Sitting here in Nowhereland. Musik in Utopien – Utopien in Musik

Organisatoren
Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar (Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar)
Ausrichter
Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar
PLZ
99425
Ort
Weimar
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
16.09.2024 - 17.09.2024
Von
Carl Julius Reim, Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Kann Musik utopisch sein, obwohl sie nicht primär mit Worten arbeitet? Welche Rolle spielt Musik in utopischen Konstruktionen? Wie inspirieren sich Musik und Utopie(n) gegenseitig? Diese und ähnliche Fragen nahm das Symposium zum Anlass, um aus musikwissenschaftlicher, historischer und musiktheoretischer Perspektive mögliche Antworten auszuloten. Dabei fiel besonders das hohe theoretische Reflexionsniveau positiv auf. Immer wieder wurden verschiedene Utopie-Begriffe vorgestellt sowie diskutiert, kritisiert und bekräftigt. Ausgehend von der Diagnose Nina Noeskes, gegenwärtig seien eine „Endzeitstimmung“ dominant und Visionen für eine bessere Zukunft entsprechend selten, wurden historische neben zeitgenössische Überlegungen gestellt. Lucian Hölscher entgegnete, Utopien seien gegen das dominante Risikobewusstsein im gegenwärtigen Denken ein Mittel zur Krisenbewältigung.

Zentrale theoretische Bezugspunkte waren dafür vor allem die philosophischen Entwürfe Theodor W. Adornos und Ernst Blochs. NINA NOESKE (Weimar) zeigte auf, dass Adornos Utopie-Verständnis stets mit dem Bild einer erlösten Menschheit einherging. Statt dies jedoch affirmativ zu proklamieren und damit zu verfälschen, blitze in seinem Verständnis die Utopie lediglich in Bruchstücken auf, umgehend negiert durch die Kraft des Bestehenden. Damit habe Adorno an die Neue Musik angeknüpft, für die im frühen 20. Jahrhundert die musikalische Versöhnung – etwa in Form eines triumphalen Schlusses – zunehmend problematisch geworden sei. Während Adorno sich an die impliziten Utopien etwa bei Mahler oder im Zurücktreten vom Affirmativen in Bruckners 7. Symphonie gehalten habe, sei Bloch vordergründig auf die programmatischen Gehalte von Musik eingegangen. BEATE KUTSCHKE (Berlin) machte dagegen die „Utopie der Form“ im musikalischen Denken Adornos stark. Durch sie leuchte aus dem Kunstwerk heraus, dass „es“ – die bewusst nicht näher beschriebene Utopie der befreiten Menschheit – nicht sei, aber sein könne. Im zerrütteten, fragmentarischen Kunstwerk zeige sich damit die Utopie ex negativo.

Als „unbelastete Vaterfiguren“ seien Adorno und Bloch zentrale Bezugspunkte für die Selbststilisierung der musikalischen Avantgarde im kapitalistischen Westen im Kampf gegen die Dämonen der Nazis gewesen, ergänzte MATTHIAS TISCHER (Neubrandenburg). Dabei habe die „Reinigung“ der Künste nach Weltkrieg und Holocaust im Vordergrund gestanden. Doch während die Verquickung des Geniekults im 19. Jahrhundert mit dem deutschen Nationalismus in der selbst ernannten Avantgarde zu ablehnenden Reaktionen etwa gegenüber Beethoven geführt habe, versuchten Adorno, Eisler und andere den Hitler-Kult durch die Beschäftigung mit der deutschen Kulturtradition zu überwinden. Deutlich werde dies etwa in der Popularisierung der Bezeichnung „Zweite Wiener Schule“ durch Adorno, mit der eine direkte Verbindung zum Wiener Klassizismus hergestellt wurde.

Die Keynote von LUCIAN HÖLSCHER (Bochum) bot für diese Reflexionen einen doppelten Ausgangspunkt: Einerseits führte Hölscher gleich zu Beginn das Problem der Zeit an. Als „Nicht-Ort“ in einer Zukunft angesiedelt, wirke die Utopie zunächst unverbunden mit der Gegenwart. Musik als Kunst der vergehenden Zeit scheine demgegenüber merkwürdig zusammenhanglos mit der Zukunft. Andererseits verwies Hölscher auf den immer wieder erhobenen (Selbst-)Anspruch, „Zukunftsmusik“ zu schreiben. Die verbreitete Verwendung dieses Begriffs Mitte des 19. Jahrhunderts sei nicht zufällig mit der Renaissance des Utopie-Begriffs zusammengefallen. Vielmehr bestehe ein enger Zusammenhang zwischen politischer Utopie und zukunftsorientierter Musik, der besonders in den Werken Franz Liszts und Richard Wagners erkennbar sei. Auch wenn die (Selbst-)Bezeichnung als „Zukunftsmusik“ seit 1945 zunehmend aufgegeben worden sei, so Hölscher, habe sich der Vorgriff auf noch nicht da Gewesenes in der Neuen Musik durch die musikalische Form erhalten. Dieses „vorbegriffliche Ahnen“ eines Neuen habe die Kunst dem Wort voraus. Das utopische Moment in Musik, die sich selbst als avantgardistisch positioniert, sollte im Verlauf der Tagung immer wieder auftauchen.

