Sind tiefgreifende Konflikte und gesellschaftliche Umbrüche der Ausgangspunkt für Neuansätze in der Verfasstheit vormoderner und moderner Gesellschaften? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Krise und Verfassungsbildung? Welche Muster der Exklusion und Inklusion von politischen Akteuren lassen sich erkennen und steckt immer auch ein Stück Vision in einer "Verfassung"? Diesen und weiteren Fragen wurde im Mai in Düsseldorf in einem interdisziplinären Austausch nachgegangen.
Nach Ferdinand von Schirach 1 sind Verfassungen soziale Ankerpunkte, an denen sich Gesellschaften orientieren, aber gleichzeitig stellen sie stets auch politische Visionen dar, die als idealer Fluchtpunkt realitätsformend wirken. Somit sind Verfassungen niemals nur konstitutive Schriftstücke, die politische Ordnungen stiften und Recht und Politik in Beziehung setzen wollen. Verfassungen, so schlägt Heinrich August Winkler 2 vor, sind vielmehr als normatives Projekt anzusehen, die sich, sofern sie sich durchsetzen können, zu einem normativen Prozess weiterentwickeln. Nach Niklas Luhmann 3 regeln sie das Verhältnis von politischer Gewalt und rechtlicher Bindung, um politische Streitigkeiten „mit juridischer Sachlogik entscheidbar zu machen“.4 Verfassungen stehen an der Schnittstelle zwischen Recht und Politik und sind mit kontinuierlichen Prozessen der politischen Formung des Rechts verbunden, um eine bestimmte Ordnung herzustellen. Folgt man Luhmann, der in Verfassungen vor allem Exklusion und Inklusion von Akteuren und die Ausbildung von Verhandlungsweisen sucht, geht es letzten Endes maßgeblich um politische Partizipation und den Umgang bzw. die Eingrenzung legitimer Gewaltausübung.
Die wissenschaftliche Würdigung von Verfassungen schließt deshalb den historischen Entstehungskontext und die mit einer Verfassung verbundenen Vorstellungen und Hoffnungen ein, die sich in den Paratexten, in Ritualen und symbolischer Kommunikation aber z.B. auch in Kunst und Literatur greifen lassen, die auf die verfassungsbildenden Prozesse reflektiert. Beachtet man die Entstehungssituationen von Verfassungen dahingegen nicht, drohen gleichsam politische Konstellationen und Akteure, die nicht in ihrer textlichen Form auftreten, aus dem Blick zu fallen.
Verfassungen überschreiben, formulieren oder strukturieren gesellschaftliche Ordnung neu. Ihnen ist damit auch immer die Intention bzw. die Vision zur Überwindung überkommener oder konfliktreicher und dysfunktionaler Machtverhältnisse inhärent, wobei sie im Grundsatz den Ausschluss nicht legitimer Machtausübung durch Personen oder Handlungen plausibel zu machen suchen. Gleichzeitig mit dem neu zu etablierenden oder zu festigenden Herrschaftssystem entwerfen sie so einen aktuellen Rahmen für eine politische Ordnung, wie auch für die Gesellschaft und ihre in unterschiedlichem Maße daran partizipierenden Mitglieder.
Zentrale Fragen des Workshops waren, wie konkret die Funktion von Verfassungen und Grundgesetzen als normative Ordnungen mit dem Aspekt der Vision bzw. Utopie zusammenhängen? Welche historischen Muster können wir für die Genese von Grundgesetzen erkennen und welche hermeneutischen Ansätze eröffnen sich damit? Wie definieren wir die Schnittstelle von Politik und Recht, die nicht nur politische Akteure autorisiert, sondern ermöglicht, dass wir den damit verbundenen Diskurs im Blick behalten, der z.B. den Rechtsgelehrten eine neue Rolle zuschreibt? Welche Funktion haben der Ausdruck symbolischer Ordnung und die Visualisierung der Repräsentanz von Macht für die Verfassung und ihre Gültigkeit vielleicht gerade in diesem Diskursraum?
