Das wohl wichtigste Werkzeug des Menschen ist die Hand. Mit ihr begreift und gestaltet er seine Umgebung. Auch in der Medizingeschichte gewinnt die Beschäftigung mit der Hand zunehmend an Bedeutung. Bei der Jahrestagung des Vereins für Sozialgeschichte der Medizin standen daher Fragen nach spezifischen Handgriffen verschiedener Heilberufe, dem Gebrauch von Instrumenten und Inszenierungen der Hände im Fokus.
Der erste Tagungstag wurde im Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt abgehalten. SABINE SCHLEGELMILCH (Würzburg) ging in einem Impulsreferat den vielen Anknüpfungsmöglichkeiten von Hand, Handgriffen und Instrumenten für die Medizingeschichte nach. In einem weiten Bogen von der Antike bis zur Gegenwart beschrieb sie die Hand als zentrales diagnostisches und therapeutisches Werkzeug in den Heilberufen. Die Hand muss richtig gepflegt werden, um effektiv arbeiten zu können, und kann bei der Behandlung an ihre Grenzen stoßen, was die Entwicklung und Anwendung spezifischer Instrumente als Erweiterungen der Hand nötig macht.
Das erste Panel widmete sich den „schneidenden Händen“ der Chirurgen. MICHAEL STOLBERG (Würzburg) sprach über die bisher wenig beforschten fahrenden Bruch- und Steinschneider sowie Okulisten im Alten Reich (circa 1550–1750). Ihr Hauptarbeitsgebiet waren die drei großen Operationen Bruchschnitt, Starschnitt und die Entfernung von Blasensteinen, die nicht alle niedergelassenen Barbiere/Wundärzte beherrschten. Die lokalen Obrigkeiten bemühten sich zu überprüfen, ob die nicht in Zünften organisierten fahrenden Bruch- und Steinschneider ihre Handgriffe tatsächlich beherrschten, um Betrug zu verhindern. Dafür waren amtlich beglaubigte Testimonia über gelungene Operationen von zentraler Bedeutung, zum Teil aber auch Begutachtungen durch die studierten Ärzte der Stadt, welche die Handgriffe der Bruch- und Steinschneider jedoch häufig selbst kaum beurteilen konnten.
TILLMANN TAAPE (Berlin) beschrieb am Beispiel Straßburgs den Versuch, in frühen Drucken Chirurgie als ehrbares Handwerk in der freien Reichsstadt zu verankern. Er stützte sich auf die beiden Werke „Buch der Chirurgia“ (1497) von Hieronymus Brunschwig sowie „Feldbuoch der Wundartzney“ (1517) von Hans von Gersdorff. Im 15. Jahrhundert hatten die Wundärzte im Sozialgefüge Straßburgs keinen hohen Stellenwert. Taape argumentierte, dass Brunschwig und Gersdorff gegen diese Stigmatisierung anschrieben, indem sie dem Chirurgen als kundigen Inspektor bei der Siechenschau und als gerichtlichen Wundenbeseher eine wichtige Rolle für die ordentliche Administration der Stadt zusprachen.
LEO WEIß (Bochum) untersuchte die Handgriffe indischer Heilkundiger des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diese wurden von britischen Kolonialärzten „Okulisten“ genannt, wobei es sich um eine westliche Bezeichnung handelte, die auf den indischen Kontext übertragen wurde. Die Quellenlage zu den Okulisten ist schwierig, da sie vor allem auf der kolonial geprägten Berichterstattung des „Indian Medical Service“ basiert. Diese bezog sich hauptsächlich auf den Starstich und stellte ihn als den europäischen Behandlungsmethoden unterlegen dar. In Ergänzung zu diesen schriftlichen Quellen wählte Weiß einen objektbezogenen Zugang. Er stützte sich auf Okulisten zugeschriebene Instrumentensets aus Großbritannien sowie ein Set, das am Karl-Sudhoff-Institut in Leipzig aufbewahrt wird.
Im zweiten Panel der Tagung ging es um die Hand als Bildgeberin. HENRIK EßLER (Hamburg) widmete sich dem Modellieren und Gestalten als wissenschaftlicher und didaktischer Methode in der Medizin. Am Beispiel des Hamburger Anatomen Johannes Brodersen (1878–1970) zeigte er auf, wie Medizinstudierende mit Modellierkursen bewusst sehen lernen sollten. Ab dem Wintersemester 1925/26 sollten die Studierenden in solchen Kursen durch das Zusammenspiel von Auge und Hand anatomische Strukturen aus Ton nachbilden. Brodersens Ansatz war nicht unumstritten, fand jedoch – wie beispielsweise an der Universität Innsbruck – vereinzelt auch Nachahmer. Im Curriculum der medizinischen Lehre hat er sich jedoch nicht dauerhaft durchgesetzt.