Als zentrale Figur der Neuen Musik in Westdeutschland bot dabei Karlheinz Stockhausen wiederholt Anlass zur Diskussion. KATERINA GROHMANN (Berlin) stellte einige Werke aus Stockhausens „Licht“-Zyklus (1977–2003) vor. Darin habe der Komponist die Vision einer „Welt, in der alles Musik geworden ist“, utopisch vorangestellt. Menschen seien in dieser Vision empfindsam genug geworden, um den Zusammenhang zwischen Musik und sich selbst zu erkennen. Dieses Einverständnis in eine von Stockhausen gesetzte Utopie zeige sich im unisono geäußerten „d‘accord“ des „Welt-Parlaments“. Nicht die individuelle Differenz, sondern die forcierte Einheit stand dabei für Stockhausen im Vordergrund. Die Neuausrichtung der Neuen Musik in der Bundesrepublik durch Stockhausen – weg vom Sozialen, hin zum Spirituellen, wie Matthias Tischer herausstellte – war auch hierin spürbar. Zur Kritik dieser Neuausrichtung verwies Tischer dagegen auf Heinz-Klaus Metzger, dessen Polemik gegen die „schlechten Utopien, in denen sich der verzweifelte Wunsch, wieder der Kunst eine Funktion einzubilden, von Zeit zu Zeit objektiviert“1, eine Brücke zum Symposiumsthema schlug.

Wenn auch Musik nicht vordergründig mit Sprache kommuniziert, bleibt Sprache ihr doch ein wiederkehrendes und wichtiges Element. Im Aufgreifen deutschsprachiger Gedichte in koreanischer Übersetzung durch die Komponistin Younghi Pagh-Paan erkannte etwa SHIN-HYANG YUN (Berlin) die „Rückprojektion der poetischen Bilder“. Damit nahm Yun auf die von Walter Benjamin beschriebene „messianische und utopische Dimension“2 des Übersetzens Bezug. Zugleich verdeutlichte sie die utopischen Gehalte in Pagh-Paans Werk, die sich beispielsweise im impliziten Verweis auf Ernst Bloch in der Komposition „Noch…“ (1996) finden. Pagh-Paans Herausforderung für das eurozentrische Nachdenken über Utopie durch die Dimensionen der Übersetzung wurde ergänzt durch SEBASTIANO GUBIAN (Berlin). In der Gegenüberstellung der Komponisten Luigi Nono und Iannis Xenakis zeichnete er deren Konflikt zwischen kommunistischer und innermusikalischer Utopie nach. Nono habe seine „Manifestmusik“ als konkrete politische Handlung und von den „Befreiungskämpfen“ in Algerien, Kuba und anderswo inspiriert verstanden, um den politisch-künstlerischen Fokus auf Europa zu überwinden. Xenakis hingegen habe in seinem Werk die Untrennbarkeit von Utopie und Musik forciert, zugleich jedoch seine Musik von politischem Engagement abgegrenzt. Gubians bemerkenswerte Analyse, Xenakis‘ Text „Musiques formelles“3 sei völlig unverbunden mit Adornos einflussreichem Vortrag „Vers une musique informelle“4, verdeutlichte das weitere Potenzial zur Erforschung intellektueller Einflussnahmen und Netzwerke im Musikdenken des 20. Jahrhunderts. Dies wurde auch in der von Gubian belegten gegenseitigen Bezugnahme von Xenakis und Mikel Dufrenne sowie in Nonos Vertonung von Texten Jean-Paul Sartres deutlich.

