Antiparlamentarismus im Europa der Zwischenkriegszeit

Antiparlamentarismus im Europa der Zwischenkriegszeit

Organisatoren
Stiftung Ettersberg; Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V.; Landeszentrale für politische Bildung Thüringen
PLZ
99423
Ort
Weimar
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
08.11.2024 - 09.11.2024
Von
Aaron Friedrich, Universität Jena

Wie lässt sich die parlamentarische Demokratie zerstören? Und wie lässt sie sich vor ihrer Zerstörung bewahren? Diese für die Gegenwart so brisanten Fragen standen im Zentrum des 22. Internationalen Symposiums der Stiftung Ettersberg, das die strukturellen Schwächen des parlamentarischen Systems und deren strategische Ausnutzung durch antiparlamentarische Kräfte in der europäischen Zwischenkriegszeit untersuchte. Die Wahl des Tagungsorts und -zeitpunkts hätte dabei kaum treffender sein können: Wenige Wochen nach der Landtagswahl in Thüringen versammelten sich Wissenschaftler:innen im Weimarer Reithaus, um die historischen Dimensionen antiparlamentarischer Bewegungen zu analysieren. Die Aktualität des Themas wurde bereits in der Eröffnung durch JÖRG GANZENMÜLLER (Weimar/Jena) deutlich, der auf die jüngsten antiparlamentarischen Taktiken im Thüringer Landtag verwies. Der Ort Weimar selbst, als Symbol sowohl demokratischer Hoffnung als auch deren Scheiterns, bildete einen bedeutungsvollen Rahmen für die Frage, wie parlamentarische Systeme von innen ausgehöhlt werden können und welche Gegenstrategien möglich sind.

ANDREAS WIRSCHING (München) eröffnete die Tagung mit einer grundlegenden Analyse dreier struktureller Spannungen, die den Parlamentarismus der Zwischenkriegszeit prägten und bis heute nachwirken. Die erste und fundamentalste manifestierte sich im Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten: Während Edmund Burke die Notwendigkeit der Repräsentation für das Gemeinwohl betonte, sah Jean Jacques Rousseau darin eine Form der „Versklavung“ des Volkswillens – ein Gegensatz, der sich durch die gesamte Tagung ziehen sollte. Als zweites Spannungsfeld identifizierte Wirsching das Parteienparadox: Parteien waren einerseits für das Funktionieren des Parlamentarismus unerlässlich, zogen aber durch ihre Professionalisierung und vermeintlich oligarchischen Strukturen fundamentale Kritik auf sich. Das dritte Dilemma zeigte sich in der „verzweifelten Langsamkeit“ parlamentarischer Prozesse angesichts einer sich beschleunigenden Moderne.

Die erste Sektion verdeutlichte, wie diese strukturellen Spannungen des Parlamentarismus von verschiedenen Akteuren aufgegriffen und instrumentalisiert wurden. JENS-CHRISTIAN WAGNER (Weimar/Jena) analysierte am Beispiel des Thüringer Ordnungsbunds, wie konservative Kräfte das Parteienparadox nutzten: Wagner zeigte zwei parallel verlaufende Entwicklungen auf: Einerseits höhlte der in dezidierter Gegnerschaft zum sozialdemokratischen und kommunistischen Lager formierte Ordnungsbund systematisch jene Institutionen aus, in denen er selbst agierte. Andererseits traf er zunehmend autoritäre politische Entscheidungen wie die Aufhebung des Redeverbots für Adolf Hitler, die Vertreibung des Bauhauses aus Weimar und eine diskriminierende Polizeiverordnung gegen Sinti:zze und Rom:nja. Bemerkenswert ist dabei, dass beide Entwicklungen bereits vor dem Einzug der NSDAP ins Landesparlament und lange vor deren Machtübernahme einsetzten. Das Fehlen einer starken katholischen Zentrumspartei im protestantischen Thüringen begünstigte diese antiparlamentarische Dynamik zusätzlich. Eine andere Dimension der Repräsentationskrise analysierte LUBOŠ VELEK (Prag) am Beispiel der späten Tschechoslowakei. Hier war es die ethnisch-nationale Fragmentierung in über dreißig Parteien, die das parlamentarische System von innen heraus schwächte – ein Problem, das sich in ähnlicher Form auch in Jugoslawien zeigte. Diese strukturelle Schwäche erwies sich angesichts der externen Bedrohung durch Nazi-Deutschland als fatal: Die Abtretung des überwiegend deutschsprachigen Sudetenlandes 1938 destabilisierte das ohnehin fragile System der ethnischen Repräsentation vollends. Das dritte von Wirsching identifizierte Dilemma, die „verzweifelte Langsamkeit“ parlamentarischer Prozesse, stand im Zentrum des Vortrags von DIETMAR MÜLLER (Leipzig). Am Beispiel Rumäniens zeigte er, wie technokratisch-korporatistische Eliten das Effizienzproblem des Parlamentarismus für ihre Zwecke instrumentalisierten. Deren prominentester Vertreter, Mihail Manoilescu, verband 1934 seine Parlamentarismuskritik mit dem Versprechen einer effizienteren Wirtschaftsordnung. Seine „nationalliberale Wirtschaftstheorie“ diagnostizierte eine strukturelle Ausbeutung der Agrarländer durch Industrieländer und propagierte als Lösung die Integration von Verbänden und Gewerkschaften in den Staat. Diese Ideen fielen in Rumänien auf fruchtbaren Boden, da das politische System mit seinen weitreichenden monarchischen Befugnissen bereits autoritäre Züge trug.

