Skalierung vermittelt zwischen unterschiedlichen Ebenen, häufig ausgedrückt in Gegensatzpaaren wie Mikro-Makro, Global-Lokal. Damit bestimmt die Verwendung von Skalen auch die alltägliche Arbeit von Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen, stellt gewissermaßen also eine „Basisoperation“ der akademischen Auseinandersetzung dar.1 Diese impliziten und expliziten Vorannahmen bei der Skalierung oder dem Zuschnitt des Forschungsdesigns zu reflektieren und produktiv zu nutzen, stand im Fokus der Konferenz „Vergangenheiten vermessen. Skalierung in den historischen Kulturwissenschaften“. Neben dem Titel verdeutlicht auch die Ausrichtung der Konferenz unter dem Schwerpunkt „Maßstäbe“ des Center for Advanced Studies (CAS) der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) ihren interdisziplinären Anspruch. Dementsprechend diskutierten die Teilnehmer:innen aus historischer, kunsthistorischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive sowie mit breitem methodischem Instrumentarium, wie Skalennormen durchbrochen, neue Untersuchungsgegenstände sichtbar gemacht und Erkenntnisse mit Skalierungsprozessen gewonnen werden können. Gleichzeitig offenbarten sich allerdings nicht nur die Problematiken und Unzulänglichkeiten von Metaphorik bei der Beschreibung ebensolcher Prozesse, sondern auch die Schwierigkeiten dabei, verschiedene Skalierungsebenen – wie zuvor erwähnt Mikro-Makro, Global-Lokal, aber auch Qualitativ-Quantitativ – miteinander in Einklang zu bringen.
„Vergangenheiten vermessen“ – die Mehrdeutigkeit dieses Titels nahm SINA STEGLICH (München) in der Einführung als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen. Basierend auf den drei Dimensionen des „Vermessens“ von Steffen Mau – in Maße festlegen, fehlerhaft messen und anmaßend-hochmütig sein – betonte sie, dass Skalierungen Wert zuschreiben, dass Maßstäbe von bestimmten Normen und Bezugsgrößen ausgehen und transparent hinterfragt werden muss, wer diese festlegt.2 Hier verwies Steglich darauf, dass häufig anthropozentrisch konzipierte Maßstäbe reflektiert, Sehgewohnheiten aufgebrochen und Skalierungen komplexer gefasst werden sollten. Auch und insbesondere das Miteinander und die Gleichzeitigkeit verschiedener Maßstäbe und Skalierungen hob sie hervor: Einerseits verschränken sich Dimensionen wie Raum und Zeit in einem Untersuchungsgegenstand, andererseits ist dieser in sich bereits vor der Skalierung im Zuge des Forschungsprozesses einer eigenen Skalierung unterworfen. Doch helfen Skalierungen auch dabei, Untersuchungsgegenstände wahrnehmbar und nachvollziehbar zu machen, insbesondere im Kontext sinnlich nicht mehr erfassbarer Dimensionen wie großer Zeitperioden oder Datenmengen. So sind Skalierungen nicht nur inhärenter Bestandteil des wissenschaftlichen Prozesses, sondern auch des Stils und der Vermittlung der Inhalte. Hier stellte Steglich die Frage, welche Formate stärker rezipiert werden, wie mit dem stetig wachsenden Korpus von Forschung umgegangen werden muss, aber auch wie von der Norm abweichende Maßstäbe in den (öffentlichen) Wertekanon mit aufgenommen werden können.
