beispiels die Entstehung und Verbreitung einer Verschwörungserzählung und zeichnete nach, wie im Kontext des Regensburger Reichstags von 1541 Gerüchte vom vermeintlichen „Mordbrennerhauptmann“ Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel gezielt von dessen politischen Gegnern in Stellung gebracht wurden. Beckert arbeitete insbesondere die unterschiedlichen Kommunikationskonstellationen heraus, durch welche Verschwörungserzählungen zu einem Bestandteil politischen Handelns werden konnten. Ihre öffentliche Artikulation und Nutzung auf Reichsebene blieben jedoch ein nur von wenigen Reichsständen in Kauf genommenes Wagnis.

Mit dem Vortrag von KILIAN HARRER (Mainz) wandte sich die Tagung der Diplomatiegeschichte zu. Seine Untersuchung der Semantik der Praktyki in der Flugpublizistik aus der Zeit des polnisch-litauischen Interregnums von 1572/3 ermöglichte es, mit der Korruptionskritik eine bestimmte Variante von Verschwörungsdiskursen in den Fokus zu rücken. Harrer stellte fest, dass der oft unspezifisch verwendete, fast ausschließlich moralisch negativ konnotierte Begriff der Praktiken dazu dienen konnte, die Grenzziehung zwischen legitimer Patronage und illegitimer Korruption zu diskutieren. Er regte ferner an, die historische Wandelbarkeit von Semantiken und Praktiken des Geheimen und Öffentlichen bei einer Geschichte der Verschwörungstheorien besonders zu berücksichtigen.

Im Mittelpunkt des Beitrags von CHRISTIAN WENZEL (Marburg) stand die Verschwörung als Argument königlicher Handlungslegitimation an zwei zentralen Punkten der französischen Religionskriege. Die gemeinsame Betrachtung der Ermordung von Gaspard de Coligny 1572 und Henri de Guise 1588 zeigte, dass in beiden Fällen eine unmittelbar drohende Verschwörung als Grundlage diente, präventives Handeln seitens der Krone als erforderlich darzustellen. Wenzel identifizierte hier eine „integrierende Zielrichtung“ der herrscherlichen Kommunikation: Indem Karl IX. beziehungsweise Heinrich III. argumentierten, dass die Bedrohung sich nicht nur gegen den König, sondern auch gegen eben jene Partei gerichtet habe, von deren Führung die postulierte Verschwörung ausging, sollte eine deeskalierende Wirkung erreicht werden.

JONAS BECHTOLD (Bonn) nahm mit dem Heiligen Römischen Reich einen bislang wenig beachteten Schauplatz des englisch-spanischen Konflikts in den Blick. Er demonstrierte unter Heranziehung interner Dokumente der englischen königlichen Ratsstube der späteren 1590er-Jahre, wie Verschwörungserzählungen innerhalb eines größeren antispanischen Diskurses dazu dienten, den Kriegsgegner zu diskreditieren und die eigene Position in finanzieller, militärischer und reputativer Hinsicht zu stärken. Verweise auf die Reichsverfassung und das Narrativ undurchsichtiger Praktiken eines gemeinsamen Feindes boten dabei neue Argumentationswege.

Auch STEFANIE FREYER (Weimar) sprach über englische Diplomatie, zu deren Kernaufgaben sie das regelbasierte politische Prognostizieren zählte. Sie ging der Frage nach, wie Englands Akteure im frühen 17. Jahrhundert solche Vorhersagen nutzen und welche Handlungsdynamiken diese auslösten. Die Analyse von Korrespondenzen der internen englischen und deutsch-englischen Diplomatie machte deutlich, dass die politische Prognostik nicht nur zunehmend als Grundlage der eigenen Entscheidungsfindung diente, sondern auch durch affirmative Ermunterung oder gezielte Bedrohung steuernd auf Akteure des Reiches einwirken sollte. Ob und welche Reaktionen durch prognostizierte Bedrohungsszenarien ausgelöst wurden, hing dabei unter anderem von der Art der Bedrohung, dem Grad der Plausibilität und den Kommunikationsbedingungen ab.

MARIA WEBER (Freiburg) präsentierte in ihrem Vortrag über die Briefkommunikation der Stadt Freiburg vor und während der Belagerung durch Bauern im Mai 1525 einen bedrohungszentrierten Ansatz, um zu ergründen, wie Einzelinformationen in das Kommunikationsnetzwerk eines politischen Akteurs eingebunden und welche Entitäten in die Bedrohungskonstellation integriert wurden. In der Mehrzahl der Narrative in den untersuchten Missiven identifizierte sie ein bestimmtes Set an Merkmalen, das auf die situative Eigenheit der betrachteten Bedrohungskommunikation schließen lässt, insbesondere die genauen Zeitangaben und die eindeutigen Zuschreibungen der in den Briefen enthaltenen Informationen. Weber stellte zum einen die Tragfähigkeit einer vom Aspekt der Semantik geleiteten Untersuchung von Bedrohungskommunikation heraus, zum anderen regte sie an, über die Implikationen eines bedrohungszentrierten Ansatzes für die logische Verknüpfung von Bedrohung und Bellizität nachzudenken.

