Frauenleben sind erzählenswert! Doch welchen Erkenntniswert, bzw. Relevanz haben Einzel- oder Kollektivbiografien in der aktuellen Forschung? Wie können Frauenbiografien in demokratischen oder systemischen Umbruchphasen untersucht werden und welche Auswirkungen haben soziale und kulturelle Veränderungen im Geschlechterverhältnis auf demokratische Prozesse? Diese Fragen diskutierten Wissenschaftler:innen anhand ihrer Forschungsprojekte zu Frauenbiografien aus verschiedensten Kontexten. JULIA PAULUS (Münster)und MIRJAM HÖFNER (Freiburg) starteten die Tagung mit einem Forschungsüberblick zu geschlechtertheoretischen Fragen und konzeptionellen Überlegungen zur Tagung.
KARIN ALEKSANDER (Berlin) und HEIKE SCHIMKAT (Berlin) stellten das (internationale) Projekt „Frauengedächtniss“ vor, das auch Interviews von Frauen aus der DDR umfasst. Diese Frauen gaben retrospektiv Einblicke in ihren berufliches und politisches Leben sowie ihren Umgang mit den Umbrüchen ab 1990. Die archivierten Interviews bieten originäres Material für verschiedene Themen der DDR- und Transformationsforschung , z.B. für die Aneignung gerade dieses frauengeschichtlichen Teils der asymmetrischen deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte sowie dessen Repräsentation im medialen Diskurs.
UTA C. SCHMITT (Duisburg) und SUSANNE ABECK (Bochum) thematisierten die stark männerzentrierten Repräsentationformen im Ruhrgebiet und stellten das Projekt frauen/ruhr/geschichte vor. Sie betonten die Bedeutung von biographischen Zugängen für die Erzählung privater und politischer Transformationsgeschichten. Der Strategie der Addition sprachen sie eine orientierende und mobilisierende Funktion zu. Entlang der im Call aufgeworfenen Fragen stellten sie ihre Ergebnisse anhand ausgewählter Biographien vor. So fragten sie in Bezug auf die aktuelle Diskussion um die Errichtung eines Denkmals für Helene Wessel (1898-1969), wie Zeugnisse von Frauen heute biographisch erzählt werden können, trotz widerstreitender Meinungen. In der Diskussion wurde Demokratieanspruchsgedanken angemerkt, dass Demokratie verstanden als staatliche Ordnung es besser erlaube Ambivalenzen und Spannungen herauszuarbeiten. Zu proletarischen Frauenbiographien im Ruhrgebiet wurde festgestellt, dass das „Ernährer-Hausfrauenzuverdiener-Modell“ ein prägendes Narrativ gewesen sei. Die Frage der Gleichberechtigung sei vor allem vor 1945 nicht über die Erwerbstätigkeit, sondern über die politischen Partizipationsmöglichkeiten verhandelt worden.
MONICA FIORAVANZO (Padua) und THERESA HORNISCHER (Gütersloh) präsentierten zwei Frauenbiografien, deren Handlungs- und Wirkungsstrategien beispielgebend für (Selbst) Ermächtigung stehen können. Lina Merlin (1887-1979), Sozialistin, Antifaschistin, Mitglied der italienischen Resistenza und der Verfassungsgebenden Versammlung, war eine der wichtigsten Protagonistinnen der politischen Geschichte Italiens von den 1920er- bis zu den 1960er-Jahren. Das nach ihr benannte Merlin-Gesetz hob die Restriktionen gegen Prostituierte auf. Merlin setzte es gegen die Interessen ihrer Partei durch. Fioravanzo stellte fest Merlin, sei keine Feministin gewesen, sondern „feministisch“ in dem Sinne, dass ihr der Kampf für Frauen eng mit dem Eintreten für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit verbunden war. Merlins Unabhängigkeit von Parteiinteressen, ihre kritische Haltung und zeitweilige Distanzierung zu ihrer Partei sowie die starre Ausrichtung der feministischen Gruppen hätten dazu geführt, dass Merlin in der Parteien- und Frauengeschichtsschreibung in Vergessenheit geraten sei. Hornischer betonte bei Léonie Joséphine Wanner (1886-1941) deren intermediäre Position. In bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, finanziell unabhängig und Mitglied der Arbeiterpartei, engagierte sich Wanner zunächst erfolglos in Lyon für das Frauenwahlrecht. In Paris gehörte sie ab 1930 zu den führenden Köpfen der französischen Sektion der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“. Angesichts der wachsenden faschistischen Gefahr näherte sich Wanner der Kommunistischen Partei an und kritisierte den Kolonialismus scharf. Vor ihrem Verschwinden 1939 agierte sie als Kulturdiplomatin und Vermittlerin zwischen ‚Orient‘ und ‚Okzident‘. Die Diskussion hob Unterschiede und Berührungspunkte in Bezug auf das Demokratieverständnis hervor. Auffällig wurde, dass beide auf lokalen und internationalen Ebenen agieren, aber nicht auf nationaler Ebene. Ein Grund könnte sein, dass der nationale Raum stärker männlich besetzt war.