Ziel des Workshops war es, das komplexe Phänomen Verfassung und Verfassungsbildung im epochenübergreifenden und interdisziplinären Dialog zu diskutieren. Verfassungsgeschichte schließt selten die vormodernen Epochen in der long durée ein und wird meist von Historikern und Juristen unabhängig voneinander betrieben, aber selten im Austausch miteinander. Obwohl ein geschulter methodisch gefestigter Blick ein großer Vorteil bei der Kontextualisierung der Vergangenheit ist, kann eine allzu starre Eingrenzung auf eine Disziplin bei der Betrachtung der Verfasstheit problematisch sein, eben weil sie, wie Luhman es fasst, strukturell Recht und Politik miteinander „koppelt“.5 Betrachtet man Verfassungstexte etwa nur ausgehend von ihrer textlichen Form, geraten die Akteure und historischen Aushandlungsprozesse aus dem Blick, die sich geradezu dazu anbieten, epochenübergreifend und interdisziplinär von der (Rechts)-Geschichte, aber auch von der Kultur-, der Politik- und der Kunstgeschichte analysiert zu werden. Im Verlauf des Workshops wurden die mit der Verfassungsbildung verbundenen Prozesse aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert, wobei die Begriffsebene großen Raum einnahm. Aber auch die gesellschaftlichen Ebenen, auf denen Dynamiken der Verfassungsbildung stattfinden können, waren Teil der Diskussion, ebenso wie die Autoritäts- und Wirkungsfunktionalitäten von Verfasstheit.
Strukturiert wurde die Diskussion durch kurze Impulsvorträge, die einen Einblick in die verschiedenen Perspektiven der jeweiligen Disziplinen und Fächer auf (historische) Verfassungsbildung boten. Die Rechtsgeschichte mit Schwerpunkt auf dem Mittelalter vertrat Susanne Lepsius, während Christoph Schönberger als Vertreter des Staatsrechts und der Staatsphilosophie die Sicht der modernen Verfassungsforschung repräsentierte. Die mittelalterliche Kunstgeschichte vertrat Maria Theisen, Aloys Winterling die Alte Geschichte und Ewald Grothe (Wuppertal) die neuzeitliche Geschichte. Da die erste Verfassung des römisch-deutschen Reichs, die Goldene Bulle von 1356 den Ausgangspunkt bildete, war die mittelalterliche Geschichte mit Bernd Schneidmüller, Thomas Wetzstein, Christina Abel und Eva Schlotheuber breit vertreten, wobei letztere die rege Diskussion als Veranstalterin moderierte.
BERND SCHNEIDMÜLLER (Heidelberg) hinterfragte gleich zu Beginn den Begriff der „Verfassung“ für vormoderne Verhältnisse, und trat stattdessen für ihre Bezeichnung ‚Ordnungskonfiguration‘ ein. Der Grund für seine entschiedene Ablehnung des Verfassungsbegriffs und der Verfassungsgeschichte für mittelalterliche Verhältnisse sind dabei geschichtstheoretischer Natur: So sei allgemeiner Konsens, dass Verfassung „Ordnung für eine unsichere Zukunft" schaffe. Verfassungsgeschichte hingegen, „ordne (...) sich dagegen eine sichere Vergangenheit". Er schlägt den Begriff der 'politischen Ordnung' anstatt 'Verfassung' vor, um die Konnotationen des modernen Verfassungsbegriffs für fluide Entwicklungen zu öffnen. Dabei sei die vorrangige Aufgabe der Geschichtswissenschaft die verfassungsgebenden Ereignisse und die damit verbundenen Phänomene zu strukturieren. Eva Schlotheuber votierte für den ebenfalls eingeführten Begriff der 'Verfasstheit', der gegenüber dem breiten Begriff der Ordnung mehr Differenzierungskraft besitzt und ungeschriebene und verschriftliche ‚Verfassungen‘ einschließt. Aufgrund der von Bernd Schneidmüller in seinem Vortrag skizzierten Problematik des Verfassungsbegriffs wird auch in diesem Bericht im Folgenden der Begriff der 'Verfasstheit' benutzt.
Auch ALOYS WINTERLING (Berlin) kritisierte in seinem Vortrag den Begriff der Verfassung, der als Analysebegriff aus dem 19. Jahrhundert stamme, ebenso wie die Übertragung des damaligen Ideals der Verfassung auf die antiken Gesellschaften, etwa der Römer und Griechen. In seinem Vortrag mit dem eingänglichen Titel "Hatten die Alten Griechen und Römer "Verfassungen" - oder waren sie welche?" warnte er vor allem vor der Projektion eines modernen Verfassungsbegriffs auf die Alte Geschichte und daraus folgenden historischen Anachronismen, die auch dem Diskurs über Verfasstheit weder für die Alte Geschichte noch heute weiterhelfen. Auf Bernd Schneidmüllers Einwurf, dass Zeiten und Phänomene aber dennoch strukturiert werden müssen, um sie verstehen zu können, schlug Eva Schlotheuber vor, dass man den Blick zunächst auf die Phänomene und Prozesse richten sollte, die Dynamiken der Verfasstheitsbildung aufweisen und dann über die Epochen hinweg im Vergleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede analysieren kann, um eine geeignete und trennscharfe Begrifflichkeit zu finden.
