Die Jugend- und Lebensreformbewegungen gelten häufig – sowohl in der zeitgenössischen als auch historiographischen Betrachtung – als eine spezifisch deutsche Erscheinung. Zugleich lassen sich ähnliche Ausprägungen in anderen Ländern feststellen. Außerdem kann man davon ausgehen, dass die in Deutschland auftretenden Phänomene keineswegs in einem national abgeschotteten Raum entstanden sind und sich transnationale Einflüsse sowie Austauschprozesse erkennen lassen. Die Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung im Oktober 2024 widmete sich solchen globalen Ausprägungen. Damit hinterfragte man auch die Präsentation der Bewegungen als spezifisch deutsche Phänomene.
CAROLA DIETZE (Jena) führte in ihrem Eröffnungsvortrag aus, dass für eine globalgeschichtliche Verortung zunächst die Historisierung des Topos von der deutschen Jugend- und Lebensreformbewegung notwendig sei. Es gelte, den Topos auf seine Berechtigung hin zu befragen und ihn gegebenenfalls zu dekonstruieren. Zudem sei es notwendig, inter- und transnationale Verbindungen vermehrt zu erforschen, Vergleiche mit Ausprägungen von Jugend- und Lebensreformbewegungen in verschiedenen Ländern und Regionen der Welt anzustellen sowie Transfer- und Rezeptionsprozesse herauszuarbeiten. Mit Blick auf eine Historisierung des Topos von der deutschen Jugend- und Lebensreformbewegung präsentierte Dietze drei Thesen. Erstens folge die Wahrnehmung der Bewegungen als spezifisch deutsch dem Selbstverständnis der Akteure, welches zweitens durch Erinnerungspolitik und Selbsthistorisierung von Jugendbewegten im Rahmen der historiographischen Auseinandersetzung nach 1945 verfestigt worden sei. Hierbei handle es sich um eine „Sonderwegthese“ im Kleinen. Drittens habe die Geschichtswissenschaft dieses Bild weiter zementiert, nicht zuletzt indem sie die nicht-bürgerlichen sowie internationalen Ausprägungen der Jugend- und Lebensreformbewegung weitgehend ausgeblendet habe. Dietze sprach sich dafür aus, die Bewegungen nicht als exklusiv deutsche Phänomene zu denken. Vielmehr gelte es, internationale Einflüsse und vergleichbare Erscheinungen in anderen Ländern zu betrachten, was die Geschichtsschreibung zwar komplizierter, aber auch interessanter werden lasse.
Die Quellenbestände, Nutzungsstatistiken und Kooperationen des Archivs der deutschen Jugendbewegung im Hinblick auf eine Internationalisierung behandelte SUSANNE RAPPE-WEBER (Witzenhausen). Die Archivalien mit internationalem Bezug konzentrierten sich für die Zeit vor 1945 hauptsächlich auf Berichte über Auslandsfahrten und einen vergleichsweise unentdeckten Bestand an internationalen Zeitschriften aus dem Pfadfindertum. Insgesamt bezögen sich die meisten Quellen jedoch auf die Verhältnisse im deutschsprachigen Raum. Hinsichtlich der Nutzung des Archivs berichtete sie, dass von 2002 bis 2022 93 Prozent der Nutzenden aus Deutschland und nur 7 Prozent internationaler Herkunft gewesen seien. Die bestehenden Kooperationen böten Möglichkeiten zur internationalen Vernetzung und Festlegung eigener Schwerpunkte, etwa in einem Projekt zu kolonialen Jagdtrophäen, für das ein zentraler Lebensreformer-Nachlass Auskunft bietet. Damit ermöglicht das Archiv gezielte Anknüpfungspunkte für eine internationalisierte Betrachtung der Jugend- und Lebensreformbewegungen.