Aufschluss über die Auswirkung von Skalierungsprozessen – und damit Hilfestellung für die Gegenwart – kann auch ihre Historisierung geben. Dementsprechend blickten Karolin Wetjen und Carlos Spoerhase aus der Perspektive zweier unterschiedlicher Disziplinen in ihren Vorträgen nicht zuletzt auf Skalierungsoperationen durch historische Akteur:innen. Unter Rückgriff auf die globalhistorische Debatte zwischen den Protagonisten Jeremy Adelman einerseits und Richard Drayton sowie David Motadel andererseits verwies KAROLIN WETJEN (Göttingen) auf die der Skalierung innewohnenden Machtdynamiken.3 Adelmans 2017 geäußerte Sorge, dass globale Geschichtsschreibung das Lokale, Regionale und seine Menschen aus dem Blick zu verlieren drohe, konnte Wetjen am Beispiel der Klimaforschung um 1900 historisch demonstrieren. Ihrer Annahme folgend, dass unsere gegenwärtige Konzeption des Klimas als System eine eigene Entstehungsgeschichte habe, beschrieb Wetjen, wie Wetterphänomene zunehmend in eine globale Skala eingefügt wurden, indem man Daten und Messpunkte miteinander verknüpfte. Im Gegensatz dazu waren nicht zuletzt die räumlichen Skalen lokalen Wetterwissens feiner in Kultur und Religion eingebettet. Die Entwicklung von „Wetter“ zu „Klima“ bedeutete gleichzeitig aber auch eine zumindest implizite Abwertung von Lokal- oder Laienwissen zugunsten der globalen Skala als Teil „moderner“ Klimawissenschaft. Insbesondere die hier zentrale Frage nach Sichtbarkeit oder vielmehr Unsichtbarkeit durch Skalierungsprozesse sollte die Konferenz auch im Folgenden wiederholt beschäftigen. In der an Wetjens Vortrag anschließenden Diskussion verwies Sina Steglich schließlich auch auf unterschiedliche Evidenzkulturen zwischen „moderner“ Wissenschaft und indigenem Wissen sowie auf die damit einhergehenden Deutungskonkurrenzen. Die Referentin betonte allerdings die häufige Koexistenz und die bis in die Gegenwart anhaltende Dominanz feinerer Skalierungsebenen – des sogenannten „Bauernwissens“ – womit sie nach Ansicht der Autor:innen dieses Tagungsberichts gewissermaßen dann doch auch Adelmans Sorge vor dem Verlust des Lokalen widersprach.
Die Frage nach Machtdynamiken offenbarte sich auch in CARLOS SPOERHASEs (München) Vortrag aus literaturwissenschaftlicher Perspektive am Beispiel von Kurzfassungen, denen er zuvor bereits ein kompaktes Buch gewidmet hatte.4 Damit ging auch die zentrale Frage nach der Bedeutung von Skalierungsprozessen in den Künsten einher, in diesem Fall der Literatur. Die Kompression von Literatur ermöglichte einerseits breitere Zirkulation durch gesenkte Kosten und damit eine weitere Leser:innenschaft, rief andererseits aber auch Kritik insbesondere im Feuilleton hervor, wo Kurzfassungen als simplifizierte Versionen für ein weniger gebildetes Publikum galten. Wie schon bei Wetjen traten die von Sina Steglich eingangs betonten und den Skalierungen inhärenten Werte und Normen sowie die damit einhergehenden Machtdynamiken historischer Skalierungsprozesse auch am Beispiel der Kurzfassungen zutage. Diese verdeutlichten so auch die Bedeutung der Frage nach den Akteur:innen: wer sich für Skalierung oder Kurzfassung verantwortlich zeigte – Autor:innen, Verleger:innen oder moderne digitale Dienstleister wie Blinkist, womit Spoerhase mit seinem Vortrag schließlich auch an die unmittelbare Gegenwart anknüpfte. Beide Referent:innen – Wetjen wie Spoerhase – argumentierten folglich dafür, historische Skalierungspraktiken ernst zu nehmen und ihre Auswirkungen auch in der Gegenwart zu verorten.
Diese Macht der Skalierung, bestimmte Themen, Perspektiven und Akteur:innen erstmals sichtbar und wahrnehmbar zu machen, wodurch neue Erkenntnisse entstehen und Sehgewohnheiten aufgebrochen werden können, kristallisierte sich in den weiteren Vorträgen zunehmend heraus. Die Vorträge von Benjamin Krautter und Britta Hochkirchen bewegten sich dabei an unterschiedlichen Enden der Skala – während sich das Anschauungsobjekt bei Krautter zugunsten von supratextueller Analyse auflöste, fokussierte Hochkirchen auf die Materialität eines Bildes: Pixel, Pinselstriche, Textil.
