Sexuelle Gewalt an Minderjährigen und Schutzbedürftigen

Sexuelle Gewalt an Minderjährigen und Schutzbedürftigen. Die Frage nach dem katholischen Spezifikum

Organisatoren
Arbeitskreis Missbrauchsforschung in der Kommission für Zeitgeschichte e.V., Bonn
PLZ
53175
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
10.07.2024 - 12.07.2024
Von
Nils Peterson, Historisches Seminar, Rheinische-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Das Thema Missbrauch ist seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten in Deutschland im Fokus öffentlicher Debatten, in deren Mittelpunkt vor allem die katholische Kirche steht. Die Tatsache, dass auch andere gesellschaftliche Bereiche und Institutionen betroffen sind, wie etwa die evangelischen Kirchen oder der Sport, provoziert die Frage nach dem spezifisch Katholischen in der Missbrauchsproblematik. Wichtige Fragestellungen, wie ihre Einordnung in die allgemeine Geschichte der Gewalt in der bundesdeutschen Gesellschaft nach 1945, kommen dabei zu kurz. Dabei ist Missbrauch von Minderjährigen und Schutzbedürftigen wie von Erwachsenen tatsächlich ein verbreitetes Phänomen, das sich sowohl hinsichtlich der Beschuldigten als auch der Betroffenen natürlich nicht auf den Bereich der katholischen Kirche beschränken lässt.

Ungeachtet dessen fand Missbrauch von Minderjährigen und Schutzbefohlenen jedoch zweifellos in erschreckendem Ausmaß im Bereich der katholischen Kirche statt. Daher ist es sinnvoll in diesem Zusammenhang nach dem katholischen Spezifikum zu fragen. Dies zu ergründen, hat sich die Bonner Tagung der Kommission für Zeitgeschichte e.V. mittels überwiegend vergleichend angelegter Referate zum Ziel gesetzt. Dabei standen die Handlungsspielräume einzelner Akteurinnen und Akteure im Mittelpunkt, die vor dem Hintergrund systemischer Zusammenhänge betrachtet wurden. Eine besondere Rolle im Zusammenhang mit dem Thema Missbrauch nimmt auch die Frage nach der Familie beziehungsweise der familialen Struktur gesellschaftlicher Gruppen ein, wie Nicole Priesching und Frank Kleinehagenbrock als Organisatoren der Tagung eingangs betonten.

KATRIN WAHNSCHAFFE-WALDHOFF (Köln) stützte ihren Vortrag auf die Aufarbeitungsstudie zum Sport, die in den Jahren 2020–2022 entstanden ist. Dabei stellte sie organisationsanalytische Aspekte in den Fokus. Sportvereine und Teams könnten wie eine Zweitfamilie sein, gekennzeichnet durch enge soziale Bindungen und eine verbindende Wettkampfkultur, in denen Tatpersonen in der Regel ein hohes Ansehen genössen. Dies ist auch vor dem Hintergrund der allgemein großen Wertschätzung des Ehrenamtes zu sehen. Neben die sozialen und organisationsstrukturellen Rahmenbedingungen träten im Feld des Sports oftmals familienähnliche emotionale und personale Bindungen als tatfördernd hinzu. Zwischen Tatperson und Betroffenen bestand in der Regel ein enges Vertrauensverhältnis, wobei diese durch besondere Zuwendung in emotionale Abhängigkeit vom Täter gebracht und schließlich auch räumlich isoliert wurden.

Auch NICOLE PRIESCHING (Paderborn) wandte sich der Familialisierung in der Organisation Kirche zu. Anhand von Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils zeigte sie, wie die Metaphern „Vater“, „Sohn“ und „Bruder“ verwendet wurden, um Beziehungen zwischen Bischöfen, Priestern und Laien auszudrücken, wobei die Bildsprache zahlreiche Bildbrüche aufweist. Mit Rückgriff auf die Organisationstheorie des Soziologen Stefan Kühl führte sie aus, dass diese Bildsprache zur „Schauseite“ der Organisation gehört, die wenig über die realen Beziehungen zwischen Bischöfen, Priestern und Laien aussagt. Sie haben vielmehr die Funktion, unterschiedliche Erwartungshaltungen an die Kirche zu verdecken. Dies sei kein spezifisches Phänomen der Kirche. Anhand eines Fallbeispiels suchte sie schließlich nach Erklärungsmöglichkeiten für einen spezifisch katholischen Umgang mit Beschuldigten. Dabei problematisierte sie die Doppelrolle bei Führungskräften, Entscheider und Seelsorger zugleich zu sein.