KERSTIN WOLF (Kassel) und JOHANNES KELTING (Gießen) hinterfragten bisherige Lebensdarstellungen frauenhistorischer Heldinnen und forderten einen Perspektivwechsel. Am Beispiel von Elisabeth Selbert (1896-1986) überprüfte Wolf das Narrativ vom Vergessen und Wiederfinden der „Verfassungsmütter“ und stellte die These auf, dass Selbert bereits ein Produkt der Frauengeschichte war, die sie angeblich wiederentdeckte. Der entscheidende Anstoß zur Wiederentdeckung von Selbert kam laut Wolf aus der Erinnerungsarbeit an die demokratische Staatsgründung in den 1970er-Jahren. Sie entwickelte sich zu einer gefragten Interviewpartnerin mit großer Medienpräsenz, die zudem in der frühen Frauenforschung quellenunkritisch übernommen wurde. Die grundlegende juristische Veränderung der Selbertschen Formulierung in Art. 3.2 GG, die eine Veränderung im Geschlechterverhältnis einleitete, werde dagegen bis heute in der Forschung kaum wahrgenommen. Kelting beschäftigte sich mit Else Lüders (1872-1948). Sie engagierte sich in der Arbeiterinnenfrage und setzte sich für die politische Gleichberechtigung beider Geschlechter ein. Kelting betonte den von Lüders positiv konnotierten Begriff der Propaganda, um die Idee der vollen Gleichberechtigung in der Bevölkerung zu verbreiten. Lüders sah im Frauenwahlrecht eine Chance für ein gelingendes Gemeinwesen im deutschen Nationalstaat. Dem Erwerb von Kolonialbesitz stand sie positiv gegenüber. Sie lehnte Mischehen ab und ihre Äußerungen zur Kolonialfrage zeugen vom Duktus der kulturellen Überlegenheit. Ihre nationalistische Einstellung zeigte sich in ihrer Haltung zum Ersten Weltkrieg. Die Diskussion machte deutlich, dass bei Selbert zwei Prozesse ineinandergreifen: ihre sozialdemokratische Arbeit im Parlamentarischen Rat und ihre später scheinbar parteilose Rolle in der neuen Demokratiegeschichte. Übergreifend wurde betont, dass beide Teil einer ambivalenten deutschen Demokratiegeschichte seien und dass Frauenleben in Demokratien als Ort von Aushandlungsprozessen zu verstehen sei.
VOLKER JÖRN WALPUSKI (Freiburg) und ANNA LEYER (Basel) fragten, ob Frauenbiografien und Demokratiegeschichten bei Sozialen und Friedensthemen typische Frauengeschichten bleiben?. Walpuski stellte in seinem Beitrag die niederländische katholische Sozialarbeiterin Cora Baltussen (1912-2005) vor. Baltussen arbeitete während des Zweiten Weltkriegs als Sozialarbeiterin, engagierte sich im Widerstand und im Roten Kreuz. Sie studierte Psychologie in Nijmegen und erhielt 1952 ein Stipendium für ein Studium in Casework in Chicago. Dort kam sie mit dem amerikanischen Verständnis von Individualismus und Demokratie (Dewey-Pragmatismus) in Kontakt und lernte als Stipendiatin des European Special Social Welfare Program der Vereinten Nationen die Demokratisierungspläne der Alliierten für Westeuropa kennen. Nach ihrem Stipendium wurde sie Gründungsdirektorin des katholischen Bildungsinstituts in Nijmegen. Das in den USA erworbene Wissen verband sie mit ihrer europäischen bürgerlich-katholischen Sozialisation und brachte es in die Entwicklung der Supervision ein. Leyer untersuchte eine Gruppe von Frauen, die in den Jahren 1945-1949 aktiv das politische Geschehen im neuen Deutschland mitgestalten wollten. Diese Frauen waren in der Weimarer Republik sozialisiert worden, neben ihrer Alterskohorte zählt ihr Einsatz für Frieden als verbindendes Element. Am Beispiel von Anna Haag (1888-1982), Pazifistin, SPD Mitglied und Landtagsabgeordnete zeigte die Referentin, dass für Haag und ihre Mitstreiterinnen Frieden als ein Eckpfeiler ihrer Politik galt. Leyer verwies darauf, dass der Begriff Frieden im gesamtgesellschaftlichen Diskurs synonym für eine neue und bessere Gesellschaftsordnung stand. Die Frauen waren somit nur eine weitere Gruppe, die sich für eine friedliche Welt im Sinne einer guten sozialen Ordnung einsetzte. Leyer zog aus ihrer Analyse zwei Schlüsse. Wenn “Frieden” ein