JULIA HAUSER (Berlin) betrachtete den Vegetarismus in Deutschland und Indien. Dieser sei als Bewegung in Europa im Kontext der Industrialisierung entstanden und als Lösung für die angeblich drohende Degeneration sowie zur „Hebung der arischen Rasse“ (Bernhard Förster) wahrgenommen worden. In Indien müsse man vom Vegetarismus als Oberschichtenphänomen sprechen. Dies habe sich mit dem Kolonialismus im 19. Jahrhundert geändert, da der Fleischverzicht als Grund für Schwäche dargestellt worden sei und Personen der indischen Oberschicht nun demonstrativ Fleisch gegessen hätten. Zeitgleich könne man in Indien die Gründung von vegetarischen Vereinen feststellen. Gewalt sei hierbei teilweise akzeptiert bis angestrebt worden, indem sich der Vegetarismus – als „Kampf gegen die Feinde der Kuh“ – gegen Muslime, aber auch die britische Besatzung gerichtet habe. Die erfolgreiche Rezeption von indischem Vegetarismus in der westlichen Welt lasse sich daher auch mit der hohen Schnittmenge zwischen den westlich-antisemitischen und indisch-antimuslimischen Diskursen erklären. Insgesamt könne man von vielfältigen Verflechtungen zwischen Deutschland und Indien hinsichtlich des Vegetarismus sprechen.
Ebenfalls einen Bezug zu Indien wies der Vortrag von DANIEL SIEMENS (Newcastle) auf. Er beschäftigte sich mit Nachkommen von Eliten kolonial beherrschter Gebiete in den europäischen Gesellschaften. Hierzu habe seit 1921 das „Indian News Service and Information Bureau“ (INSIB) in Berlin gehört. Dieser Ort des internationalen Austausches diente der Versorgung deutscher und indischer Medien mit Nachrichten sowie durch die Vermittlung von Praktika und Studentenjobs auch ökonomischen Absichten. 1922 sei es zur Gründung des „Verein der Inder in Zentraleuropa e. V.“ gekommen, der ein umfangreiches Kulturprogramm angeboten habe. Die ebenfalls praktizierten antikolonialen Aktivitäten hätten Vertreter:innen der (sozialistischen) Jugendbewegung angezogen. In der Folge seien einige transkulturelle Liebespaare entstanden. Insgesamt könne man von einem wirkmächtigen interkulturellen Austausch zwischen beiden Gruppen sprechen, welcher Vorbehalte vorheriger Generationen überwunden habe und erst im Laufe der 1930er-Jahre zum Erliegen gekommen sei.
INDRĖ ČUPLINSKAS (Edmonton) beschäftigte sich anhand der kanadischen „Association Catholique de la Jeunesse Canadienne-Française“ (ACJC), dem deutschen „Quickborn“ sowie dem litauischen „Ateitis“ mit drei katholischen Jugendbewegungen und untersuchte potenzielle Ausprägungen lebensreformerischer Ideen bei diesen. „Ateitis“ sei von der Reformpädagogik und Friedrich Wilhelm Foerster (1869–1965) geprägt worden. Er habe eine im christlichen Glauben begründete Ethik vertreten und als didaktische Mittel Autonomie sowie Selbstverwaltung der Lernenden ausgemacht. Die deutsche Bewegung „Quickborn“ sei von Romano Guardini (1885–1968) beeinflusst worden, welcher der Idee der Gemeinschaft eine wichtige Bedeutung zugeschrieben, eine aktive Involvierung der Laien in den Gottesdienst angestrebt sowie sich auf körperliche Praktiken und Übungen fokussiert habe. In Bezug auf die ACJC könne man keine Hinweise auf eine Beeinflussung durch lebensreformerische Ideen aus Deutschland feststellen. Vielmehr scheine wenig Interesse am Körper oder der Natur als Natur vorhanden gewesen zu sein.