Die zweite Sektion vertiefte die Analyse, indem sie die konkreten Praktiken des Antiparlamentarismus in den Blick nahm. Dabei offenbarte sich ein bemerkenswertes Muster: Während die ideologische Ablehnung der parlamentarischen Demokratie oft radikal und kompromisslos war, erwies sich in der politischen Praxis eine Strategie der schleichenden Unterwanderung als besonders wirksam. TOBIAS KAISER (Berlin) analysierte am Beispiel der Weimarer Republik das komplexe Zusammenspiel von parlamentarischer Obstruktion und außerparlamentarischer Opposition. Die von national-konservativen Kräften praktizierten Formen der parlamentarischen Störung waren vielfältig, wurden aber durch einen grundlegenden Antikommunismus geeint; eine ideologische Ausrichtung, die sich auch in der selektiven Behandlung politischer Aktionen durch Polizei und Öffentlichkeit widerspiegelte. Eine noch systematischere Form der Parlamentarismusbekämpfung offenbarte THOMAS KROLL (Jena) am Beispiel des italienischen Faschismus. Die ideologische Grundlage ihrer Parlamentarismuskritik knüpfte dabei direkt an die von Wirsching analysierte Rousseau‘sche Vorstellung eines unmittelbaren Volkswillens an: Die parlamentarische Demokratie wurde als „Pestgeschwür“ gebrandmarkt, das beseitigt werden müsse, um den „wahren Volkswillen“ durchzusetzen. In der praktischen Umsetzung verfolgten die Faschisten jedoch eine subtilere Strategie der institutionellen Transformation. Statt das Parlament abzuschaffen, formten sie es durch legislative Maßnahmen wie das Legge Acerbo-Gesetz von 1923 und gezielte Einschüchterung der Opposition zu einem Instrument des Regimes um. Das Parlament wurde so bei formaler Aufrechterhaltung seiner Funktionsweise und Strukturen seiner demokratischen Substanz beraubt. Eine dritte Variante antiparlamentarischer Praxis analysierte KAMILA STAUDIGL-CIECHOWICZ (Wien) für Österreich und Polen: die scheinlegale Aushebelung parlamentarischer Kontrolle durch Notverordnungen und Ermächtigungsgesetze. Die Reaktivierung und Zweckentfremdung von Ermächtigungsgesetzen aus dem Ersten Weltkrieg erlaubte es autoritären Führern wie Engelbert Dollfuß, unter dem Deckmantel der Legalität schrittweise alle demokratischen Kontrollinstanzen – von der Presse über das Parlament bis zum Verfassungsgericht – lahmzulegen. Diese Strategie wurde durch die Verlagerung antiparlamentarischer Praxis auf die Straße ergänzt, wo paramilitärische Gruppierungen zunehmend an Bedeutung gewannen.