allgegenwärtiger Begriff war, der nach 1945 als Quasi-Synonym für eine bessere Zukunft stand, dann kann sich die Forschung darauf konzentrieren, was diese Frauen für das friedliche Deutschland vorschlugen und wie sie ihren Platz darin sahen. Zugleich wird dann jenes Kollektiv, das eben durch die Gemeinsamkeit eines Engagements für den Frieden zusammengehalten wird, brüchig. Die Debatte thematisierte die Frage, wie Herkunft und Sozialisation demokratische Vorstellungen beeinflussen und sich auf die Ausgestaltung von Supervision auswirkten. Auch der Begriff "Frieden" und seine Veränderung in den Nachkriegsjahren wurde diskutiert, mit Hinweisen auf die Verknüpfung von Frieden und Mütterlichkeit. Es wurde darüber spekuliert, ob Frieden als neues demokratisches Sprachverständnis einen überparteilichen Konsens ermöglichen könne.
Formen von politisch-demokratischen Erzählungen zu Frauen in traditionell demokratisch historischen Orten wie Parlament und Verwaltung wurden von BIANKA TRÖTSCHEL-DANIELS (Erfurt) und NIKOLAI WEHRS (Konstanz) präsentiert. Trötschel-Daniels konnte am Beispiel der Bezirke Münster und Erfurt zeigen, dass in den 1960er-Jahren der Anteil der weiblichen Mandatsträgerinnen nach der Einführung des Frauenwahlrechts nicht signifikant anstieg. Vielmehr verharrte die Institution Kreistag in ihrer traditionellen Männlichkeit. Aus den Kollektivbiographien konnte sie verschiedene Topoi wie Migration, Mehrfach-Engagement und Führungspositionen ohne Heirat ableiten. Trötzschel-Daniels erkannte zwar wiederkehrende Muster, betonte jedoch, dass weibliche Lebensstile nicht verallgemeinert werden können. Vielmehr sollen strukturelle Gemeinsamkeiten innerhalb einer marginalisierten Gruppe von Frauen sichtbar gemacht werden, um die männliche Dominanzkultur zu durchbrechen. Wehrs stellte ein Forschungsprojekt zur politischen Kulturgeschichte des britischen Civil Service vor, das sich auf Geschlechter- und Verwaltungsgeschichte konzentriert. Trotz formaler Gleichberechtigung blieben Frauen in der höheren Ministerialbürokratie bis 1980 stark marginalisiert. Zugangsbeschränkungen und Veränderungen im Bewerbungsverfahren, die „old-boy-networks“ stärkten, bewirkten, dass der Frauenanteil nur geringfügig wuchs. Der biographische Blick die zur höheren Ministerialbürokratie zugelassenen Frauen zeigte, dass diese erfolgreich für ihre Interesseneintraten. Aber auch wie stark der Civil Service den Frauen sein (männlich kodiertes) Ethos der Staatsdienerschaft aufprägte. Die Frauen verstanden sich in erster Linie als Civil Servant, nicht als Feministinnen. Wehrs führte aus, dass die Öffnung des Civil Service für die gleichwertige Beschäftigung von Frauen als Anpassungsprozess der Verwaltungseliten an das formale System der Demokratie, sowie n die der Demokratie inhärenten sozialen Trends zu Egalität und Partizipation verstanden werden kann. Dass diese Anpassung zögerlich erfolgte, lag an der konservativen Sozialnatur der Ministerialbürokratie. Vergleichende Studien mit der Entwicklung der Geschlechtergleichstellung in anderen gesellschaftlichen Bereichen, oder mit der Stellung von Frauen in den Ministerialbürokratien anderer westlicher Staaten könnten mehr Klarheit bringen. Die Diskussion umfasste die Wirkung familiärer Netzwerke, Politisierungsimpulse und Brüche in den Kollektivbiographien. Zu den Frauen im Civil Service wurden deren Selbstverständnis, ihre Ziele sowie ihre geschlechtsspezifische Performance (Crossdressing) diskutiert. Es wurde angeregt die Untersuchung intersektional (Geschlecht und Klasse) zu erweitern. Zum Hinweis, dass Verwaltung als Residuum zu sehen sei, wurde eine neuer Ansatz zur Betrachtung von Demokratien, die sich aus dem Ausschluss von Frauen entwickelten zur Sprache gebracht. Da das Gleichheitsversprechen, als Norm postuliert, ständig präsent ist, müssten mit großem Aufwand Begründungen gechaffen werden, um den Ausschluss der Frauen zu rechtfertigen.