Hier knüpfte ROSEL OEHMEN-VIEREGGE (Paderborn) an, die die Rolle der Oberin bei den katholischen Frauenorden analysierte. Diese sei ebenfalls mit einem familialen Konzept zu umschreiben und folge dem Leitmotiv der geistigen Mutterschaft, zumindest bis in die 1970er-Jahre. Dann sei nicht zuletzt unter dem Einfluss des Zweiten Vatikanischen Konzils ein Wandel eingetreten, in dem aus vormundschaftlicher Fürsorge eine eher anwaltliche geworden sei. Nach dem Jahr 2000 gab es kritische Diskussionen über Paternalismus und Maternalismus beziehungsweise überzogene Gehorsamsformen, die einem Familienbild des 19. Jahrhunderts entsprochen, aber auch noch im Ordensrecht des Codex Iuris Canonici Niederschlag gefunden hätten. Im Ergebnis sei auf dysfunktionale Asymmetrien in den Ordenstrukturen als katholisches Spezifikum aufmerksam zu machen.

SAFIYE TOZDAN (Hamburg) verwies darauf, dass auch Frauen Täterinnen im Bereich des Missbrauchs Minderjähriger und Schutzbedürftiger sind, wobei von einem großen Dunkelfeld auszugehen sei. In den USA seien 20 Prozent der Verurteilten Täterinnen, 26 Prozent der betroffenen Jungen gäben Frauen als Täterinnen an. Im Vergleich zu männlichen Tätern sei die Datenbasis hingegen sehr dünn. Täterinnen seien bei der Ersttat in der Regel relativ jung. Die Taten geschähen meistens in einem ohnehin eher gewalttätigen Familienumfeld. Sie resümierte, dass Frauen grundsätzlich nicht anders missbrauchten als Männer, wobei Einzeltäterinnen eine Präferenz für Jungen zeigten, jedoch als Mittäterinnen von männlichen Haupttätern vor allem Mädchen betroffen seien. Weibliche Geschlechterstereotype verhinderten die Aufklärung oder trügen zur Verharmlosung des Geschehens bei. Zudem läge bei den Betroffenen die Schamgrenze oft höher.

LENA HAASE (Trier) stellte die Frage, ob überhaupt Tätertypologien identifiziert werden könnten. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen zur Diözese Trier ständen durchaus im Widerspruch zu kriminologischen Typologiesierungen. Sie schlägt stattdessen vor, die Kategorien Geschlecht, Generation und Status (Laien/Priester) stark zu machen. Dies begründete sie damit, dass im Bereich der katholischen Kirche vor allem männliche Betroffene sexueller Gewalt anzutreffen sind und bei den Tätern die Rolle der in den 1940er- und 1950er-Jahren Geborenen auffallend ist. Ab dem Weihejahrgang 1980 nehme die Anzahl von beschuldigten Priestern ab. Vor diesem Hintergrund ist nach der Krise des Priesterbildes infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils zu fragen, aber auch nach allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen. Dabei spielten in der Nachkriegszeit im katholischen Bereich das Bewusstsein von den NS-Sittlichkeitsprozessen sowie nach 1990 ein liberalerer Umgang mit Sexualität und die daraus resultierende erhöhte Sprechfähigkeit darüber eine wichtige Rolle für die Meldung von Taten.