Ausgehend von der Frage, wie ein immenser literarischer Textkorpus im Zeitalter der Digitalisierung sinnvoll bearbeitet werden kann, stellte BENJAMIN KRAUTTER (Heidelberg) mit „topic modeling“ ein konkretes Beispiel für einen bewussten Skalierungsprozess im wissenschaftlichen Arbeiten vor. Dieser Ansatz aus den computational literary studies sollte neue Perspektiven auf eine ganze literarische Gattung anstatt auf einzelne Werke eröffnen. Hierfür werden nur noch Teile der einzelnen Texte – losgelöst von ihrer Satzstruktur – maschinell analysiert. Während so einerseits bestimmte Muster durch die Makroanalyse – ein Herausskalieren aus dem Einzelwerk – sichtbar gemacht werden, drängte sich andererseits die Frage auf, ob so nicht auch neue Unsichtbarkeiten geschaffen würden. In der anschließenden Diskussion wurde vor allem auf den Wert und die Individualität eines Werkes verwiesen, das, so die Annahme, in der Größe des Korpus verschwinde – das literarische Gesamtwerk bestand in der quantitativen Analyse vorrangig aus einer Aneinanderreihung gattungstypischer und -untypischer Worte. Krautter betonte besonders die Notwendigkeit, quantitative und qualitative Analysen miteinander zu verzahnen – die mikroskopische und makroskopische Skala gewissermaßen miteinander in Einklang zu bringen – und die von ihm vorgestellte Methode als Ideengeber zu verstehen.
Als Chance wollte auch BRITTA HOCHKIRCHEN (Jena) den Perspektivwechsel begreifen. Durch den Fokus auf die pure Materialität eines Bildes entferne man sich vom Werk und könne Sehgewohnheiten aufbrechen. Das „Bild“ als Verbindung zwischen Materialität und referenzierter „Wirklichkeit“ würde so aufgelöst und in seine Bestandteile zerlegt. Hochkirchen begriff (wie auch Krautter) Skalierung folglich als Methode und Mittel zum Erkenntnisgewinn, argumentierte aber auch, dass das Beobachtungsobjekt selbst durch den Skalierungsprozess Veränderung erfährt. Möglicherweise komme es gar zum Skalenbruch, wenn der angewandte Maßstab das Objekt nicht mehr ausreichend beschreiben kann. Der (extrem) skalierte Untersuchungsgegenstand, der von Spoerhase experimentell als „Skalierungsartefakt“ bezeichnet wurde, kann in seinem neuen Zustand aber auch eine eigene Ästhetik entfalten – ob als Kurzfassung, als literarischer Korpus oder als Pinselstrich. Gleichzeitig offenbarte sich in den meisten Vorträgen die besondere Herausforderung, verschiedene Skalierungen beziehungsweise Skalenenden – ob Mikro-Makro oder Global-Lokal – miteinander in Einklang zu bringen, und zog sich so als impliziter Faden durch die Tagung.
An die Überlegungen, wie Skalierungsprozesse neue Sichtbarkeiten, aber auch Unsichtbarkeiten schaffen können, schloss LISA REGAZZONI (Bielefeld) mit einem Vortrag über das historisch Unskalierbare an: nicht mehr sinnlich fassbare „blinde Flecken“, die zwischen (materiellen) Quellen liegen. Dem unsichtbaren „Dazwischen“ beziehungsweise die einst sinnlich erfahrbare Vergangenheit könne man nur durch Fokus auf seinen relationalen Charakter näherkommen, also seinen Effekt auf seine Umgebung beobachten. Diese blinden Flecken müssten von Forscher:innen, um Geschichten erzählen und historische Tatsachen konstruieren zu können, überbrückt werden. Regazzoni verdeutlichte damit einmal mehr, dass Geschichte immer aus der Gegenwart heraus geschrieben wird, wobei Wissenschaftler:innen das „Original“ – das ursprüngliche Zeugnis – durch Skalierung und die Konstruktion von Zusammenhängen verändern. So warf dieser Vortrag auch erneut die Frage auf, ob ein skaliertes Objekt noch seinen originalen Charakter behält und welche Auswirkung Skalierung nicht nur auf den Untersuchungsgegenstand, sondern auch auf die zu erwartenden Erkenntnisse hat.
