Verspätung als ein omnipräsentes Phänomen unserer postmodernen Welt lädt dazu ein, einen Blick zurück in die Vormoderne zu werfen. Hatten die Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ein Zeitgefühl, das unserem ähnelt, oder gingen sie auf andere Art und Weise mit Zeitlichkeit um? Spielten Verspätungen eine Rolle in ihrem Leben und wenn ja, in welchen Facetten und Reaktionen schlägt sich dieses temporale Phänomen nieder? Welche Quellen geben überhaupt Aufschluss über Verspätungen in der Vormoderne? Mit diesen und weiteren Fragen zu einem Thema, das bisher in den Geschichtswissenschaften wenig Beachtung gefunden hat, befasste sich die interdisziplinäre und internationale Tagung in Siegen.
Einleitend schlug GIUSEPPE CUSA (Siegen) den Bogen aus der Gegenwart heraus ins Mittelalter und in die Frühneuzeit: Verspätung könne als eine anthropologische Konstante betrachtet werden, die mit Zeitordnungen und Zeitvorstellungen zusammenhänge. Sie stelle eine Diskrepanz zwischen der Erwartung, Planung und Vereinbarung eines Ereignisses sowie seiner tatsächlichen Realisierung dar. Verspätung finde sich in zahllosen Lebensbereichen wie dem Handels-, Vertrags- und Zahlungswesen, den Innen- wie Außenbeziehungen, Krieg und Diplomatie, ebenso in Korrespondenzen oder der Mobilität.
ALEXANDER DENZLER (Eichstätt-Ingolstadt) untersuchte den Zusammenhang von Mobilität, Zeitwahrnehmung und Materialität der Verkehrsinfrastruktur im 16. Jahrhundert mit Fokus auf das Nürnberger Umland. Dank dieser materiell-temporalen Perspektive ließen sich die Rolle von Planungsprozessen, technischen Fortschritten, Umwelteinflüssen und Instandhaltungskonstellationen ebenso erhellen wie spezifische Mobilitätsroutinen und -erwartungen, die sich etwa in erhaltenen Reiseberichten fassen lassen. Der Widrigkeiten des Reisens, nicht zuletzt des durchgängigen Bedarfs, die Verkehrsinfrastruktur auszubessern, sei man sich dereinst wohl bewusst gewesen, was das Interesse an einer dahin gehenden zeitimmanenten Verspätungstoleranz wecke, die es weiter zu untersuchen gilt.
THOMAS DORFNER (Aachen) fragte danach, wie Missionar:innen der Herrnhuter Brüdergemeine in Labrador mit Verspätungen von Briefen und anderweitigen Lieferungen durch das Missionsdepartment in Herrnhut umgingen. Mangels einer regulären Schiffsverbindung zwischen Labrador und London segelte nur einmal im Jahr ein Schiff mit Nachrichten und Instruktionen nach Übersee. Bisweilen verspäteten sich jedoch die Sendungen aus Herrnhut – weil die dortigen Leitungsgremien zu spät tagten und Beschlüsse fassten – und erreichten die britische Metropole nicht rechtzeitig. Die Verspätungen wurden in der internen Korrespondenz wiederholt angesprochen. Die mit der einjährigen Verspätung konfrontierten Missionar:innen auf Labrador zeigten indes eine große Verspätungstoleranz und verzichteten angesichts der Normgebungsprozesse der Herrnhuter auf eigenmächtige Handlungen und warteten geduldig auf den Posteingang.