JAN SIEGEMUND (Bielefeld) beleuchtete die möglichen Auswirkungen eines frühneuzeitlichen Wandels von öffentlicher Kommunikation oder dessen Wahrnehmung auf die Perzeption und Verbreitung von Verschwörungsnarrativen. Die Reaktionen der Obrigkeit auf konspirative Pasquille im 16. Jahrhundert lege eine gesteigerte Sensibilität der Herrschenden für die öffentliche Meinung nahe, die sich im Umgang mit den zeitgleich zunehmenden Gerüchten über drohende Anschläge und Revolten niedergeschlagen habe. Die obrigkeitskritischen Schmähschriften, so resümierte Siegemund, offenbarten nicht nur eine im konfessionellen Zeitalter weitverbreitete Angst vor Verschwörungen, sondern beeinflussten durch deren gezielte Verbreitung und Beförderung gleichzeitig politisches Handeln.

Mit Beispielen aus dem böhmisch-pfälzischen Krieg erläuterte NATALIE KRENTZ (Frankfurt am Main) die europaweit verbreitete Praxis, mittels geraubter Akten Verschwörungen oder geheime Praktiken des Gegners aufzudecken. So sollte dessen politische Vertrauenswürdigkeit geschwächt und gleichzeitig Verunsicherung unter Dritten geschaffen werden, wobei der Vorwurf der Dissimulatio ein zentrales Motiv war. Krentz konstatierte, dass die Vertrauenskrise zwischen den politischen Akteuren des Reichs mit der Publikation erbeuteter Akten eine neue Form der Herstellung von Glaubwürdigkeit hervorbrachte: Die Autorität und Zuverlässigkeit des Autors rückten als Faktoren in den Hintergrund, während neben anderen traditionellen Beglaubigungsmitteln wie der göttlichen Legitimation vor allem das authentische Dokument selbst an Bedeutung gewann. Die detaillierte Beschreibung der Originale und ihrer Herkunft, der Verweis auf den Besitz dieser Dokumente, bestimmte typographische Elemente sowie die wörtliche Transkription des Textes waren dabei charakteristisch.

RONALD G. ASCH (Freiburg) wies abschließend auf die im Verlauf des Workshops augenfälligen Parallelen zu gegenwärtigen Verschwörungstheorien hin, darunter etwa die Furcht vor supranationalen geheimen Netzwerken. Gleichzeitig betonte er den ebenso zutage getretenen spezifischen Charakter frühneuzeitlicher Verschwörungsnarrative: Zum einen habe der Konformitätszwang des konfessionellen Zeitalters ihnen einen besonderen Nährboden geboten. Ferner hätte der Verweis auf vermeintliche Verschwörungen auch dem für diesen Zeitraum zentralen Anliegen gedient, die Grenzziehung zwischen friedensfähigen und nichtfriedensfähigen Kräften im gegnerischen konfessionellen Lager zu ermöglichen. Asch regte zudem an, bei Fragen zum Themenkomplex Täuschung, Misstrauen und illegitimen Praktiken auch die zeitgenössische Theorie der Staatskunst und die Literatur zu Verhaltensnormen bei Hofe in den Blick zu nehmen.

Es wurde deutlich, dass Verschwörungserzählungen zum einen ein Symptom einer bestehenden Vertrauenskrise waren. Andererseits entfalteten sie eine Eigendynamik, durch die diese Krise wiederum verstärkt wurde. Wenngleich die Teilnehmer:innen festhielten, dass weiterführende Überlegungen zu einer begrifflichen Ausdifferenzierung oder Präzision lohnenswert sein könnten, zeigte die Vielfalt der Beiträge doch eindrücklich, dass die Phänomene, die im Kontext der Tagung unter „Verschwörungstheorie“ gefasst wurden, Einfluss auf politische Handlungsdynamiken gewinnen konnten.

Konferenzübersicht:

Hannes Ziegler (München): Begrüßung und Einführung

Markus C. Müller (München): „Haben daselbs gehört vil murmelns“ – Türkenbedrohung und Bauernunruhen in Salzburg um 1500

Stefan Beckert (Dresden): Mordbrennergeschrey – Genese, Nutzung und Folgen der Verschwörungserzählung vom katholischen Mordbrennerhauptmann Herzog Heinrich im Umfeld des Regensburger Reichstags 1541

Kilian Harrer (Mainz): „Praktyki“ im polnisch-litauischen Interregnum von 1572/3. Diplomatie, Verschwörungstheorien und Korruptionskritik

Christian Wenzel (Marburg): Verschwörung als Argument herrscherlicher
Handlungslegitimation: Die Bartholomäusnacht (1572) und die Morde von Blois (1588) im Zusammenhang

Jonas Bechtold (Bonn): „Craftie pollicies“ und „barbarous blockheads“: Reich, Reichsversammlungen und 'Reichskrise' in englischer Perspektive um 1600

Stefanie Freyer (Weimar): Vorhersagen als Instrumente deutsch-englischer Diplomatie im frühen 17. Jahrhundert

Maria Weber (Freiburg): Bedrohungsszenarien: Krisenkennzeichen oder rhetorisches Konstrukt?

Jan Siegemund (Bielefeld): Konspirative Pasquille. Der Einfluss des
Öffentlichkeitswandels im 16. Jahrhundert auf die Wirkung von Verschwörungsnarrativen

Natalie Krentz (Frankfurt am Main): „die teuflichen Calvinistenpractiken in ihrn archivn und canzleien [...] mit henden greifen“. Räte, Akten und das Aufdecken von Verschwörungen im böhmisch-pfälzischen Krieg

Ronald G. Asch (Freiburg): Abschlusskommentar und Abschlussdiskussion

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