Soziale Folgen des Wandels der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Soziale Folgen des Wandels der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Institut für soziale Bewegungen, Bochum; Institut für Zeitgeschichte, München – Berlin; Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam (Institut für soziale Bewegungen)
Ausrichter
Institut für soziale Bewegungen
Förderer
Hans-Böckler-Stiftung
PLZ
44789
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
17.10.2024 - 18.10.2024
Von
Laura Cowley, Professur für Zeitgeschichte, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Eröffnet wurde die Abschlusstagung des HBS-Graduiertenkollegs „Soziale Folgen des Wandels der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Soziale Polarisierungen in Dienstleistungsberufen 1970–2000“ (2. Förderphase) durch STEFAN BERGER (Bochum) mit einer Reflexion und Bilanzierung des Kollegs. Über die Ergebnisse der Einzelprojekte hinaus sieht er als wichtigen Impact des Kollegs einen Anteil an der Wiederbelebung der Felder Geschichte der Arbeit und Geschichte der Arbeitsbewegung, die im Sinne einer neuen Geschichte der Arbeit Anschluss an andere populäre Felder der bundesrepublikanischen Geschichtsforschung sucht. Durch die Bereitschaft sich auf andere Perspektiven einzulassen, könnten die Themenfelder Arbeit, Arbeitswelten und Arbeitsbewegung so in einen breiteren Rahmen der modernen und Zeitgeschichte eingebunden und ein thematisch-methodisch geweiteter Blick eingenommen werden.

Durch die thematisch enge Verschränkung vieler Projekte des Kollegs, ergaben sich über die einzelnen Panels hinaus viele wiederaufnehmende Diskussionsmomente und thematische Verbindungen. Besonders bestimmten dabei vier Themenfelder die Tagung:

Weiblich gelesene Erwerbsarbeit

Immer wieder prägte diese Tagung die Auseinandersetzung mit weiblicher Erwerbsarbeit. So fokussierten sowohl CHRISTINA HÄBERLE (Potsdam) als auch ALICIA GORNEY (Bochum) Industriebranchen, die sich nicht nur durch die Herstellung weiblich gelesener Produkte auszeichnen, sondern auch durch mehrheitlich weiblich gelesene Beschäftigte.

Insbesondere bei Gorney war die Frage nach weiblich gelesenem Engagement in betrieblicher Einbindung und gegen den Abbau von Arbeitsplätzen leitende Frage ihres Vortrags. Mit der Textil- und Bekleidungsindustrie diagnostizierte sie für eine der größten Konsumgüterbranchen der bundesdeutschen Nachkriegszeit einen immensen Abbau von Arbeitsplätzen im Zuge eines ungebremsten und staatlich nicht abgefederten Strukturwandels. Den politisch geringen Stellenwert dieser Branche sah sie zwar auch in wirtschaftlichen und geographischen Aspekten wie der geringen regionalen Konzentration begründet, jedoch überwiegend in der Marginalisierung weiblich gelesener Industriearbeit verortet. Für diese Marginalisierung legte sie eine These doppelter Stigmatisierung zugrunde: Gesellschaftlich wurde und wird weiblich gelesene Erwerbsarbeit nicht nur als fluktuative und situative Ergänzung zum primären Beschäftigungsfeld der Care Arbeit gesehen, sondern auch primär als Zuverdienst betrachtet, da Frauen⁎ durch die Ehepartnerschaft bereits abgesichert seien. Dieses Verständnis kulminiert in der Annahme einer vermeintlich höheren Flexibilität der weiblichen⁎ Erwerbsbiografie.

Auch TILL GOßMANN (Potsdam) identifizierte genderspezifische Aspekte in den Bewertungskategorien der politischen Einschätzung als erhaltenswürdig eingestufter Arbeitsplätze. Im Bereich des Einzelhandels arbeitete er am Beispiel des Konsums heraus, dass es sich auch hier um eine Branche mit überwiegend weiblich gelesenen Beschäftigten handelt, die stark vom Arbeitskräfteabbau betroffen war. Im Vergleich mit dominant männlich gelesenen Industrie- und Handelsbereichen, die in ähnlichem Umfang mit vergleichbaren Auswirkungen betroffen waren, erhielten Beschäftige der Einzelhandelsbranche nicht nur deutlich geringere Abfindungen, sondern nahmen sowohl in der zeitgenössischen als auch erinnernden Perspektive einen stark untergeordneten Anteil ein. Dieses Phänomen ordnete FRANK BÖSCH (Potsdam) in der Diskussion in einen größeren Kontext des leisen Sterbens weiblich gelesener Arbeitsplätze ein.