THOMAS GROßBÖLTING (Hamburg) stellte mit Blick auf die zu Beginn des Jahres 2024 veröffentlichte FORUM-Studie heraus, dass auch Protestanten nicht anders missbrauchten als Katholiken und im Lichte dieser Studie die Bedeutung von Zölibat und Hierarchie in der Missbrauchsdebatte überschätzt würden. Dagegen betonte er die Pastoralmacht, die in beiden Konfessionen die Täterschaft von Geistlichen befördert habe. Die Opfer ihrer Gewalt seien tiefgläubige Kinder und Jugendliche. Die vermeintliche Gottesnähe der Geistlichen ermögliche (Macht-)Missbrauch. Dabei seien im protestantischen Bereich weitere Bedingungen festzustellen. Das protestantische Pfarrhaus mit dem Pfarrer als Hausvater idealisiere seit dem 19. Jahrhundert Ehe- und Familienleben in vorbildlicher Weise. Dieses verändere sich jedoch infolge von Liberalisierungsprozessen seit den 1960er-Jahren. Gleichwohl sei das protestantische Binnenklima für Betroffene fatal, weil Taten noch schwerer thematisiert werden könnten. Zudem fehle die nötige Kontrolle seitens der Kirchenleitungen. So verwies er abschließend mit Reiner Anselm auf „toxische“ Traditionen in beiden Konfessionen.

Zum internationalen Vergleich wurden Aufarbeitungsprozesse in Portugal, Spanien und der Schweiz herangezogen. JÚLIA GARRAIO (Coimbra) berichtete, dass in Portugal die Diskussion über sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche durch Aufarbeitungsprozesse in anderen Ländern in Gang gesetzt wurde. Erst sehr spät, nämlich 2021, wurde eine unabhängige Aufarbeitungskommission eingesetzt. In der in diesem Zusammenhang entstandenen Studie für den Zeitraum von 1950–2022 sei lediglich die Spitze des Eisberges erkennbar geworden. Das Dunkelfeld bleibe mangels Anzeigen und aufgrund fehlender Dokumente groß. Zu bedenken sei, dass der Untersuchungszeitraum Diktatur, Kolonialkriege, Revolution und Demokratisierungsprozess umfasste. Der Missbrauch sei von Kirchenvertretern vor allem als moralisches Problem wahrgenommen und das Sprechen darüber unterdrückt worden, zudem habe lange ein Klima der Einschüchterung bestanden. Erst die nach 2000 von Rom eingeführten Richtlinien hätten Veränderungen herbeigeführt, insbesondere die Null-Toleranz-Politik von Papst Franziskus. Interessanterweise habe nach Veröffentlichung des Berichts eine intensive öffentliche Diskussion der Thematik in Portugal nur wenige Wochen angedauert.

MAGDA KASPAR (Zürich) und LUCAS FEDERER (Zürich) bezogen sich in ihren Ausführungen über die Schweiz auf die im September 2023 veröffentlichte Pilotstudie. Sie versteht sich als Auftakt zu weiteren Forschungen und bezieht die katholische Kirche in dem gesamten Land ein. Für die Forschenden habe es freien Zugang zu allen relevanten Archiven gegeben. Trotz Kenntnis einer Vielzahl von Fällen während des Untersuchungszeitraums sei auch in der Schweiz das kirchliche Strafrecht kaum angewandt worden und der Schutz von Kirche und Tätern sowie anderen Verantwortungsträgern habe im Vordergrund gestanden, nicht jedoch die Verantwortung für die Betroffenen. Diese Resultate hätten eine Diskussion über Reformen in der Kirche und auch das Verhältnis von Kirche und Staat in der Schweiz hervorgerufen. Diesbezüglich habe die Studie gezeigt, dass das dort existierende duale System zwar Pfarreien und Kirchengemeinden stärke, doch deren Funktion als Kontrollinstanzen nicht immer funktioniert habe, was wiederum auf den Umgang mit dem Thema Missbrauch in der gesamten Gesellschaft verweise.