Die dritte Sektion richtete den Blick auf demokratische Gegenkräfte und ihre Strategien im Umgang mit den strukturellen Problemen des Parlamentarismus. ANKE JOHN (Jena) analysierte mit dem thüringischen DVP-Politiker Georg Witzmann einen paradigmatischen Fall des Scheiterns liberaler Eindämmungsstrategie. Als Schuldirektor und konservativer Pädagoge alter Schule verkörperte Witzmann jenen Typus des rechtsliberalen Bildungsbürgers, der die von Wirsching beschriebene Spannung zwischen Repräsentation und Volkswillen in seiner eigenen politischen Praxis erfuhr. Seine Position als Fraktionsführer der DVP während der NSDAP-Regierungsbeteiligung machte ihn zum „Brückenbauer“ zwischen bürgerlichem Lager und Nationalsozialisten – eine Rolle, die er zunächst mit der größeren ideologischen Nähe zur NSDAP im Vergleich zur Sozialdemokratie rechtfertigte. Johns Analyse von Witzmanns Tagebüchern offenbarte das „Dilemma eines bekennenden Parlamentariers“: Sein Festhalten an parlamentarischen Spielregeln und die Hoffnung, die NSDAP im Parlament „entlarven“ zu können, erwiesen sich als fatal angesichts einer Bewegung, die diese Regeln grundsätzlich ablehnte. Ein erfolgreicheres, wenn auch zeitlich begrenztes Beispiel demokratischer Gegenwehr präsentierte THOMAS RAITHEL (München) mit der französischen Volksfront. Die Unruhen vom 6. Februar 1934, bei denen über 100.000 Menschen demonstrierten und die in gewaltsamen Zusammenstößen mit 20 Toten und über 1.000 Verletzten endeten, führten zu zwei unterschiedlichen demokratischen Reaktionen: der breiten Regierung der Union Nationale und der Bildung eines linken Volksfrontbündnisses. Anders als in anderen Ländern gelang es hier zeitweise, das Parteienparadox durch breite Bündnisbildung produktiv zu wenden. Obwohl beide Ansätze tagespolitisch scheiterten, konnten sie der rechtsradikalen Bewegung ihre Dynamik nehmen. JURE GAŠPARIČ (Ljubljana) verdeutlichte am Beispiel der jugoslawischen Skupština, wie der Parlamentarismus auch ohne dezidiert faschistische Bewegungen oder autoritäre Ideologien von innen heraus kollabieren konnte. Dabei manifestierten sich genau jene strukturellen Schwächen, die Wirsching eingangs als grundlegende Dilemmata des Parlamentarismus identifiziert hatte: Die Langsamkeit der Entscheidungsfindung, die sich in endlosen Debatten selbst über scheinbar banale Fragen wie sprachliche Formulierungen zeigte, bestätigte das Bild eines ineffizienten Systems. Die Eskalation dieser Konflikte bis hin zur tödlichen Schießerei auf kroatische Abgeordnete 1928 offenbarte die Fragilität des parlamentarischen Systems. Die breite Zustimmung zur anschließenden Königsdiktatur von Diplomaten über Politiker bis zu Wissenschaftlern verdeutlichte dabei eine fatale Fehleinschätzung der demokratischen Kräfte: In der Hoffnung auf eine Überwindung der parlamentarischen Krise durch den König applaudierten sie ihrer eigenen Entmachtung.

Die vierte Sektion widmete sich der visuellen und medialen Dimension des Antiparlamentarismus und verdeutlichte dabei, wie die von Wirsching identifizierten strukturellen Spannungen des Parlamentarismus in der öffentlichen Kommunikation sowohl reflektiert als auch verstärkt wurden. ANDREAS BIEFANG (Berlin) analysierte die antiparlamentarische Bildagitation der Weimarer Republik als Ausdruck einer fundamentalen Repräsentationskritik, die bereits mit der Entstehung des modernen Parlamentarismus im 18. Jahrhundert aufkam. Während das parlamentarische System auf der Idee der abstrakten Repräsentation basierte und damit grundsätzlich auf Öffentlichkeit und Kommunikation angewiesen war, zielte die visuelle Propaganda gezielt darauf ab, das Vertrauensverhältnis zwischen Wählern und Gewählten zu unterminieren. Biefang identifizierte dabei drei zentrale Bildtypen: die Darstellung des „gesichtslosen Funktionärs“, die die vermeintliche Entfremdung der Parlamentarier vom Volk symbolisierte, die Abbildung des „zugewandten Rückens“, die kulturell codierte Missachtung ausdrückte, sowie den Bildtypus des „Leviathan“, der, ähnlich wie später die faschistischen Bewegungen, eine unmittelbare Verbindung zwischen Volk und Staat ohne parlamentarische Vermittlung suggerierte. Die internationale Dimension dieser medialen Delegitimierung verdeutlichte BENJAMIN CONRAD (Berlin) am Beispiel Lettlands. Seine Analyse zeigte, wie die deutsche Entwicklung die politische Kultur anderer europäischer Länder prägte: Obwohl der Antiparlamentarismus in Lettland zunächst ein randständiges Phänomen war, wurde Deutschland zum zentralen Orientierungspunkt. Die lettische Presse verharmloste die Machtübernahme Hitlers als legalistischen Prozess und schuf damit ein Klima, in dem den parlamentarischen Demokratien grundsätzlich die politische Lösungskompetenz abgesprochen wurde – eine mediale Strategie, die sich auch in Kārlis Ulmanis' späterem Putsch 1934 widerspiegelte.