Einen anderen Blick ermöglichte ALISHA EDWARDS (Bochum). Mit kommerziellem Sex stellte sie den Kampf um die Anerkennung von Prostitution und sexuellen Dienstleistungen als Sektor der Dienstleistungsbranche sowie die damit verbundenen Rechte ins Zentrum ihrer Überlegungen.

Prekarität und die Entsicherung von Arbeit

Wie ein roter Faden zog sich auch die Frage der Entsicherung von Arbeit durch die meisten Beiträge. Explizit näherte sich LUKAS DOIL (Potsdam) dem Thema aus einer konzeptuellen Perspektive, indem er die Sonde Zeitarbeit nutzte, um die Verschränkungen von Arbeitsflexibilität und prekären Lebenswelten sowie ihren Einfluss auf zeitgenössische Vorstellungen des Wandels der Arbeit zu ergründen. Doch auch in vielen der anderen Beiträge bildeten Gründe und Auswirkungen von Prekarität den Rahmen für die Überlegungen.

So wurde auf der einen Seite Prekarität als Folge der Privatisierung vormals staatlicher Unternehmen als rahmende Betrachtung in vielen Überlegungen herangezogen. Am Rande ihres Vortrags zeigte PATRICIA ZEITZ (München/Berlin) den Einfluss der Privatisierung der Deutschen Post auf die Beschäftigungssicherheit und den Zuwachs migrantischer Arbeit in diesem Betrieb auf. Die Projekte von JONAS JUNG (München/Berlin) und Till Goßmann stellen wiederum die von BENNO NIETZEL (Berlin) in seinem Kommentar treffend als doppelte Transformationserfahrung gerahmten Umbrüche 1989/1990 innerhalb eines längeren und übergreifenden strukturellen Wandels in den Vordergrund. Diese führte zu einer Erosion der sozialistischen Lebens- und Arbeitswelten, die sich in einer flächendeckenden Privatisierung der staatseigenen Betriebe der ehemaligen DDR zeigte – eine Entwicklung, die auch Christina Häberle in ihre Analyse mit einbezog. Eine Integration dieser beiden Aspekte zeigte JESSICA HALL (Potsdam) auf, welche die Fusionierung und Privatisierung der Reichsbahn und der Bundesbahn analysierte.

Auf der anderen Seite nahmen bei diesen Prekarisierungsprozessen in der Erwerbsarbeit die zunehmende Internationalisierung der Arbeitswelten einen hohen Stellenwert in den Beiträgen ein. Insbesondere die Auslagerung von Produktionsprozessen ins Ausland und der damit einhergehende Abbau von Arbeitsplätzen im Inland spielte eine große Rolle. Diese beleuchteten zum Beispiel Christina Häberle und Alicia Gorney an den Beispielen der arbeitsstundenintensiven Branchen der Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie.

Insbesondere Jonas Jung wies in diesem Diskussionskontext auf die Unvorhersehbarkeit von prekaritätsbestimmten Lebenssituationen hin. Am vielleicht eindrücklichsten zeigte sich die Ablösung vermeintlich langfristig gesicherter Betriebszugehörigkeiten und Arbeitsplätze durch anhaltende Abwärtsspiralen in Deutschland am enormen Umfang des Industrie- und Unternehmensabbaus nach 1989/90 – doch es lassen sich weitere Momente untergehender Arbeitswelten hinzufügen. Gleichwohl lassen sich diesen langfristigen Abwärtsspiralen auch ambivalentere Entwicklungen entgegensetzen: In Branchen wie den Dotcom-Unternehmen, die sich vor dem Platzen der Blase in einem unumkehrbaren Höhenflug wähnten, stellte die Jobverluste zweifellos einen unerwarteten Schockmoment dar, doch langfristig konnten die Betroffenen überwiegend wieder in stabile Erwerbsarbeitsverhältnisse zurückkehren. An diesen Kontrasten wurde der Einfluss multiperspektivischer Berufsqualifizierungen, Einsatzflexibilität sowie des beruflichen Lebensabschnitts auf die langfristige Einnistung von Prekarität in persönliche Lebens- und Arbeitswelten deutlich.