JAVIER CREMADES (Madrid) führte für Spanien aus, dass erst eine Untersuchung der Tageszeitung „El Pais“ zu einer breiteren gesellschaftlichen Debatte über das Thema Missbrauch in der katholischen Kirche geführt habe. Daraufhin hätte es unterschiedliche Akteure bei der Aufarbeitung gegeben. Dazu zählten das Parlament, das eine Untersuchungskommission eingerichtet habe, die Regierung, die einen Ombudsmann beauftragt habe sowie die spanische Bischofskonferenz, die auf öffentlichen Druck hin eine interne Kommission gegründet habe. Aufgrund von Konflikten habe die innerkirchliche Untersuchung zwei Berichte hervorgebracht, die aber auf nur beschränktem Archivzugang beruhten. Insgesamt habe der staatliche Druck die Abwehrbereitschaft auf Seiten der Kirche erhöht, womit die Beschäftigung mit der Missbrauchsproblematik in der katholischen Kirche in Spanien politische und gesellschaftliche Spannungen widerspiegele.

PETER CASPARI (München) beschäftigte sich vor dem Hintergrund der Missbrauchsproblematik mit der Pädagogik im Kontext katholischer Schulen und Kinderheime. Er verwies darauf, dass der Werdegang von Geistlichen in der Regel von Entwicklungsmoratorien gekennzeichnet sei, was keine gute Voraussetzung für erzieherische Tätigkeit sei. Zudem seien viele katholische Kinderheime und Internate von einer nicht einbettenden Institutionskultur geprägt gewesen. Abhärtung, ein hermetischer Sozialisationsraum, Selektion nach Leistung anstelle von Förderung sowie ein instrumenteller Liebesbegriff führten zu einer weitgehenden Fremdbestimmung von Kindern und Jugendlichen. Hinzu träte eine mangelhafte interne Kommunikation, die durchaus auf die Fragmentierung der Institutionen und damit auch der Gewaltsysteme verwiesen habe. Zu bedenken sei ferner, dass in früheren Jahren seitens der Eltern keine Bedenken gegen einen solchen Erziehungsstil vorgebracht worden seien. Zudem hätten Ringe des Schweigens im christlichen Sozialmilieu Aufklärung verhindert und Gefährdungsräume geschützt. Dabei sei körperliche und psychische Gewalt in Kinderheimen ausgeprägter gewesen als in Klosterinternaten. Spezifisch sei der hohe Anteil männlicher Betroffener für den katholischen Kontext. Hinsichtlich der Aufarbeitung wiege dies besonders schwer. Vor dem religiösen Hintergrund seien Schamvorstellungen oft besonders ausgeprägt, wozu auch die kulturelle Vermittlung von Männerbildern beitrüge. Zudem sei eine doppelte Externalisierung festzustellen: Die Kirche schiebe das Problem auf Einzeltäter, die Gesellschaft dieses wiederum auf die Kirche.

HANS-WALTER SCHMUHL (Bielefeld) konzentrierte sich auf Kinderheime und Einrichtungen für körperlich und geistig behinderte Menschen im Bereich der Diakonie. Er problematisierte, dass die Erforschung der Geschichte dieser Einrichtungen in Hinblick auf das Thema Missbrauch in der Regel Auftragsforschung sei. Die Ergebnisse dieser Forschung fasste er wie folgt zusammen: Sexualisierte Gewalt sei Teil der Subkultur der Gewalt und nicht von anderen Formen der Gewalt in diesen Einrichtungen zu trennen. Sexualisierte Gewalt habe im Kontext von Kinderheimen einen instrumentellen Charakter. Oftmals seien fachlich nicht ausreichend qualifizierte Personen mit ihrer Arbeit überfordert gewesen, insbesondere vor den Professionalisierungsprozessen seit den 1960er-Jahren. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in geschlossenen diakonischen Einrichtungen seien bis zum Wandel von 1968 selber in eine strenge Hierarchie eingebunden gewesen, die familienähnliche Strukturen angenommen habe. Sie hätten in der Erziehungsarbeit positiv konnotierte Organisationsziele verfolgt, die von der Dialektik von Zucht und Liebe geprägt sowie oftmals religiös überhöht gewesen seien. Die Schaffung familienähnlicher Strukturen in der pädagogischen Arbeit habe Grenzüberschreitungen begünstigt, zudem habe ein ambivalentes Verständnis von der Sexualität der Bewohnerinnen und Bewohner bestanden; zugleich sei ihre Körperlichkeit stigmatisiert und ein überwiegendes Schamgefühl anerzogen worden, was sie zu Opfern sexueller Gewalt prädestiniere. Diskussionen über die angewandten Praktiken habe es in der Regel nur bei Personalwechsel gegeben, eine institutionalisierte Kontrolle habe nicht stattgefunden, auch keine Präventionsmaßnahmen. Außerdem gehöre in dieses Themenfeld auch Gewalt zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern diakonischer Einrichtungen untereinander. Zu fragen sei auch nach dem Spannungsverhältnis zwischen freier christlicher Trägerschaft im Dienste von Diakonie und Caritas und der staatlichen Kontrolle solcher Einrichtungen.