MORITZ FISCHER (Aachen) und PAULA LANGE (Wien) beschäftigten sich mit ‚radikalen‘ Frauen im Sinne von Selbst- und Fremdverortungen. Fischer fragte am Beispiel von Johanna Grund (1934-2017) nach Weiblichkeitsbildern innerhalb der extremen Rechten und deren Kontinuitäten bzw. Transformationen. Johanna Grund stellvertretende Parteivorsitzende der Republikaner zog 1989 als einzige weibliche Abgeordnete ihrer Partei in das Europaparlament ein. Rechts zu sein bedeutete für Grund die Emanzipation vom bürgerlichen (konservativen) Frauenbild, dem Bekenntnis zu einer natürlichen Weiblichkeit und die Abgrenzung, von den „Emanzen“ der Frauenbewegung. 1990 übernahm Grund kommissarisch den Bundesvorsitz. Parteimitglieder konfrontierten sie darauf mit dem Vorwurf sie sei als biologischer Mann geboren und habe sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen. Grund wehrte sich vergebens. Die Geschlechterfrage entwickelte sich bei den Republikanern zu einer machtpolitischen und ideologischen Frage. Grund verstand ihr Engagement für politische Rechte als Teil weiblicher Emanzipation, geriet damit aber in Konkurrenz zu den von der Partei propagierten völkischen Weiblichkeitsmodellen. Grunds potentielle Transsexualität verwirrte die bestehenden Kategorien und Vorstellungen von Geschlecht und widersprach dem Streben der politischen Rechten nach Eindeutigkeit in einer komplexen Welt. Lange gab am Beispiel der Debatte um das Reichsvereinsgesetz einen Einblick in die demokratischen Vorstellungen von Tony Breitscheid (1878- 1968). Mit Inkrafttreten des deutschen Reichsvereinsgesetztes am 19. April 1908 konnten Frauen erstmals an politischen Versammlungen teilnehmen, Mitglied in politischen Vereinen und Parteien werden und diese gründen. Die Frauenstimmrechtsbewegung hatte sich seit Jahren für diese Gesetzesänderung eingesetzt und sich an der Diskussion um die Formulierung des Gesetzestextes beteiligt. Ein Diskussionspunkt betraf den „Sprachparagraph“. Dieser regelte, dass Versammlungen in deutscher Sprache abzuhalten seien. Breitscheid ging entschieden gegen den Sprachenparagraphen vor und verwies auf die negativen Auswirkungen für die polnische Bevölkerung. Ihre Kritik beruhte vor allem auf ihrem Verständnis von Chancengleichheit und Gleichheit vor dem Gesetz und speiste sich aus ihren sozialdemokratischen Grundsätzen. LANGE resümierte, dass sich das Reichsvereinsgesetz auch negativ auf die Frauenstimmrechtsbewegung auswirkte, da es deren Zersplitterung beschleunigte. Das zeige sich auch an der Biographie von Tony Breitscheid, die sie sich ab dem Zeitpunkt von der Frauenstimmrechtsbewegung abwendete. Die Fragen wie eine antidemokratisch eingestellte Frau in einer Demokratie agierte und wer in einer Demokratie sprechen darf, eröffneten die Diskussion. Des Weiteren wurde über Grunds Frauenbild, ihre inhaltliche Positionierung und Selbstinszenierung debattiert. Das Vereinsgesetz von 1908 wurde in Bezug auf die Reaktionen in der polnischen Presse, aber auch in verschiedenen Frauenverbänden ausführlich diskutiert. Betont wurde: radikal sein ist eine Projektionsfläche für Normierungsprozesse und Ausschlussmechanismen.