Migration und migrantische Arbeitsrealitäten

Dem Aspekt der internationalisierten Unternehmen und der Auslagerung von Arbeitsprozessen ins Ausland stand – quasi als andere Seite derselben Münze – die Auseinandersetzung mit migrantischen Arbeitswelten im Inland gegenüber. Patricia Zeitz widmete sich dabei der interdependenten Beziehung zwischen städtischem Raum und Arbeitsmigration am Beispiel Münchens. Ein besonderes Augenmerk legte sie dabei auf die Qualifikationshürde Beamtentum, die durch die lange Zeit bestehende Kopplung an das Innehaben der deutschen Staatsangehörigkeit ausländischen Menschen den Zugang zu diesen Teilen der Arbeitswelt verwehrte. In diesem Sinne zeigte sie auf, dass die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die Überführung aus dem Beamtentum hinaus auch mit Chancen der Neuerschließung von Arbeitswelten verbunden sein kann.

Häufiger waren es allerdings Narrative der Marginalisierung, welche die Thematisierungsaspekte migrantischer Arbeitsrealitäten bestimmten: So stellte zum Beispiel Lukas Doil für die Zeitarbeit eine Prävalenz migrantischer Beschäftigung heraus – insbesondere außerhalb des legalisierten Bereichs. Alisha Edwards zeichnete wiederum die Geschichte eines doppelten Kampfes um politische Anerkennung und Teilhabe für migrantische Sexarbeiterinnen⁎ nach. Zum einen waren und sind sie durch ihren häufig nicht-legalen Aufenthaltsstatus besonders vulnerabel für Ausbeutung und Gewalt, zum anderen ist auch in der deutschen Prostitutionsszene die Konfrontation mit Ausländerfeindlichkeit und Rassismus hoch. Den Prostituiertenbewegungen schlossen sie sich daher selten an, da sie sich und ihre Interessen hier nicht vertreten sahen – Konsequenz war eine nachhaltige Unterrepräsentation innerhalb dieser Bewegungen und im Kampf um politische Anerkennung.

In der Diskussion fasste WINFRIED SÜß (Potsdam) die Phänomene treffend damit zusammen, dass die migrantische Labelung zu einer politisch-kommunikativen Entdramatisierung erwerbsarbeiterlicher Prekarität führt.

Wie OLGA SPARSCHUH (Wien) in ihrem Kommentar deutlich machte, wird ein fundierter wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Umgang mit der Thematik dabei dadurch erschwert, dass Migration und ausländische Arbeit nicht nur zu singulär gedacht wird, sondern auch eine Black Box der Statistik darstellt.

Lebens- und Arbeitswelt Konsum

Durch den Fokus des Kollegs auf den Dienstleistungssektor stand Konsum als Lebens- und Arbeitswelt immer wieder im Fokus. Während einige Beiträge die Produktion von Konsumprodukten thematisierten, stellten PHILIPP URBAN (Bochum) und Till Goßmann die Seite des Vertriebs am Beispiel des Einzelhandels in den Mittelpunkt.

Philipp Urban zeichnete dabei die Entwicklung der bundesdeutschen Konsumgenossenschaftsbewegung vor dem Hintergrund der sich verändernden gesellschaftlichen Muster von Konsum und Lebenshaltung nach. Im Mittelpunkt standen Spannungsverhältnisse zwischen den Selbstbildern der Konsumgenossenschaften als politisch motivierte Bewegung und der Außenwahrnehmung als kostengünstiger Einkaufsort. Als zentraler Aushandlungs- und Kommunikationsort wurden dabei in diesem Beitrag die Werbestrategien der 1950er- und 1960er-Jahre beleuchtet, die den Balanceakt zwischen Imagekampagne und politischem Selbstanspruch bewältigen mussten.