MEIKE SOPHIE BADER (Hildesheim) sprach über die Aura von Befreiung, Emanzipation und Kritik am Generationenverhältnis. Sie thematisierte die wissenschaftliche Legitimation von Pädosexualität und sexualisierter Gewalt im Schatten der Emanzipation seit den 1960er-Jahren. In den 1970er-Jahren habe es Kritik am deutschen Strafrecht gegeben, zudem sei in dieser Zeit ein Sagbarkeitsdiskurs geführt worden, der die Frage der vermeintlichen Einvernehmlichkeit von sexuellen Handlungen mit Kindern und Jugendlichen aufgriff. In der Pädagogik sei es dabei weniger um die Entkriminalisierung von Pädophilie als um das Recht des Kindes auf Sexualität gegangen, quasi als Muster von Gewaltlosigkeit. Es habe sich nicht um einen randständigen Diskurs gehandelt, sondern diese Debatte sei in der Mitte der Erziehungswissenschaft geführt worden. Die zu Grunde liegende Vorstellung sei gewesen, dass der liberale Umgang mit Sexualität zu Gewaltlosigkeit führe. Altersangaben bezüglich der Zulässigkeit von Sexualität seien vage gehalten worden. Auffälligerweise habe diese Debatte keine wissenschaftliche Kritik erfahren, auch wenn etwa die Ignoranz des Machtverhältnisses zwischen Erwachsenen und Kindern, die Bedürfnisse der Betroffenen selber sowie gesetzliche Altersgrenzen hätten kritisch diskutiert werden können. Einsprüche seien erst aus der Frauenbewegung gekommen, die dann auch zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt an Minderjährigen in pädagogischen Kontexten geführt hätten, prominent etwa in der Odenwaldschule. Doch nicht nur Schulen seien betroffen gewesen, auch die Unterbringung in Pflegestellen bei pädophilen Männern seit den 1960er-Jahren als Alternative zur Heimerziehung sei als Problem anzusprechen. Die Theorie pädagogischer Liebe, insbesondere die Nähe zu jugendlichen Randgruppen, die Kritik an der Heimerziehung, der hohe Wert persönlicher Beziehungen und die Forderung nach der Niederschwelligkeit von pädagogischen Einrichtungen hätten besondere Bedingungen für das Begehen von Taten schaffen können. Enttabuisierung und Emanzipation hätten Narrative geschaffen, die zur Verdeckung von Straftaten gedient hätten. Im Ergebnis müsse das bildungsbürgerliche Narrativ von der Reformpädagogik im Lichte der pädosexuellen Legitimationsdiskurse und im Vergleich der deutschen Entwicklungen mit anderen europäischen Ländern kritisch hinterfragt werden. Gleichsam müsse die Bedeutung feministischer Einsprüche und die Notwendigkeit mehrdimensionaler Gewaltmodelle betont werden.