Zwei Vorträge nahmen am Beispiel des Wiener Radiologen Guido Holzknecht (1872–1931) die Rolle der Hände für die frühe Radiologie in den Blick. CHRISTIAN VOGEL (Magdeburg) beschäftigte sich mit der Praxis und dem visuellen Auftritt des Handgebrauchs der ersten Röntgenärztegeneration. Ausgehend von Holzknechts Händen arbeitete er drei kollektive Selbstdarstellungen früher Radiologen heraus. In den Anfangsjahren, als die Bedienung der Röntgenapparate Erfahrung und manuelle Geschicklichkeit der Radiologen erforderte, inszenierten sie sich vor allem als Röntgenpraktiker, die versiert im Umgang mit den mitunter eigenwilligen technischen Apparaten waren. Als seit 1913 die Bedienung der Röntgenapparate einfacher wurde, wandelte sich die Inszenierung hin zum Röntgenmanager. Die nun wenig prestigeträchtige Bildproduktion wurde Aufgabe der Röntgenschwester, während die geistige Arbeit der Bildinterpretation Aufgabe des Radiologen blieb. Die dritte Form der Selbstdarstellung war die des kranken Radiologen, der sich für die Wissenschaft geopfert hatte, was auf die Inszenierung der durch die Strahlenanwendung geschädigten Hände verdichtet wurde.
MONIKA ANKELE (Berlin) konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die rechte Hand des Guido Holzknecht. Gestützt auf die Analyse von Fotografien und anderen visuellen Dokumenten unterschied sie zwischen der tätigen Hand, der privaten Hand sowie vor allem der erkrankten und medial inszenierten Hand des Radiologen. Die erkrankte Hand forscht nicht mehr selbst, sondern wird beforscht. Röntgenaufnahmen von Holzknechts Händen und seine 1931 amputierte rechte Hand, die er der pathologischen Sammlung der Universität Wien übergab, zeigen den Wechsel vom Arzt zum Patienten an. Mediale Resonanz erfuhr die Hand Holzknechts vor allem nach der Amputation. Stark inszenierte Bilder des Rekonvaleszenten sollten seinen ungebrochenen Arbeitseifer zeigen und das Opfer hervorheben, das er für die Wissenschaft erbracht hatte.
Das dritte Panel beschäftigte sich mit der lesenden beziehungsweise auch der „gelesenen“ Hand. MARIE-THERESE FEIST (München/Nürnberg) setzte sich mit dem Händelesen auseinander. Am Beispiel der Ärztin und Chiromantin Charlotte Wolff (1897–1986), die als deutsch-jüdische Immigrantin in Paris und London tätig war, zeichnete Feist die Versuche hin zu einer verwissenschaftlichten psychologischen Handdeutung nach. Wolff nahm neben privaten Konsultationen auch Reihenuntersuchungen in Schulen, Universitäten, Psychiatrien und anderen Einrichtungen vor, um den Zusammenhang von Handabdrücken und psychischen Erkrankungen systematisch zu erforschen.
PIERRE PFÜTSCH (Stuttgart) widmete sich blinden Masseur:innen in der BRD, für die der Tastsinn und damit auch die Hand eine besondere Rolle spielte, und fragte vor diesem Hintergrund danach, wie man die Perspektive der disability history für die eigene Forschung fruchtbar machen kann. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Verhältnis von Masseur:innen und Krankengymnast:innen mehrfach neu ausgehandelt, wobei sich die Gruppe der blinden Masseur:innen stärker organisieren musste. Pfütsch führte aus, wie sich blinde Masseur:innen dabei zunehmend etablieren konnten, durch aktuelle Bestrebungen zur Akademisierung aber wieder von einem Ausschluss bedroht sind.
Auch der Beitrag von LARS BÖLSCHER (Magdeburg) handelte von dem Berufsbild der Masseur:innen, Krankengymnast:innen und Physiotherapeut:innen, deren wichtigstes Arbeitswerkzeug die Hand ist. Bölscher analysierte Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Ausbildungszweige. Dafür unterteilte er die Ausbildungsinhalte in Grundlagenfächer, aktive Techniken, welche die Patient:innen selbst durchführten, und passive Techniken, welche die Patient:innen nicht selbst umsetzten. Bölscher zeigte auf, dass nur die Ausbildung der Krankengymnast:innen alle aktiven Techniken umfasste. Dies sei der Grund, warum die Masseur:innen die seit 1994 vereinheitlichte Berufsbezeichnung „Physiotherapeut:in“ nur mit einer Zusatzausbildung führen dürfen.
Den Abschluss des ersten Tagungstages bildete ein öffentlicher Abendvortrag im Bayerischen Armeemuseum. THOMAS SCHNALKE (Berlin) sprach zur Ikonographie der Hand. Von antiken Votivgaben und Weihereliefs über anatomische Zeichnungen Leonardo Da Vincis und Andreas Vesals bis hin zu anatomischen Wachsmodellen und Moulagen betrachtete er streiflichtartig die Hand im medizinischen Bild und Modell.