Anhand von vier Beispielen behandelte MEIKE WERNER (Nashville) utopische Gemeinschaften im ländlichen Tennessee. „Nashoba Community“ sei von Frances Wright (1795–1852) gegründet worden und aufgrund ihrer abolitionistischen Einstellung von der Abschaffung der Sklaverei gekennzeichnet gewesen, jedoch innerhalb von fünf Jahren gescheitert. Die der „Rugby Community“ zugrunde liegende Vision habe eine klassenlose Agrargesellschaft fernab jeder Zivilisation, aber mit allen modernen Annehmlichkeiten angestrebt. Sie sei unter anderem aufgrund von Krankheiten, Geldmangel und ungenügenden Fähigkeiten der „Latin Farmers“1 gescheitert. „Ruskin Colony“ könne als Antwort auf die Lebensbedingungen der Industrialisierung angesehen werden. Der Begründer Julius Augustus Wayland (1854–1912) habe sich für den Schutz der Umwelt sowie die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen eingesetzt. Die Vorgeschichte von „The Farm“ bestünde in einer Predigttour von Stephen Gaskin (1935–2014). Im Anschluss daran hätten 1971 Anhänger:innen Gaskins eine bis 1983 von Kollektivgemeingut geprägte Gemeinschaft gegründet. Resümierend stellte Werner fest, dass die vier Gemeinschaften von charismatischen Führergestalten geprägt worden seien und es verstanden hätten, moderne Printmedien öffentlichkeitswirksam einzusetzen.
Ausgehend von der Frage, welcher Stellenwert Kindern und Jugendlichen in den Diskursen der Lebensreformbewegung zukam, beschäftigte sich LISA GERSDORF (Erfurt) mit drei Ansätzen der Reformpädagogik aus den USA. Ihr erstes Beispiel war die „Temple School“, die Amos Bronson Alcott (1799–1888) 1834 gegründet habe. Deren Unterrichtskonzept sei von der Absicht geprägt gewesen, mit Kindern Gespräche auf Augenhöhe zu führen. Nachdem die Schule viel Anerkennung erhalten habe, sei es aufgrund der Veröffentlichung von Unterrichtsdialogen, in denen Kinder die Bibel ausgelegt hätten, zu Kritik und sinkenden Schülerzahlen gekommen. Zweitens ging Gersdorf auf William Reuben George (1866–1936) ein. In der von ihm gegründeten „George Junior Republic“ hätten (auch weibliche) Jugendliche mit der Einführung einer eigenen Währung, der Gründung von Gewerbe oder der regelmäßigen Wahl eines Parlamentes Verantwortung übernommen und Gemeinschaft gestaltet. Drittens präsentierte Gersdorf das 1882 von John Ballou Newbrough (1828–1891) gegründete „Shalam: Children’s Land“, das den Aufbau eines neuen Heiligen Landes zum Ziel hatte. Hierfür habe man jährlich 20 bis 30 Waisenbabys zur Erziehung aufgenommen. Aufgrund von Versorgungsproblemen sei „Shalam“ 1907 gescheitert. Zusammenfassend hielt Gersdorf fest, dass Kinder und Jugendliche in den drei Fallbeispielen jeweils als Hoffnungsträger:innen gesehen worden seien.