NICOLE PRIESCHING (Paderborn) und FRANK KLEINEHAGENBROCK (Bonn) fassten für die Abschlussdiskussion zusammen, dass die Erforschung der Missbrauchsproblematik durch vergleichende Studien wesentlich vorangebracht werde. Übergreifend könnten Organisationsformen und familiale Strukturen als Begünstigungsfaktoren offengelegt werden, genauso wie das Verhältnis zwischen Strukturen und Akteuren. Verdeckungsstrategien müssten genauer analysiert und dabei vor allem in ihren sozialen Kontexten betrachtet werden. Ferner bedürfe es der Diskussion von Begrifflichkeiten, die im Zusammenhang mit der Missbrauchsproblematik in unterschiedlichen Studien immer wieder genutzt werden. Zu nennen wären Begriffe wie „Netzwerke“, „Tätersystem“, „Totale Institution“, „Pastoralmacht“ oder „Risikofaktoren“. Durch internationalen Vergleich gerieten unterschiedliche Modelle des Verhältnisses von Kirche mit ihren Wirkungen auf die Behandlung der Missbrauchsthematik in den Blick. Zur angemessenen Kontextualisierung gehöre ebenfalls die kritische Rezeption relevanter Diskurse, wie jene über die Heimreform der 1970er-Jahre, die Frauenbewegung der 1990er-Jahre, die Kirchenreformbewegungen, die Debatten über Homosexualität und Pädophilie sowie die Fachdiskurse in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Pädagogik, der Psychologie oder der Medizin.

Zu unterstreichen sei die Bedeutung zeithistorischer Forschung zum Thema sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und Schutzbefohlenen. Sie leiste die quellenbasierte und methodisch reflektierte Rekonstruktion von Ereignissen und Deutungen, sowie von Strukturen und Netzwerken und könne so das Handeln von Akteuren und Akteursgruppen kontextualisieren. Zu berücksichtigen sei vor allem, dass sich Gesellschaften in einem stetigen Wandlungsprozess befänden, den es auch kulturgeschichtlich nachzuzeichnen gelte.

Konferenzübersicht:

Täterschutz – Familiale Strukturen in Sport und Kirche

Moderation: Klaus Große-Kracht (Hamburg)

Kathrin Wahnschaffe-Waldhoff (Köln): Vertrautheit und Nähe im Sport und ihre Bedeutung für sexualisierte Gewalt

Nicole Priesching (Paderborn): Der Bischof als „Vater“ der Priesterfamilie

Die Rolle der „Mütter“

Moderation: Karin Orth (Freiburg)

Safiye Tozdan (Hamburg): Sexualisierte Gewalt gegen Kinder: Frauen als Täterinnen

Rosel Oehmen-Vieregge (Paderborn): Mutter Oberin – Gehorsamsanspruch und die Spiritualisierung des stillen Leidens

Tätertypen in den Kirchen – Priester und Pastoren/Pastorinnen (kath. und ev. Kirche)
Moderation: Dominik Burkard (Würzburg)

Lena Haase (Trier): Beschuldigte und Täter:innen im Bistum Trier. Zu den Perspektiven und Grenzen einer Typologisierung

Thomas Großbölting (Hamburg): Pastoralmacht und Machtmissbrauch: Evangelische Geistliche im Vergleich

Das Zusammenspiel von Staat und Kirchen im internationalen Vergleich

Moderation: Martin Pusch (München)

Julia Garraio (Coimbra): Sexueller Missbrauch von Kindern in der portugiesischen katholischen Kirche: Was die kirchlichen Archive über das Zusammenspiel von Staat und Kirche enthüllen

Magda Kaspar / Lucas Federer (Zürich): Zwischen Kooperation und Kontrolle: Die katholische Kirche und der Staat in der Schweiz

Javier Cremades (Madrid): Sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche in Spanien

Pädagogische Konzepte – Kirchliche Einrichtungen im konfessionellen Vergleich

Moderation: Uwe Kaminsky (Berlin)

Peter Caspari (München): Katholische Spezifika des Umgangs mit sexualisierter Gewalt – ein komprimierter Überblick über mehrere Aufarbeitungsprojekte

Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld): (Sexualisierte) Gewalt in Einrichtungen der Diakonie. Strukturelle Rahmenbedingungen, pädagogische Konzepte und der Umgang mit kognitiver Dissonanz

Kindheit und Jugend im Wandel (1950er bis 1980er Jahre)

Moderation: Sonja Matter (Bern)

Meike Sophia Baader (Hildesheim): Kindheit und Sexualität seit den 1960er Jahren in der Bundesrepublik. Diskurse, Konzepte, Kontroversen

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