Die angedeutete Verquickung von musikalischer Analyse mit philosophischer und literarischer Bezugnahme erwies sich im Verlauf des Symposiums immer wieder als ausgesprochen produktiv. Vielleicht am explizitesten wurden literatur- und musikwissenschaftliche Perspektiven von STEFAN DREES (Berlin) und KARL TRAUGOTT GOLDBACH (Kassel) zusammengedacht. Beide analysierten den Verweis auf Musik in literarischen Werken. Dabei wurde deutlich, wie unterschiedlich diese Verweise ausgeprägt sein können: Drees nannte Beispiele, die mit einem „Geruchsklavier“ (Kurd Laßwitz) oder einem umfänglichen Sinneserlebnis (Dietmar Dath) die Grenzen der Künste auszuhebeln versuchten. Die von Goldbach vorgestellten Werke von Lois Lowry, George Orwell und Margaret Atwood hingegen fokussierten sich auf die Funktion von Musik in einer dystopisch-totalitären Gesellschaftsordnung. Drees stellte auch das Werk der Autorin Ursula K. Le Guin vor, deren Anthropologie zukünftiger Völker durch die Einspielung eigens komponierter Werke auf von Le Guin entworfenen Instrumenten untermauert wurde.5

Die damit angedeutete inklusive, feministisch inspirierte Kultur schlug einen Bogen zum Beitrag von CORNELIA BARTSCH (Hamburg). Bartsch zeigte anhand posthumanistischer Zugänge auf, wie vermeintlich un-denkenden Subjekten durch Klangmetaphorik agency zugesprochen werden könne. Sie kam über die Unbestimmbarkeit von Pilzen, die weder Tier noch Pflanze sind, auf menschliche Nichtbinarität zu sprechen. Nichtbinäre Charaktere würden in Filmmusiken oft als schwer greifbar inszeniert. Die Darstellung mit Klangflächen changiere dabei zwischen sakralen und vermeintlich monströsen Elementen nicht binärer Körper, mithin zwischen Utopie und Dystopie.

Das emanzipatorische Potenzial von Musik stellte auch SUSANNE HEITER (Nürnberg) mit Bezug auf die Frauenrechtlerin Louise Otto (später Otto-Peters) heraus. Die Vorkämpferin der Leipziger Frauenbewegung sprach der Musik eine transformative Kraft zu, die durch regelmäßige Wiederholung progressive Ideen im Publikum verankern könne. Ottos Plädoyer für die Behandlung politischer Themen in der Oper ging einher mit der Bewunderung Richard Wagners, die bei ihr auch mit dem Bezug auf nationale Themen verbunden war. Die inhärente Kraft der Musik habe in der politischen Praxis der Leipziger Frauenbewegung jedoch weniger als die konkrete Unterstützung von Musikerinnen im Vordergrund gestanden, etwa durch Einbezug musikalischer Elemente in die Sitzungen von Frauenbildungsvereinen.

Diese historischen Perspektiven wurden von ELIZAVETA WILLERT (Paderborn) um einen Blick auf Kinderhörspiele in der DDR ergänzt. Die von der Zensur als zu kompliziert kritisierte Musik Ruth Zechlins setzte sich zum Ziel, die Fantasie durch große Freiräume anzuregen und anzuleiten. Verstärkt wurde dieses subversive Potenzial durch das Medium des Radios, das Kinder als eigenständig hörende, selbstständige Akteur:innen anspreche. Unter dem Radar der autoritären Behörden wurde so ein Freiraum geschaffen, in dem Musik zum eigenständigen Denken anregen konnte.

Ebenfalls historisch argumentierte ANNE HAMEISTER (Hamburg), deren Analyse der Harmonielehre um 1900 jedoch zugleich eine kritische Befragung des heutigen Standes der Musiktheorie leistete. Die Infragestellung zweier Grundelemente der Harmonielehre – namentlich des „Kleinen“ und der „Einheit“ – habe eine „ontologische Unruhe“ bewirkt. Das aufkommende Verständnis des Neuen, das im 19. Jahrhundert die Musik in den deutschsprachigen Gebieten zu durchdringen begann, sei offener auf die Zukunft ausgerichtet gewesen. Nicht die Weiterentwicklung der traditionellen Musik habe im Vordergrund gestanden, sondern die Suche nach Noch-nicht-Dagewesenem. Nachdem die Neue Musik ihren Status als fortgeschrittene Form der Komposition gefestigt hatte, habe die Musiktheorie aufgehört, nach Neuem zu suchen und sei historisch geworden. Darin sei der Grund zu finden, warum sich die Harmonielehre heute auf einem ähnlichen Stand befinde wie um 1900. Der Einwand Jörn Arneckes, die Musiktheorie könne aufzeigen, wo noch Lücken zu füllen seien, schien das Argument Hameisters eher zu stärken, argumentierte Arnecke doch nicht mit einem Begriff des Neuen.