Die kolonialen Verstrickungen der (schweizerischen) Lebensreform betrachteten DAMIR SKENDEROVIC (Fribourg) und STEFAN RINDLISBACHER (Wien). Lebensreformer:innen hätten natürliche Lebensräume finden wollen und Kolonien als Labore für angestrebte Praktiken genutzt. Das der Lebensreformbewegung zugrunde liegende Motiv der Suche nach Ursprünglichkeit und Authentizität habe sich zudem im Interesse am „Naturmenschen“ geäußert. Lebensreformer:innen seien mittels der Exotisierung des „kolonial Anderen“ somit an der rassifizierenden Anwendung von Mechanismen des Otherings und einer kolonialen „Grammatik der Überlegenheit“ beteiligt gewesen. Skenderovic und Rindlisbacher betrachteten hierzu drei Fallbeispiele. Erstens gingen sie auf die Reisen des Werner Zimmermann (1893–1982) ein, die nicht in einer eskapistischen Flucht begründet, sondern mit einer wirtschaftlichen und ideologischen Kolonisierung der Natur verbunden gewesen seien. Zweitens galt der Fokus den Expeditionen des Arnold Heim (1882–1865), dessen in Teilen rassifizierende Beschreibungen „Naturvölker“ als stumme Projektionsfläche für lebensreformerische Ziele verwendet hätten. Drittens verwies der Vortrag auf Imaginationen von Ralph Bircher-Rauch (1899–1990) in der Veröffentlichung „Hunsa – das Volk das keine Krankheiten kennt“ (1942). In dieser werde auf der Grundlage einer rassistischen Denkweise und mittels rassenanthropologischer Argumentationsmuster ein realitätsfremder Mythos fabriziert. Die Fallbeispiele verdeutlichten damit die Notwendigkeit einer postkolonialen Perspektive bei der Betrachtung der Lebensreformbewegung.2
CAMILLE AUBOIN (Strasbourg) lenkte am Beispiel von Hans Paasche (1881–1920) und der Freikörperkultur ebenfalls den Fokus auf die lebensreformerisch-kolonialen Verflechtungen. Sie konzentrierte sich auf die 1912/13 publizierte Schrift „Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland“. In dieser sei eine Projektion lebensreformerischer Lebensweise auf afrikanische „Naturvölker“ feststellbar. Das Thema der Freikörperkultur werde aus einem hygienischen Standpunkt betrachtet und die „afrikanische Nacktheit“ im Gegensatz zur „europäischen Kleidung“ positiv verklärt. Gleichzeitig sei dies mit moralischen und biopolitischen Dimensionen verknüpft. So präsentiere Paasche im Sinne einer Wiederentdeckung biblischer Unschuld die Nacktheit als Reinigung, was in enger Verbindung mit einer Erotisierung des afrikanischen Frauenkörpers stehe. Der männliche Körper solle hingegen – mit dem Ziel der Vitalität des Volkes – diszipliniert werden, wobei Paasche einen Gegensatz zwischen verweichlichten europäischen und vitalen afrikanischen Körpern beschreibe. Die Freikörperkultur habe daher im Sinne einer „positiven“ Eugenik die Fortpflanzung gesunder Menschen verfolgt und Auswirkungen auf die Freideutsche Jugend gehabt.
Lebensbegriffe jenseits eines Natur-Geist-Dualismus betrachtete PAUL ZICHE (Utrecht). Er verwies auf die Idee des „Monismus“, nach welchem sich alle natürlichen und kulturellen Phänomene einheitlich erklären lassen könnten. Ein solcher sei von Ernst Haeckel (1834–1919) und Wilhelm Ostwald (1853–1932) vertreten worden. Mit Franciscus Donders (1818–1889) und Jacob Moleschott (1822–1893) betrachtete Ziche auch zwei Vertreter der physiologischen Chemie. Donders habe klassische teleologische Ansätze ebenso wie einen Anthropomorphismus kritisiert und die Wunder des Lebens als in der Chemie begründet angesehen. Moleschotts harmonisierendes Denken sei hingegen von der Einbettung aller Lebensphänomene in einen unendlichen Kreislauf ausgegangen. Außerdem gab Ziche mit Wilhelm Dilthey (1833–1911) einen Einblick in die Geisteswissenschaften. Dieser habe ein Programm der Einbettung des Lebens in übergreifende Zusammenhänge verfolgt und Natur- sowie Geisteswissenschaften vermischt. Der insgesamt feststellbare wissenschaftlich begründete Antidualismus sei von neuen – emotional aufgeladenen, aber wissenschaftlich begründeten – Begrifflichkeiten wie „Zusammenhang“, „Harmonie“ oder „Ordnung“ geprägt gewesen. Resümierend verwies Ziche darauf, dass die umfassend integrierenden Lebensbegriffe zu übereinstimmenden Formen einer Lebensanschauung führten. Zudem konstatierte er einige Forschungsdesiderate – beispielsweise hinsichtlich der Grenzen dieser Integrationsfähigkeit.