SUSANNE LEPSIUS (München) eröffnete durch ihren Vortrag neben der Begriffsebene auch die Ebene des Rechts im zeitgenössischen Diskurs. Sie sieht für das Spätmittelalter, und vor allem den oberitalienischen Raum, eine Aushandlung von verfasstheitsbildenden Machtkonflikten auf dem Gebiet des gelehrten Rechts. Dabei traten die Juristen als eine neue und essenzielle Akteursgruppe auf. Nach Lepsius nahmen gelehrte Juristen die Funktion von Ratgebern in machtpolitischen Prozessen ein, die insbesondere in der Zeit des Interregnums durch juristische Gutachten die rechtlichen Kompetenzen z.B. von Papst und Kaiser (je nach Auftraggeber auch gegeneinander) ausloteten. Dadurch wurde der Konfliktraum für die „juridische Sachlogik“ geöffnet und das Recht zur Ebene der Aushandlung gegenseitiger Machtkompetenz und gleichsam abhängig von den Auftraggebern der Juristen auch zum Diskursraum. Durch die Ausbildung der Juristen sowohl im kanonischen als auch im römischen Recht wurde ein diskursiver juristischer Wissensraum konstruiert, auf Basis dessen verfassungsrechtliche Prozesse vorangetrieben und durchaus Entscheidungen getroffen wurden.
Auch THOMAS WETZSTEIN (Eichstädt) zeigte mit seinem Impulsvortrag über Dante Alighieris (1265–1321) Monarchia mit der zeitgenössischen literarischen Verarbeitung zentraler Konflikte eine neue Ebene der Dynamik von ‚Verfasstheitsfindung‘ auf. Dante Alighieri formte als Jurist und Literat eigene Vorstellungen einer politischen Ordnung, die vor allem das Universalkaisertum als Lösung für die machtpolitischen Konflikte im Italien dieser Zeit sein sollte. Mit der literarischen Ebene, die Dante Alighieri mit seinem Entwurf für die Verfasstheitsfindung aufmacht, wird auch der Utopie- und Visionsgehalt der Diskussion über Ordnungsentwürfe deutlich. Thomas Wetzstein votierte folglich für die Literatur als unbedingt zu berücksichtigendes Feld der Verfasstheitsgeschichte. Ein interessanter Gedanke ist auch, dass literarische Entwürfe in diesem Kontext aufzeigen können, wie die Zeitgenossen das eigene Suchen nach einer ‚richtigen‘ politischen Ordnung einordneten und reflektierten.
Dass ein hoher Utopie- und Visionsgehalt in Prozessen zur Bildung von Verfasstheit auch in der Moderne zu finden ist, verdeutlichte EWALD GROTHE (Wuppertal) in seinem Vortrag, in dem er Parallelen zwischen vormoderner und moderner Verfasstheit, insb. mit Blick auf das Grundgesetz eröffnete und den Visionsgehalt im Grundgesetz an dem Aspekt der geforderten Gleichberechtigung von Mann und Frau aufzeigte, die erst nach dem Erlass des Grundgesetzes, nämlich in den 60er Jahren allmählich politisch durchgesetzt werden konnte.
CHRISTINE ABEL (Saarbrücken) eröffnete schließlich eine weitere Ebene, auf der sich Verfasstheitsbildung konkretisiert, nämlich, wie sie es formuliert: im Kleinen. Ähnlich wie Susanne Lepsius fokussiert sie auf das Recht und stellte die gut begründete These auf, dass Verfasstheitsbildung auch auf der Ebene der Aushandlung lokaler Machtkonflikte beispielsweise bei der Italienreise Kaiser Heinrichs VII. in Oberitalien ablief, die sich zunächst völlig unabhängig von den größeren Konflikten der Machtverteilung z.B. zwischen Kaiser und Papst entwickelten. Eva Schlotheuber schlussfolgerte, dass gleichzeitig sowohl diese aus örtlichen Auseinandersetzungen gespeisten Prozesse als auch die großen Konfliktlinien – durchaus auch gegenläufig – die historischen Konstellationen der Bildung von Verfasstheit formten, für deren Würdigung die ‚bottom up‘ und die ‚top down‘-Perspektiven miteinander verbunden werden müssen. Christoph Schönberger fasste es in der anschließenden intensiven Diskussion so, dass Grundgesetze und der aus ihnen gespeiste Diskurs als wichtige „Reflexionsschleifen“ für die eigene zeitgenössische Gesellschaft zu betrachten sind, die dem Aneignungs-, Umformungs- und Deutungsprozess der eigenen Verfasstheit Raum und Richtung verleiht.