Der zweite Tagungstag fand im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (GNM) statt. MARION RUISINGER (Ingolstadt) stellte das einstige „Medico-historische Cabinet“ im GNM vor. Im Jahr 1902 hatte es anlässlich der 50-Jahrfeier des GNM den Aufruf gegeben, einen Ort zu schaffen, wo die Geschichte der Medizin gegenständlich studiert werden könne. Dank Buch-, Geld- und Sachspenden entstand so eine „Sammlung von Denkmälern der Heilkunde“. Ein kleiner Teil dieser Sammlung wird heute in der Dauerausstellung des GNM gezeigt, der größte Teil befindet sich jedoch im Depot. Die Sammlung ist noch nicht vollständig erschlossen und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschungsprojekte.
ELENA TADDEI (Innsbruck) sprach über Handgriffe, Techniken und Instrumente der Vakzination. Sie führte aus, wie die Handgriffe und Instrumente der Vakzination eine möglichst schmerzfreie Behandlung ermöglichen sollten. Auf diese Weise sollten Unsicherheiten und Ängste gegenüber der Vakzination, bei der tierische Lymphe in den menschlichen Körper eingebracht wurde, abgemildert werden. Die impfende Hand musste eine ärztliche Hand sein, damit die Impfung nicht durch Pfuscherei in Verruf geriet. Zudem zeigte sich die erfahrene Hand nicht nur beim Impfakt, sondern vor allem im Rahmen der Gewinnung, Haltbarmachung und dem Transport der Lymphe. Auch hierfür etablierten sich spezifische Instrumente und Handgriffe.
Im Anschluss präsentierte SUSANNE THÜRIGEN (Nürnberg) einige Objekte aus der Teilsammlung „Medizinische Instrumente“. Den Fokus legte sie auf Impfinstrumente. Es folgte ein von ihr moderierter Besuch der Ausstellung „Handwerk und Medizin“.
Bei der Schlussdiskussion hob SABINE SCHLEGELMILCH (Würzburg) noch einmal die große Bandbreite an Themen hervor, die durch die Tagung eröffnet wurden. Ein Teil der Beiträge habe einen starken Fokus auf die Hand gelegt, während andere eher Kontexte eröffneten und Grundlagen für weitere Forschung schufen. Schlegelmilch identifizierte drei Konstanten, die sich durch die gesamte Tagung zogen: Die Hand wurde erstens als distinktives Zeichen von Professionen sichtbar, es zeigte sich zweitens der Übergang von der Hand als Akteurin zu der Hand als untersuchtem Objekt und drittens rückten Instrumente als Verlängerung sowie Ergänzung der Hand in den Blick.
Konferenzübersicht:
Impulsreferat
Sabine Schlegelmilch (Würzburg): Handgriffe. Zur Bedeutung von Hand und Werkzeug für die Heilberufe
Panel I: Schneidende Hände
Michael Stolberg (Würzburg): Eine „freye Kunst“ und ihre „Handgriff“. Die fahrenden Bruch- und Steinschneider und Okulisten im Alten Reich (ca. 1550–1750)
Tillmann Taape (Berlin): Chirurgie als Hand-Werk im Druck und in der freien Reichsstadt
Leo Weiß (Bochum): Handgriffe indischer Heilkundiger im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Panel II: Bildgebende Hände
Henrik Eßler (Hamburg): „Hohe Disziplin der Hand und des Auges“: Modellieren und Gestalten als wissenschaftliche und didaktische Methode in der Medizin
Christian Vogel (Magdeburg): Holzknechts Hände. Praxis und visueller Auftritt des Handgebrauchs der ersten Röntgengeneration
Monika Ankele (Berlin): Die rechte Hand des Guido Holzknecht. Zur Bedeutung der Hand und ihrer öffentlichen Resonanz in den Anfangsjahren der Röntgenologie
Panel III: Lesende Hände
Marie-Therese Feist (München/Nürnberg): Gedruckte Hände. Handabdrücke zwischen Annäherung, Dokumentation und Porträt
Pierre Pfütsch (Stuttgart): Sehende Hände? Zur engen Verbindung von Blindheit und Massage
Lars Bölscher (Magdeburg): Die deutsch-deutsche Wiedervereinigung und das Berufsbild der Physiotherapie (1980er- und 1990er-Jahre)
Abendvortrag im Bayerischen Armeemuseum
Thomas Schnalke (Berlin): Hand im Spiel. Über medizinische Bilder und Modelle eines besonderen Körperteils
Marion Ruisinger (Ingolstadt): Das „Medico-historische Cabinet“ im GNM
Panel IV: Greifende Hände
Elena Taddei (Innsbruck): „Eben so schädlich war der Handgriff, wo man durch die aufgehobene Haut eine Nadel mit einem vergifteten Faden zog.“ Handgriffe, Techniken und Instrumente der Vakzination
Susanne Thürigen (Nürnberg): Hands-on. Schätze aus der Teilsammlung „Medizinische Instrumente“
Panel V: Schlussdiskussion
Sabine Schlegelmilch (Würzburg): Zusammenfassung