Die häufige Verknüpfung von Naturschutz und Lebensreform nahm FRIEDEMANN SCHMOLL (Jena) als Ausgangspunkt. Als leitendes Motiv beider Phänomene identifizierte er die Wahrnehmung einer Verlusterfahrung.3 Entscheidend für die Sammlungsbewegung des Naturschutzes sei, dass man mit der Industrialisierung die zuvor als bedrohlich charakterisierte Natur nun selbst als bedroht wahrgenommen und sich ethischer, sozialpolitischer, rassistischer oder ökonomisch-utilitaristischer Begründungslogiken bedient hätte. Schmoll stellte zudem beispielhafte Anhänger vor: Hugo Conwetz (1855–1922) habe auf der Grundlage einer bewahrenden Motivation die Musealisierung der bedrohten Natur angestrebt. Eine Aufforderung zum Naturschutz mithilfe sozialpolitischer Argumente lasse sich in einer 1912 gehaltenen Rede von Karl Liebknecht (1871–1919) feststellen. Bei Paul Schultze-Naumburg (1869–1949), der sich zum „Vulgärrassisten“ entwickelt habe, seien schließlich eine pessimistische Beobachtung der Umwelt sowie Entwicklung einer ästhetischen Codierung lebensweltlicher Gegebenheiten auf der Grundlage völkischen Gedankenguts zu erkennen. Insgesamt befinde sich die Naturschutzbewegung in einem Spannungsfeld zwischen Spezifität und Internationalität, indem sie einerseits als typisch deutsch präsentiert werde, ihr aber andererseits eine allgemeine Entwicklungslogik moderner Gesellschaften zugrunde liege.
CORINNA TREITEL (St. Louis) beschäftigte sich anhand der Publikation „Wegweiser zur Gesundheit. Die Kraft der Ayurveda“ von Mahatma Gandhi (1869–1948) mit weltweiten Netzwerken von Gesundheitswissen. Im 19. Jahrhundert könne man in Deutschland ein vermehrtes Interesse an und wachsende Verbreitung von – teils auch aus anderen Teilen der Welt stammenden – Gesundheitspraktiken erkennen. In Bezug auf das Buch von Gandhi sei interessant, dass er dieses mit einer antikolonialen sowie damit antibritischen Motivation verfasst und sich dabei auf die deutsche Naturheilkunde bezogen habe. In einer von Gandhi überarbeiteten Form sei diese schließlich wieder zu einem deutschen Publikum gelangt, indem kleinere Verleger – wie der Rotapfel-Verlag in Zürich – oder persönliche Kontakte für die Vermittlung der Schrift in Europa gesorgt hätten. Resümierend verwies Treitel darauf, dass ihr Fallbeispiel von den Verstrickungen der deutschen Naturheilkunde mit den südasiatischen Ayurveda-Praktiken und der Bedeutung internationaler Netzwerke der Wissensverbreitung zeuge.
Zusammenfassend hielt MEIKE S. BAADER (Hildesheim) fest, dass die Vorträge ertragreich verschiedene Schwerpunkte innerhalb der globalgeschichtlichen Betrachtung der Jugend- und Lebensreformbewegungen gesetzt hätten. Hierbei seien unterschiedliche Perspektiven eingenommen und Aspekte einer globalen Geschichte der deutschen Jugendbewegung ebenso herausgearbeitet worden wie Aspekte einer Geschichte globaler Jugendbewegungen. Gleichwohl gelte es, Begriffe wie Bewegung oder Jugend zu schärfen. Darüber hinaus stellte Baader fest, dass die Kategorie des Geschlechts nur am Rande erwähnt worden und in Zukunft ebenso zu erforschen sei wie die Funktionsweise von globalen Wissenstransferprozessen. Abschließend plädierte Baader für eine weniger illustrative Verwendung von Bildern, deren Eigensinn man ernst nehmen müsse.