MARIA THEISEN (Wien) richtete mit ihrem Vortrag den Blick auf die Kunst als Medium, Deutungshoheit in der Diskussion, um Verfasstheitsfindung und vor allem auch Verfasstheitsdurchsetzung zu gewinnen. Am Beispiel der der Illustrationen der goldenen Bulle Wenzels IV., die als künstlerische „Paratexte“ des Königs und seines Kreises zum ersten Grundgesetz seines Vaters verstanden werden können, aber auch der öffentlichen visuellen Herrschaftskommunikation im Prag dieser Zeit – etwa an öffentlichen Gebäuden– zeigte sie auf, auf welchen vielfältigen Weisen Verfasstheit und Herrschaftsanspruch im öffentlichen Raum symbolisch kommuniziert werden konnte. So wirkte die goldene Bulle Wenzels IV. – eine reich illuminierte Prachtausgabe – als materielle Herrschafts- und Verfasstheitskommunikation mit ebenso materialisiertem Gültigkeitsanspruch. Gleichzeitig zeigte Maria Theisen auf, wie wichtig es ist, die Kunstgeschichte und damit die visuelle Komponente von Herrschaft auch im Feld der Verfassungsgeschichte zu berücksichtigen, die meist vor allem politikhistorisch betrachtet werden.
Daran anschließend fokussierte CHRISTOPH SCHÖNBERGER (Köln) als Abschluss vor allem die Ebene der Durchsetzung der Legitimation und Gültigkeit von Verfasstheiten im öffentlichen und politisch übergreifenden Raum. Er zeigte Kontinuitäten zwischen vormoderner und moderner Verfasstheitsrepräsentation für die Öffentlichkeit auf, die sich vor allem in politischen Ritualen und performativen Symbolen zeigt, die die Verfasstheit und die damit einhergehende politische Ordnung in das Bewusstsein der Menschen tragen sollen.
Betrachtet man Verfasstheitsgeschichte aus diesem epochenübergreifenden und interdisziplinären Blickwinkel wird schnell klar, dass es kultur- und ideengeschichtliche Ansätze aber auch die rechts- und politikhistorische Perspektive braucht, um Verfasstheit sowohl in der Vormoderne als auch in der Moderne tiefgreifender verstehen und kontextualisieren zu können. Die Untersuchung von Verfasstheit und verfassungsbildender Prozesse birgt dabei auch großes Erkenntnispotential für die Betrachtung der Machtkonflikte innerhalb der regierenden Eliten, aber auch für die gesellschaftliche Entwicklung einer Exklusion und Inklusion von Akteuren und Personengruppen, erstens in den Prozess der Herrschaft und zweitens im Prozess der Verfassungsfindung selbst. Die Autoren denken, dass der interdisziplinäre Blick auf die Verfasstheit von Gesellschaften daher noch viel Erkenntnispotential für diese historischen gesellschaftsformierenden Prozesse bieten könnte.
Konferenzübersicht:
Eva Schlotheuber (Düsseldorf): Einführung: „Verfassung und Vision - oder wie entsteht Konsens in einer Gesellschaft?"
Susanne Lepsius (München): „Die Selbstbindung der spätmittelalterlichen Kaiser an das Recht – Zur Rolle von Rechtswissen und gelehrten Ratgebern für den Monarchen"
Aloys Winterling (Berlin): „Hatten die Alten Griechen und Römer „Verfassungen“ — oder waren sie welche? Kurze Thesen zur "Allelopoiese" von antiken aristokratischen politischen Organisationen und modernem Konstitutionalismus"
Ewald Grothe (Wuppertal): „Verfassungsgeschichte als Demokratiegeschichte"
Bernd Schneidmüller (Heidelberg): „Politische Ordnung: Repräsentation und Vision im Heiligen Römischen Reich des Mittelalters"
Maria Theisen (Wien): „Vision und Visualisierung von guter Herrschaft und richtiger Ordnung. Die Botschaft der illuminierten Codices König Wenzels IV."
Thomas Wetzstein (Eichstätt): „Dantes 'Monarchia' im Kontext – oder: Politik wird Utopie"
Christina Abel (Saarbrücken): „Großes entsteht immer im Kleinen. Die letzten Universalgesetze eines römisch-deutschen Kaisers"
Christoph Schönberger (Köln): „Verfassung als symbolische Ordnung und Ritual"
Abschlussdiskussion
Anmerkungen:
1 Ferdinand von Schirach, Jeder Mensch. München, 2021. S. 1-32.
2 Niklas Luhmann, Politische Verfassung um Kontext des Gesellschaftssystems, Teil 1. In: Der Staat, Heft 12,1 (1973). S. 1-22.
3 Heinrich August Winkler, Die Geschichte des Westens, Die Zeit der Gegenwart. München, 2015. S. 579-611.
4 Christian Waldhoff, Entstehung des Verfassungsgesetzes, in: Otto Depenheuer / Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, , Tübingen 2010, S. 290.
5 Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176–178.