Am Beispiel vermeintlich „apolitischer“ Frauenleben machten MATHIAS BERG (Berlin) und RUTH OELER (Ludwigsburg) deutlich: das Private wird politisch. Auch und gerade, indem es entsprechend erzählt wird. Berg nahm mit den Ehefrauen von Reichstagsabgeordneten eine Gruppe von Frauenbiographien in den Blick, deren politisches Wirken jenseits von rechtlichen, sozialen und kulturellen Beschränkungen einzuordnen ist. Die Verflechtung des privaten und sozialen Lebens mit dem politischen Mandat des Ehemannes als Zwischenschritt im Professionalisierungsprozess der Politik eröffnete auch Frauen informelle Zugänge zur Politik so seine These. Die Korrespondenz des Ehepaares Adolf und Marie Geck zeige, dass Frauen zwar formell von den politischen Arenen ausgeschlossen waren, sie aber durch die zunehmende Verflechtung von Privat- und Berufsleben mit der Mandatsausübung ihrer Ehemänner einen "informellen" Zugang zur politischen Sphäre erhielten. Auch, weil die Abgeordneten ihrerseits die Unterstützung ihrer Ehefrauen einforderten. Als „Übersetzerinnen“ zwischen parlamentarischem Mandat, häuslichem Broterwerb und Familienleben waren die Ehefrauen integraler Bestandteil des Professionalisierungsprozesses der Politik im Kaiserreich. Die Auswertung eines größeren Sample könnte das Rollenbild noch weiter differenzieren. Oeler beschäftigte sich mit den staatlich anerkannten Künstlerinnen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Sowohl in Eigen- als auch Fremdzuschreibungen werden diese als unpolitische KünstlerInnen beschrieben. Sie fragte danach wie sich diese (Selbst)zuschreibungen erklären lassen, da im Nationalsozialismus Kunst immer politisch dimensioniert war. Am Beispiel der Grafikerin Lizzie Hosaeus (1910-1998) stellt OELER zwei Prämissen auf: Das Quellenmaterial muss bei aller Heterogenität als Ganzes betrachtet und die Zeit des Nationalsozialismus muss in die Biografien und Werksanalysen miteinbezogen werden. Erkennbar wurde bereits ein Muster. Neben der Herkunft aus einer künstlerisch interessierten und ökonomisch gesicherten Familie waren sie in einem als unpolitisch identifizierbaren Bereich der Kunst- wie Illustration tätig wie Familienbildnisse, Porträts, Stillleben, Tiermalerei. Im Nationalsozialismus wurde dies alles politisch aufgeladen, was den meisten Künstlerinnen entweder entging, oder sie nicht wahrhaben wollten. Nach dem Nationalsozialismus verblieben einige bei dem, was sie immer schon getan hatten. Die andere Hälfte fand neue Betätigungsfelder und versuchte aktiv am Kunstleben teilzuhaben und Einfluss auszuüben. Sie alle einte aber ein gewaltiges Stigma, das sie bis heute nicht verloren haben: Die Tatsache, dass sie im weitesten Sinne vom Nationalsozialismus profitiert haben. Diskutiert wurde zu Berg in wie weit die bisherigen Ergebnisse auf andere gesellschaftliche Gruppen und Parteien übertragbar sind. Kritisch angemerkt wurde, dass die Darstellung der weiblichen Handlungsräume auf den Mann und seine Tätigkeit ausgerichtet seien. Ausführlich und lebhaft wurde über die Topoi des unpolitischen Künstlers und des schöpferisch gestaltenden und damit autonom wirkenden Künstlers diskutiert. Positiv angemerkt wurde der methodische Ansatz Biografien zum Strukturprinzip der Erzählung zu machen.