Im Abschlusskonzert wurde diese Analyse Hameisters zugleich untermauert und ergänzt. Die Stücke von JÖRN ARNECKE (Weimar), teils im Zusammenspiel mit von Künstlicher Intelligenz (KI) generierten Fragmenten, hielten sich weitgehend im traditionellen Rahmen und verarbeiteten Material der kanonisierten Musikgrößen Beethoven, Schubert und Schumann. Der selbstbewusst vorangestellte Anspruch „KI ist Kunst“ sollte sich in einigen der aufgeführten Kompositionen beweisen und warf die Frage auf, was das Aufkommen der KI für das Verhältnis von Musik und Utopie bedeuten könnte. Dass dabei die KI kaum zur Schlussbildung im klassischen Sinne in der Lage zu sein schien, setzte Arnecke in seiner Vorbemerkung mit der Schluss-Aversion der Neuen Musik in Beziehung. MAXIMILIAN MARCOLL (Weimar) hingegen nutzte die ganze Durchschlagskraft elektronischer Klangerzeugung, um mit einem kathartisch anmutenden „brutalen, gleichbleibenden, langsamen Puls“ das zugrunde liegende Stück von Bernhard Lang fundamental umzubauen. Dass einige Gäste bei Marcolls Stück kopfschüttelnd den Saal verließen, erschien als Beleg für das andauernde Disruptionspotenzial radikaler Musik. Gerade der Kontrast zwischen Klavier und Elektronik, KI-unterstützter und menschlicher Komposition im Abschlusskonzert vermochte es dabei, das Symposium um einige Elemente zu ergänzen und besprochene Themen musikalisch aufzugreifen. Die von Jens Ewen eingangs beschworene Weimarer Tradition des grundlegenden Nachdenkens über die „beste aller möglichen Welten“ fand in diesem Symposium eine kritische und nachdenkliche Fortsetzung.

Konferenzübersicht:

Jörn Arnecke (Weimar) / Nina Noeske (Weimar) / Martin Pfleiderer (Weimar): Grußwort und Einführung

Lucian Hölscher (Bochum): Utopie und Musik – zur Auslotung eines Spannungsverhältnisses

Katerina Grohmann (Berlin): „Ich habe schon immer versucht, alles, was in der Welt geschieht, in die Musik hineinzuziehen“. Die Zukunftsvisionen Karlheinz Stockhausens

Matthias Tischer (Neubrandenburg): Die Idee der Neuen Musik

Sebastiano Gubian (Berlin): Musikalische Utopien im XX. Jahrhundert. Nono und Xenakis zwischen Abstraktion und Engagement

Shin-Hyang Yun (Berlin): Poetische Bilder – ein musikalisch-utopischer Entwurf? Am Beispiel ausgewählter Gesangstexte von Younghi Pagh-Paan

Nina Noeske (Weimar): Nirgendheim. Musikalische Horizonte zwischen Sozialutopie und (zu) schöner Stelle

Beate Kutschke (Berlin): Zum Stellenwert von Utopie im musikphilosophischen Denken Adornos

Susanne Heiter (Nürnberg): Musikbezogene Utopien und Musikpraxis in der Leipziger Frauenbewegung

Cornelia Bartsch (Hamburg): Das Hörbare und das Unhörbare. Klangutopien jenseits des Anthropozäns und der binären Geschlechterordnung

Stefan Drees (Berlin): Von „Ododions“ und „Spatiokomponisten“. Musik und musikalische Praxis in der Sciencefiction-Literatur

Karl Traugott Goldbach (Kassel): Musik als erinnerte Vergangenheit in dystopischen Romanen von Jewgeni Samjatin, George Orwell und Margaret Atwood

Elizaveta Willert (Paderborn): Wirklichkeit und Utopie im DDR-Kinderhörspiel. Die Suche nach positivem Heldentum und dessen Klang in funkdramatischen Kompositionen von Ruth Zechlin, Tilo Medek und André Asriel

Anne Hameister (Hamburg): Harmonie und Utopie – Zukunftsvorstellungen in der Harmonielehre um 1900

Konzert: Utopie – Dystopie. Kompositionen von Maximilian Marcoll (Weimar) / Jörn Arnecke (Weimar)

Anmerkungen:
1 Heinz-Klaus Metzger, Kölner „Manifest“ (1960), in: ders., Musik wozu. Literatur zu Noten, Frankfurt am Main 1980, S. 9–14, hier S. 11.
2 Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken, Berlin 1997, S. 136.
3 Iannis Xenakis, Musiques formelles. Nouveaux principes formels de composition musicale, in: La Revue Musicale 253–254 (1963).
4 Theodor W. Adorno, Vers une musique informelle (1961), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt am Main 2003, S. 493–540.
5 Ursula K. Le Guin, Always Coming Home. New York 1985.