Eben diese Frage nach dem Original griff auch die abschließende Diskussion als zentralen Punkt auf. Letztlich setzt Skalierung häufig auch die Existenz eines „Originals“ voraus, sei es eine der Kurzfassung zugrunde liegende Langfassung, ein Bild oder Werke aus einem Korpus. Den Umgang mit „Originalen“ gilt es ebenso zu reflektieren wie die Wertzuschreibungen und Normen, die mit Skalierungen einhergehen oder dadurch unter Druck geraten. Ebenso zentral stellte sich über die Tagung hinweg die Frage nach der Verwendung von Metaphern als Mittel, um Skalierungsprozesse fassbar zu machen. Dabei lässt sich Skalierung selbst als Mittel begreifen, um schwer Fassbares in die menschliche Wahrnehmungswelt zu überführen sowie für den Menschen messbar zu machen: Was Sina Steglich und Benjamin Krautter vor allem auf digitale Datenmengen münzten, kann aber ebenso auf die Genese von Klimasystemen wie in Karolin Wetjens Vortrag angewandt werden. Skalierung, so ließe sich festhalten, setzt folglich zwingend den Menschen als Bezugspunkt voraus. Dabei erlaubt die Analyse historischer Skalierungsprozesse, das eigene (wissenschaftliche) Vorgehen kritisch zu reflektieren. Gleichzeitig kann Skalierung selbst als Methode neue Erkenntnisse ermöglichen, indem es Bekanntes einem neuen Blick unterzieht – aus der Vogelperspektive oder auf die materielle Essenz heruntergebrochen. Skalierung als Prozess kann also Neues sichtbar machen, erzeugt aber gleichzeitig Unsichtbarkeit.
Durch die Interdisziplinarität der Vorträge wurde der Blick auf Skalierungsprozesse in jedem Fall bereichert. Gleichzeitig blieb der Begriff der „Skalierung“ selbst dadurch auch unscharf, da er für jede wissenschaftliche Disziplin durchaus eine eigene Bedeutung besitzen mag. Am Ende erscheint es aber fruchtbar, auf den aufgeworfenen Fragen aufzubauen und Skalierung als historische Praxis wie als forscherische Methode ernst zu nehmen.
Konferenzübersicht:
Sina Steglich (München): Einführung. Vergangenheiten en gros und en détail – Maßstäbe als Bedingung und Begrenzung von Erkenntnis
Panel 1: Skalierungen an der Schwelle von Natur und Kultur
Moderation: Roland Wenzlhuemer (München)
Karolin Wetjen (Göttingen): Lokal, regional, global. Wie vergangene Skalierungen das Bild vom Klima prägen
Panel 2: Zooming in and Zooming out: Skalierungsvorgänge und/als Methodenreflexion
Moderation: Sina Steglich (München)
Benjamin Krautter (Heidelberg): Skalierungsfragen und Messoperationen: Zu den methodischen Konsequenzen computergestützter Textanalysen in der Literaturwissenschaft
Carlos Spoerhase (München): Vergangene Textkulturen vermessen: Am Beispiel von Kurzfassungen
Panel 3: Skalierungen und die Frage der (fehlenden) Anschaulichkeit von Vergangenheiten
Moderation: Iryna Klymenko (München)
Britta Hochkirchen (Jena): Un/Sichtbar: Mediale Faktoren der Skalierung
Lisa Regazzoni (Bielefeld): Wann haben wir aufgehört, die Vergangenheit zu sehen? Die Aporien der Augenzeugenschaft und die Grenzen historischer Skalierung
Abschlussdiskussion
Moderation: Sina Steglich (München)
Anmerkungen:
1 Sina Steglich, Maß nehmen als Maßnahme. Skalierung als Herausforderung der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 218 (2024) 2, S. 263–289, hier S. 263.
2 Steffen Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017, S. 23f.
3 Jeremy Adelman, What is global history now?, in: aeon, 02.03.2017, https://aeon.co/essays/is-global-history-still-possible-or-has-it-had-its-moment (20.11.2024); Richard Drayton / David Motadel, Discussion. The futures of global history, in: Journal of Global History 13 (2018) 1, S. 1–21.
4 Carlos Spoerhase, Kurzfassungen. Über das Komprimieren von Literatur, Göttingen 2024.