Die drei globalgeschichtlichen Tage auf der Jugendburg Ludwigstein waren insgesamt produktiv und ertragreich. Im Rahmen von fünf Panels beschäftigten sich die Tagungsteilnehmenden mit kolonialen Verstrickungen und globalen Austauschprozessen, aber auch theoretischen Abhandlungen ebenso wie praktischen Umsetzungen der Lebensreform. Damit wurde in Teilen das Narrativ einer deutschen Bewegung hinterfragt. Es stellte sich heraus, dass man erst am Anfang der Hinterfragung des Konzeptes steht und viele Forschungsdesiderate bestehen. Für die Erkundung weiterer Aspekte dieses vielfältigen Themas wird sicherlich der für Mai 2025 geplante Workshop „Jugendbewegungsforschung“4 eine Gelegenheit bieten.
Konferenzübersicht:
Carola Dietze (Jena): Auf dem Weg zu einer Globalgeschichte der Jugend- und Lebensreformbewegung. Erste Schritte, Fragen und Perspektiven
Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen): Perspektiven der Internationalisierung des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Quellen, Nutzung, Kooperationen
Deutschland und Indien transnational
Moderation: Wolfgang Braungart (Bielefeld)
Julia Hauser (Berlin): Vegetarismus und religiös fundiertes Othering in Indien und Deutschland im späten 19. Jahrhundert
Daniel Siemens (Newcastle): Sozialistische Jugendbewegung und anti-kolonialer Freiheitskampf. Leben und Arbeiten im „Indischen Nachrichten- und Informationsbüro“ im Berlin der 1920er-Jahre
Jugend- und Lebensreform in Osteuropa
Moderation: Gudrun Fiedler (Braunschweig)
Indrė Čuplinskas (Edmonton): Catholics and Youth and Life Reform Movements, 1900s–1930s. Yes, No, Maybe? Snapshots from Lithuania, Germany and French Canada
Jugend- und Lebensreform in und aus den USA
Moderation: Dirk Schumann (Göttingen)
Meike Werner (Nashville): Utopische Gemeinschaften im ländlichen Tennessee
Lisa Gersdorf (Erfurt): „To Make Children Feel their Importance.“ Perspektiven auf Kinder und Jugendliche in den USA
Jugend- und Lebensform und die Kolonien
Moderation: Detlef Siegfried (København)
Damir Skenderovic (Fribourg) / Stefan Rindlisbacher (Wien): Koloniale Verstrickungen der Lebensreform. Reisen, Expeditionen, Imaginationen
Camille Auboin (Strasbourg): Die Vorbildfunktion der kolonisierten Völker Afrikas in Hans Paasches Lebensreform
Lebensreform, Lebensphilosophie und Naturschutz international
Moderation: Carola Dietze (Jena)
Paul Ziche (Utrecht): Lebensphilosophie und Lebenswissenschaft. Lebensbegriffe jenseits eines Natur-Geist-Dualismus
Friedemann Schmoll (Jena): Naturschutz und Lebensreform. Beziehungen und Vernetzungen – nationale Akzente und internationale Tendenzen
Corinna Treitel (St. Louis): Kreisläufe der Weltmedizin
Schlussdiskussion
Meike S. Baader (Hildesheim): Zusammenfassung
Anmerkungen:
1 Diese hätten zwar Kenntnisse in der lateinischen Sprache, aber nur ungenügendes Wissen über die Bewirtschaftung von Feldern gehabt.
2 Eine solche wird unter anderem in einer aktuellen Publikation der Referierenden eingenommen. Vgl. Stefan Rindlisbacher / Eva Locher / Damir Skenderovic (Hrsg.), Transnational, kolonial, aktuell. Neue Perspektiven auf die Geschichte der Lebensreform, Basel 2024.
3 Vgl. hierzu die kürzlich erschienene Monographie Andreas Reckwitz, Verlust. Ein Grundproblem der Moderne, Berlin 2024.
4 Vgl. hierzu Archiv der deutschen Jugendbewegung, Workshop „Jugendbewegungsforschung“, https://www.burgludwigstein.de/forschen/veranstaltungen/workshop-jugendbewegungsforschung (23.11.2024).