In der von HENRY BERNHARD (Erfurt) eröffneten Abschlussdiskussion wurden die historischen Erkenntnisse der Tagung auf gegenwärtige Herausforderungen des Parlamentarismus bezogen. Am Beispiel der AfD in Thüringen – insbesondere bei der „Kemmerich-Wahl“ am 5. Februar 2020 und durch das Agieren des Alterspräsidenten während der konstituierenden Landtagssitzung am 28. September 2024 – zeigte sich, wie die von Wirsching analysierten strukturellen Spannungen des Parlamentarismus auch heute instrumentalisiert werden. CLAUDIA GATZKA (Freiburg i. Br.) wies dabei auf einen bemerkenswerten Unterschied zur Zwischenkriegszeit hin: Während der historische Antiparlamentarismus stark auf außerparlamentarische Mobilisierung setzte, wie etwa Kaisers Analyse der Weimarer Straßenpolitik zeigte, verlagert sich der Kampf heute zunehmend in digitale Räume. Allerdings wurde diese Einschätzung in der Diskussion auch kritisch hinterfragt, da die AfD durchaus Verbindungen in die militante rechtsradikale Szene unterhält. JULIANA TALG (Dresden) analysierte die Strategie der AfD als „autoritären Populismus“, der sich vom historischen Antiparlamentarismus durch seine Inszenierungsform unterscheidet: Statt offener Regelbrüche erfolgt eine Aneignung demokratischer Rhetorik bei gleichzeitiger systematischer Schwächung demokratischer Institutionen, etwa durch die mögliche Blockade von Verfassungsrichterwahlen. Diese Taktik erinnert an die von Kroll analysierte Strategie des italienischen Faschismus, parlamentarische Strukturen formal beizubehalten, aber inhaltlich auszuhöhlen.

Die Konferenz machte deutlich, dass der Antiparlamentarismus weniger als geschlossene Ideologie denn als flexible Strategie zu verstehen ist, die auf strukturelle Schwächen des parlamentarischen Systems zielt. Offen blieb dabei die grundsätzliche Frage nach der Unterscheidung zwischen „antidemokratischen“ und „antiparlamentarischen“ Positionen. Die Tagung zeigte, dass die historische Analyse der Zwischenkriegszeit wertvolle Einsichten für gegenwärtige Herausforderungen bietet – nicht zuletzt die Erkenntnis, dass antiparlamentarische Bewegungen besonders erfolgreich sind, wenn sie die inhärenten Spannungen der parlamentarischen Demokratie für ihre Zwecke zu nutzen wissen.

Konferenzübersicht:

Jörg Ganzenmüller (Weimar/Jena) / Tobias Kaiser (Berlin): Eröffnung

Andreas Wirsching (München): Antiparlamentarismus im Europa der Zwischenkriegszeit

Sektion I: Akteure des Antiparlamentarismus

Jens-Christian Wagner (Weimar/Jena): Der Thüringer Ordnungsbund als parlamentarischer Akteur im Thüringer Landtag

Luboš Velek (Prag): Demokratie in der Klemme: die Liquidierung des Parlamentarismus in der „Tschecho-Slowakei“ 1938/39

Dietmar Müller (Leipzig): Die süße Versuchung der Effizienz: Technokratisch-korporatistischer Antiparlamentarismus im Rumänien der Zwischenkriegszeit

Sektion II: Die Praxis des Antiparlamentarismus

Tobias Kaiser (Berlin): Obstruktionspolitik und Straßenunruhen in der Weimarer Republik

Thomas Kroll (Jena): Der Antiparlamentarismus der italienischen Faschisten, 1919-1929

Kamila Staudigl-Ciechowicz (Wien): Die Exekutive als Gesetzgeber: Polen und Österreich in der Zwischenkriegszeit

Sektion III: Demokratische Gegenkräfte und Konflikte

Anke John (Jena): Georg Witzmann: Ein Schuldirektor und Fraktionsvorsitzender im Konflikt um die Thüringer Bildungspolitik

Thomas Raithel (München): Die Unruhen vom 6. Februar 1934 in Paris und ihre Folgen

Jure Gašparič (Ljubljana): Konflikte in der jugoslawischen Skupština

Sektion IV: Visualisierungen und mediale Repräsentationen

Andreas Biefang (Berlin): Antiparlamentarische Bildagitation in der Weimarer Republik

Benjamin Conrad (Berlin): Antiparlamentarismus und Öffentlichkeit in Lettland

Abschlussdiskussion: Antiparlamentarismus heute

Henry Bernhard (Erfurt) / Claudia Gatzka (Freiburg im Breisgau) / Juliana Talg (Dresden)

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