CHRISTOPH MAUNTEL (Osnabrück) betrachtete, welche Bedeutung Reisende des 14. und 15. Jahrhunderts Aspekten der Zeitlichkeit beimaßen. Wesentlich für vormoderne Reisen sei nämlich nicht nur die Bewegung im Raum, sondern auch der bislang vernachlässigte Faktor „Zeit“. Der Pilger Felix Fabri lege in seinem Reisebericht zwar die Unwägbarkeiten bei der Mittelmeerpassage dar, beanstande die Verzögerungen aber nicht. Karl IV. terminierte 1377 seinen Besuch in Frankreich zunächst nicht und ließ den französischen König dann warten. Zentrales Beispiel war sodann die Brautreise Eleonores von Portugal 1451/52, deren Überfahrt von Portugal nach Italien deutlich länger dauerte als geplant und so die anvisierte Kaiserkrönung Friedrichs III. und Eleonores gefährdete. An den Schriften Nikolaus Lankmanns von Falkenstein und Enea Silvio Piccolominis konnte Mauntel unterschiedliche Erklärungen, Deutungen und Zuschreibungen jener Verspätungen aufzeigen.
MARGRET SCHARRER (Bern) hinterfragte eine operngeschichtliche Fortschrittserzählung, indem sie den bereits am Ende des 17. Jahrhunderts formulierten Vorwurf, die französische Oper sei – im Gegensatz zu der damals als stilbildend geltenden italienischen Oper – überholt, „verspätet“ und ein Kunstprodukt schlechter Güte. Dieses bereits früh von den Zeitgenossen etablierte Narrativ lässt sich von musikästhetischen Schiften bis zur privaten Korrespondenz nachverfolgen. Zwar finden sich Begriffe wie „verspätet“ nicht in den Texten, doch schwinge der Vorwurf einer kulturell bewerteten Verspätung in diesen Negativbewertungen eindeutig und durchweg mit. Überdies stellten die nicht mit Kritik sparenden musikdramatischen Werke des 18. Jahrhunderts Propagandainstrumente dar, weshalb in der vorwurfsvollen Zuschreibung, eine „verspätete“ Kunstform zu sein, nicht nur musikästhetische Urteile, sondern auch politische Standpunkte zum Ausdruck gekommen seien.
GIUSEPPE CUSA (Siegen) erörterte, welche Aspekte von Zeitlichkeit und Zeitverständnis sich an der Wende zum 7. Jahrhundert im Briefregister Gregors des Großen greifen lassen. Zahlreiche Schreiben seien durchsetzt mit temporalen Termini, die geradezu standardmäßige Formulierungen darstellten, mit denen der Papst zu Eile und Pünktlichkeit, also auch zur Vermeidung von Verzögerungen und Verspätungen mahnte. Trotz der Formelhaftigkeit könne so auf Zeitverständnis und -erwartungen an der römischen Kurie geschlossen werden. Überdies habe Gregor über tatsächliche Verspätungen geklagt oder sich auch – was aufgrund seiner Stellung zunächst verwundern mag – für eigene etwa durch anderweitige Verpflichtungen oder Krankheit eingetretene Säumnisse entschuldigte.
FLORIAN HARTMANN (Aachen) nahm Verspätung als Thema in Werken der Ars dictaminis in den Blick. Diese zu Lehrzwecken erfundenen Stilübungen offenbarten ein spezifisches Bewusstsein für die Übertretung und Nichteinhaltung vereinbarter Fristen, was sich in vorformulierten Textbausteinen zur Entschuldigung, aber auch Mahnung von Verspätungen und Verzögerungen in jeder Lebenslage niederschlug – zahlreiche Beispiele belegten dies. Die Vielzahl angetroffener Verspätungen in den Briefstellern verdeutliche, dass sie üblich gewesen seien. Verspätung galt, wie Hartmann ferner konstatierte, nicht nur als Defizit, sondern auch als Anlass zu Sorge oder gar Misstrauen; dem Verspäteten wurde ein Rechtfertigungszwang auferlegt.