Im Kontrast dazu widmete sich Till Goßmann den Herausforderungen eines doppelten Transformationsprozesses im ostdeutschen Einzelhandel nach 1989/90: Nicht nur mussten die Konsumgenossenschaften hier den Wandel zu einem eigenständigen marktwirtschaftlichen Unternehmen meistern, sondern auch den sich grundsätzlich verändernden Ansprüchen an den Lebensmittelhandel gerecht werden. Er zeigte dabei einen interessanten Sonderweg des Konsums auf, der sich ohne eine Verwaltung durch die Treuhandanstalt der Privatisierung stellte und den westdeutschen Konkurrenzunternehmen auch mit Gegenentwürfen begegnete, die im Sinne seines postsozialistischen Erbes kollektive Praktiken aufleben ließen.

In seinem Abschlusskommentar resümiert PETER BIRKE (Göttingen) noch einmal treffend die großen Fragen, die diese Tagung zwischen den Zeilen und im Zusammenspiel der Einzelbeiträge begleiteten: Welche Bedeutungen haben Transformationen, „Zwischenzeiten“ (Jonas Jung), Übergangsgesellschaften und Ungleichzeitigkeiten? Welche Bedeutung hat die Vervielfältigung der Formen und Bezugspunkte von Organisationen sowie politischer Artikulation? Wie kann die Kategorie Klasse zeitgemäß genutzt werden, um Dynamiken der Differenzierung und Diffusion begreifbar zu machen sowie in einer Abkehr von der Suche nach einem Vektor der Universalität fluiden Sozialverhältnissen gerecht zu werden? Und wie kann die Volatilität von Gegenwartsgesellschaften mit ihren multiplen Krisen historisch vermessen werden? Es sind Fragen und Leerstellen, die auch DIETMAR SÜß (Augsburg) in seinem Abendvortrag aufwirft, wenn er dem Gedanken einer Zeitgeschichte der Arbeit nachgeht.

Konferenzübersicht:

Stefan Berger (Bochum): Begrüßung und Einführung

Panel I
Moderation: Winfried Süß (Potsdam)

Alicia Gorney (Bochum): „Die Unorganisierbaren“. Weibliche Gewerkschaftsarbeit in der Bekleidungsindustrie, im Bergbau und der Metallindustrie

Christina Häberle (Potsdam): Der Welt auf den Fersen. Eine internationale Geschichte der bundesdeutschen Schuhindustrie von 1970 bis 2000

Nina Kleinöder (Bamberg): Kommentar

Panel II
Moderation: Andreas Wirsching (München/Berlin)

Philipp Urban (Bochum): Konsumgenossenschaften in der Konsumgesellschaft. Von der Selbsthilfe der Verbraucher zur Gemeinwirtschaft

Lukas Doil (Potsdam): „Flexibel“ und „prekär“. Arbeits- und Zeitverhältnisse in der bundesdeutschen Zeitarbeit

Sybille Marti (Bern): Kommentar

Abendvortrag

Dietmar Süß (Augsburg): „Über alte und neue Anerkennungskämpfe. Probleme und Perspektiven einer Zeitgeschichte der Arbeit“

Panel III
Moderation: Jessica Lindner-Elsner (Eisenach)

Till Goßmann (Potsdam): Die sozialen Folgen des Wandels im Einzelhandel in Ostdeutschland in den 1990er-Jahren

Jessica Hall (Potsdam): Eine deutsch-deutsche Sozialgeschichte von Eisenbahner⁎innen im Zeichen von Wiedervereinigung und Privatisierung

Jonas Jung (München/Berlin): Von der Lampenstadt zur Oberbaumcity – Die sozioökonomische Entwicklung des Rudolfkiezes

Benno Nietzel (Berlin): Kommentar

Panel IV
Moderation: Frank Bösch (Potsdam)

Particia Zeitz (München/Berlin): Arbeitsmigration nach München

Alisha Edwards (Bochum): Migrantisches Engagement in deutschen und britischen Prostituiertenbewegungen – Sexuelle Arbeit, Arbeitsmigrantinnen und Kämpfe um politische Teilhabe

Olga Sparschuh (Wien): Kommentar

Abschlussdiskussion

Peter Birke (Göttingen): Zusammenfassung

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