Im Zentrum der Abschlussdiskussion stand die Rolle der binären Geschlechterordnungen in demokratischen Gesellschaften mit Blick auf weibliche Ermächtigungsstrategien um am Demokratieversprechen teilhaben zu können. Die Suche nach unterschiedlichen Anknüpfungspunkten zu demokratischer Teilhabe, die Bedeutung der Herkunftsbedingungen und Ressourcen um überhaupt teilhaben zu können sowie die Relevanz von Institutionen, damit Frauen handlungsfähig werden können und ihr Handeln sichtbar wird. Kritisch angemerkt wurde der stark bürgerliche bis großbürgerliche Blick, daran knüpfte die Frage an, ob es überhaupt möglich sei, jenseits von Kollektivbiografien das Leben von „ordinary people“ aufzuzeigen. Als Leerstelle fiel das Fehlen querer Geschichten auf. Verbunden mit dem Hinweis auf die Tücken des Genres Biografien wurde die Forderung Wissens-und Werteordnungen sowie soziale Netzwerke noch stärker zu berücksichtigen. Nach zwei Tagen des intensiven, anregenden und offenen Austauschs zeigte sich, bei der Frage, wer spricht und wem wann wie zugehört wird, spielt das Geschlecht in Demokratien eine profunde Rolle. und neue Perspektiven auf Frauenleben bieten in demokratischen Erzählungen Chancen einer Perspektivenerweiterung. Die Tagung bildete hier nur einen Auftakt und die in den Diskussionen aufgeworfenen Fragen und Ideen bieten Anreiz für neue Projekte.
Konferenzübersicht:
Begrüßung und Einführung
Julia Paulus (Münster) / Mirjam Höfner (Freiburg)
Panel I: Transformationsgeschichten und Geschlechtergeschichten
Karin Aleksander (Berlin) / Heike Schimkat (Berlin): Das (internationale) Interviewprojekt „Frauengedächtnis“ mit Frauenbiografien aus der DDR
Uta C. Schmidt (Duisburg) / Susanne Abeck (Bochum): Biografisch bezogene Geschichtsschreibung am Beispiel des Projekts „frauenruhrgeschichte“
Panel II: (Selbst-)ermächtigungen
Moderation: Mirjam Höfner (Freiburg)
Monica Fioravanzo (Padua): Lina Merlin (1887-1979) – Eine italienische Sozialistin und Antifaschistin
Theresa Hornischer (Gütersloh): Durch die Brille einer weiblichen Intellektuellen: Interventionsstrategien der „eingreifenden Denkerin“ - Léo Wanner in der Zwischenkriegszeit in Frankreich
Panel III: Vor-Bilder und Ikonisierungen
Moderation: Bernhard Gotto (München)
Kerstin Wolff (Kassel): Die Biografie von Elisabeth Selbert als Beispiel einer frühen Frauengeschichte. Chancen und Risiken eines neuen Blickwinkels
Johannes Kelting (Gießen): Ein „typisches inneres Frauenleben“? Else Lüders (1872-1948) zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus
Panel IV: ‚Frauen‘-Geschichten? Sozial- und Friedensarbeit
Moderation: Isabel Heinemann (Bayreuth)
Volker Walpusk (Freiburg)i: Biographie der katholischen Niederländerin Cora Baltussen (1912-2007)
Anna Leyrer (Basel): „Frauenaufbruch” für den Frieden nach 1945? Der Fall Anna Haag
Panel V: Verzögerungen: Systemische Marginalisierung
Moderation: Kirsten Heinsohn (Hamburg)
Bianka Trötschel-Daniels (Erfurt): Wer ist sie? Kreistagsabgeordnete in den Landkreisen Erfurt-Land und Münster 1948–1965
Nikolai Wehrs (Konstanz): Das Geschlecht der Staatsverwaltung – Frauen in der höheren Ministerialbürokratie Großbritanniens im 20. Jahrhundert
Panel VI: ‚Radikale‘ Frauen: Selbst- und Fremdverortung
Moderation Mirjam Höfner (Freiburg)
Moritz Fischer (Aachen): „Emanzen links liegen“ lassen. Johanna Grund (1934–2017) und die vielschichtige Bedeutung von Weiblichkeit innerhalb der politischen Rechten
Paula Lange (Wien): „Um 1910 herum glaubten wir, in Deutschland demokratische Ideen in die Wirklichkeit umsetzen zu können.“ – Die Sozialdemokratin Tony Breitscheid und das Reichsvereinsgesetz 1908
Panel VII: Vermeintlich „apolitisch“: das Private wird politisch
Moderation: Christian Rau (Berlin)
Matthias Berg (Berlin): Weibliche Agency in Männerwelten? Politische Handlungsräume der Ehefrauen von Reichstagsabgeordneten zum Beginn des 20. Jahrhunderts
Ruth Oeler (Ludwigsburg): Die unpolitische Künstlerin? Politisches Erleben in Künstlerinnenbiografien