CHRISTINA ABEL (Saarbrücken/Mainz) bewertete das Zeitmanagement Kaiser Heinrichs VII. bei der Planung seines Feldzugs gegen Robert I. von Sizilien-Neapel. Besonders ergiebig erwies sich die dichte Dokumentation der Gesandtschaftsreise der kaiserlichen Stellvertreter nach Norditalien, um Truppenkontingente für den geplanten Kriegszug einzufordern. Der bereits kurz vor Jahreswechsel und bis ins Frühjahr 1313 als Sammeltermin in Pisa angekündigte 1. Mai 1313 konnte indes nicht eingehalten werden. Die Gesandten sahen sich daher gezwungen, den Termin immer weiter nach hinten zu verlegen. Das Unvermögen, mögliche Störfaktoren einzubeziehen und genügend „Pufferzeit“ einzuplanen, sei letztlich der Grund für die Nichteinhaltung des anvisierten Termins gewesen, was man als klassischen Fehler modernen Zeitmanagements bezeichnen könne.
MARTIN CLAUSS (Chemnitz) präsentierte Überlegungen aus der Militärgeschichte. Kriegerische Handlungen bedurften der Koordination und Kommunikation, was Anlass zu Verzögerungen und Verspätungen geboten habe. Eingehend betrachtet wurden diesbezüglich die Logistik, die Strategie und die Taktik. Gerade in der konkreten Gewalthandlung hätten sich Fragen nach Rechtzeitigkeit und Angemessenheit gestellt. Zu unterscheiden seien Verspäten (Handlung), Verspätung (Zuschreibung) und Zuspätkommen. Der richtige Zeitpunkt sei indes weniger von tatsächlichen Absprachen als nachträglichen Deutungen abhängig; zur rechten Zeit kommt, wer den Kampf für sich entschieden hat, daher seien das richtige Timing des Siegers beziehungsweise das Verpassen des rechten Moments des Verlierers wirkmächtige Zuschreibungen.
RINO MODONUTTI (Padua) untersuchte anhand ausgewählter politischer und militärischer Darstellungen aus den ersten sieben Büchern von Albertino Mussatos De gestis Italicorum post Henricum septimum Cesarem, welchen Stellenwert der Paduaner Frühhumanist Verzögerungen und Verspätungen beimaß. Er stellte dabei Mussatos Konzept der fortuna in den Mittelpunkt und zwar hinsichtlich der Fähigkeit beziehungsweise des Unvermögens der Akteure, in der Politik wie im Krieg auf die jeweiligen Umstände zu reagieren und daraus rechtzeitig Schlüsse zu ziehen. Der Geschichtsschreiber habe weniger Verspätungen als solche problematisiert, sondern die Reaktionen der Akteure auf selbige. Das richtige oder falsche „Timing“ stelle folglich einen wesentlichen Marker in Mussatos Schicksalsverständnis dar.
EDWARD LOSS (Bologna) beleuchtete das Spionagewesen in Kommunalitalien insbesondere am Beispiel des Bologneser Officium Spiarum. Dem Faktor „Zeit“ komme in der Informationsbeschaffung eine zentrale Bedeutung zu, denn sensible Informationen müssten rechtzeitig eingeholt werden, um den Handlungen des Gegners entgegenzuwirken beziehungsweise diese zu vereiteln. Wie eine Analyse von Ratsprotokollen aus Bologna und Florenz ergaben, habe die Zeitfrage in Spionagetätigkeiten eine besondere Dringlichkeit aufgewiesen, verhandelte man sie doch in der Regel als ersten Tagesordnungspunkt. Häufig zu beschließen war die zügige Bereitstellung von Mitteln für die Spion:innen. Verspätete oder fehlgeschlagene Informationsbeschaffung habe wiederum politische Konsequenzen für die Kommunen haben können.
JESSIKA NOWAK (Wuppertal) konnte krankheitsbedingt nicht persönlich teilnehmen, weshalb ihr Vortrag verlesen wurde. In der Diplomatie des 15. Jahrhunderts seien Langsamkeit und Unpünktlichkeit kritisch gesehen worden, weswegen der Mailänder Herzog von seinen Gesandten erwartete, dass sie ihre Destinationen recht- und frühzeitig erreichten, um ihre Aufträge erfüllen zu können. Nowak widmete sich der Reise des Mailänder Gesandten Ottone del Carretto nach Rom. Zeit war in diesem Falle ein wichtiges Gut, da der Herzog von Mailand Einfluss auf die anstehenden Kardinalskreationen zu nehmen gedachte, weil sein Wunschkandidat beim Kardinalskollegium nicht besonders populär war. Ottone kam jedoch – nicht zuletzt wegen diverser vom Herzog gewünschter Zwischenstopps – zu spät, was den Herzog zutiefst verärgert habe. Doch selbst das rechtzeitige Eintreffen hätte wohl nicht genügt, um den Mailänder Wunschkandidaten auf die Cathedra Petri zu heben.
Zusammengefasst haben die Beiträger:innen eindrucksvoll das Vorhandensein von, den Umgang mit und die Deutung von Verspätungen in unterschiedlichsten Quellenbeständen und historischen Kontexten herausgearbeitet und zugleich Anregungen zur Weiterarbeit an dem Themenkomplex „Verspätung“ geliefert.
Konferenzübersicht:
Giuseppe Cusa (Siegen): Begrüßung und thematische Einführung
Sektion I: Infrastruktur, Mobilität und Wartezeit
Julia Samp (Aachen): Moderation
Alexander Denzler (Eichstätt-Ingolstadt): Verspätung ohne Ende? Die (Nicht-)Planbarkeit der Instandsetzung von Straßen und Brücken im 16. Jahrhundert
Thomas Dorfner (Aachen): Signed. Sealed. Delivered (One Year Late). Wie die Herrnhuter Missionar:innen in Labrador mit verspäteter Korrespondenz aus Europa umgingen (1770–1815)
Christoph Mauntel (Osnabrück): Wenn’s mal wieder länger dauert […]. Verspätung und Wartezeiten in der mittelalterlichen Mobilität
Sektion II: Kunst und Kultur
Julia Samp (Aachen): Moderation
Margret Scharrer (Bern): Verspätung, blockierte Transfers oder „durchdringendes Geheule“? Operntransfers zwischen Italien, Frankreich und dem Reich an der Wende zum 18. Jahrhunderts
Sektion III: Korrespondenz
Julia Samp (Aachen): Moderation
Giuseppe Cusa (Siegen): Et quare nescio tua experientia hoc implere tardaverit. Verspätungen im Briefregister Gregors des Großen (590–604)
Florian Hartmann (Aachen): Wie rechtfertigt man Verspätungen? Antworten aus den Brieflehren des 12. und 13. Jahrhunderts
Sektion IV: Krieg
Giuseppe Cusa (Siegen): Moderation
Christina Abel (Saarbrücken/Mainz): Schlechtes Zeitmanagement. Die Vorbereitungen des Kriegszugs Kaiser Heinrichs VII. gegen Robert I. von Sizilien-Neapel (1313)
Martin Clauss (Chemnitz): Verspäten, Verspätung und Zuspätkommen. Überlegungen aus der Militärgeschichte
Rino Modonutti (Padua): The irresoluteness of the Guelphs, the speed of the Ghibellines. Delay, anticipation and fortune in the wars of Albertino Mussato’s De gestis Italicorum (books I–VII)
Sektion V: Diplomatie und Politik
Giuseppe Cusa (Siegen): Moderation
Edward Loss (Bologna): Predicting, discussing and facing delay in the matters of espionage and information gathering in late medieval Italy (late 13th and 14th centuries)
Jessika Nowak (Wuppertal): Ad me rincrese non siia stato in tempore per provare mia diligentia, ma in vero el non era possibile gli giongesse […] più presto. Zu spät? Das Eintreffen des mailändischen Gesandten Ottone del Carretto in Rom im Dezember 1456