Harte Grenzen oder fließende Übergänge? Städte grenzten und grenzen sich von ihrem Umland ab. Diese Abgrenzungen können zum Beispiel durch Stadtmauern oder die Bebauungsdichte und den Stil der Gebäude räumlich beziehungsweise physisch sichtbar sein. Sie können sich aber auch in der politisch-administrativen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Struktur und Lebenswelt ihrer Bewohner:innen manifestieren, die sich beispielsweise im Hinblick auf das breite Angebot an öffentlicher Transportinfrastruktur in Städten im Vergleich zu ländlichen Räumen teils erheblich unterschied und unterscheidet. Städte definieren sich also häufig über die Abgrenzung zu ihrem Umland. Gleichzeitig sind die Übergänge fließend beziehungsweise die Grenze weich. Beide Räume sind von den Wechselbeziehungen untereinander abhängig. Wechselseitige Migrations- und Mobilitätsprozesse, Handelsbeziehungen sowie Waren- und Stoffströme sind dafür nur einige Beispiele.1 Grenzen werden allerdings nicht nur konstruiert und gehalten, sie müssen auch (an-)erkannt werden, werden überschritten und zum Teil verwischt und sind zeitabhängig. Die Nachwuchstagung der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU) legte den Fokus genau auf dieses Thema und stellte sich die Frage, welche städtischen Grenzen wie konstruiert und gegebenenfalls überschritten wurden und werden.
ANNA GONCHAR (München) diskutierte Grenzüberschreitungen im Sinne der städtebaulichen Entwicklung und Ausweitung der Stadt Köln über den Rhein in den heutigen Stadtteil Deutz in der Zwischenkriegszeit. Dabei betonte sie die Bedeutung der Presseausstellung – der sogenannten „Pressa“ – im Jahr 1928 als Treiber der Entwicklung, die mit dem Versuch verbunden war, Köln durch städtebauliche Maßnahmen als Ausstellungs- und Messestadt zu etablieren. Als Kern des Projekts unter Bürgermeister Konrad Adenauer wurde demnach ein großes, modernes Messeareal mit Pressehaus errichtet. Das bedeutete eine Verschiebung der funktional-baulichen Stadtgrenze über den Rhein. Gonchar betonte dabei auch die gezielte Präsentation der städtebaulichen Veränderung in publizierten Druckerzeugnissen der Zeit. Die offizielle Darstellung der Ausstellung – durchgeführt durch die Ehmke Werkstat – setzte zum Beispiel auf eine Gegenüberstellung des modernen Ausstellungsgeländes mit der Altstadt beziehungsweise illustrierte den Kontrast zwischen diesen, indem eine Gegenüberstellung des neuen Messeturms mit dem Kölner Dom als Hauptmotiv der Darstellungen diente.
FRANK ROCHOW (Cottbus) diskutierte Befestigungsbaurayons als Grenzen und Kontaktzonen sowie einige Aspekte der Überschreitung dieser Grenzen am Beispiel der Festungsbauten in Krakau und Lemberg nach 1848. Die Anlegung solcher Rayons stand im Kontext des Ausbauprozesses staatlicher Herrschaft im 19. Jahrhundert. Die Festungsrayons bildeten das militärische Vorgelände der Festung, also das potenzielle Kampfgelände, das gezielt offen bleiben sollte. Bauten waren dort daher explizit nicht gewünscht („Bauverbotsgelände“). Dadurch zogen die Rayons eine räumlich sichtbare Grenze zwischen Stadt sowie Festung und wirkten sowohl separierend als auch verbindend. Rochow interpretierte Rayons insofern als Kontaktzone zwischen militärischen und städtischen Akteur:innen, weil über sie Grenzüberschreitungen vorgenommen beziehungsweise Konflikte ausgetragen wurden. So sei aus Sicht der Magistrate bereits die Planung und Anlegung eine Grenzüberschreitung gewesen, weil dadurch gegebenenfalls städtischer Besitz enteignet wurde. Als eine andere Form der Grenzüberschreitung nannte Rochow die Nutzung des unbebauten Geländes zum Beispiel als Viehweide. Die Rayons übernahmen somit auch immer die Funktion einer Kontaktzone.
DOROTHEA HUTTERER (München) fokussierte Grenzüberschreitung mit Blick auf räumliche Konflikte und deren Repräsentation in Kartenmaterial. Karten bilden ihr zufolge drei Formen von Grenzen ab: naturräumliche Grenzen (zum Beispiel Flüsse), menschengemachte Grenzen (zum Beispiel Gräben) und Grenzlinien, die als strukturierende Kennzeichen lediglich in den Karten aufscheinen. Am Beispiel der Stadt Mühldorf am Inn – einer zum Erzstift Salzburg gehörigen Exklave im Kurfürstentum Bayern – zeigte sie, dass sich Landnutzungskonflikte um das städtische Umland in Karten insbesondere aufgrund dieser speziellen territorial-herrschaftlichen Situation gut beobachten lassen. Dabei handelte es sich um eine Schwierigkeit, die sich, wie in der Diskussion betont wurde, auch für Reichsstädte stellte. Dadurch zeigten sich in Karten nicht nur politische-administrative Grenzen, sondern insbesondere auch die Konflikte rund um die Nutzung von Holz- und Jagdrechten sowie landwirtschaftlichen Flächen. Die Entstehung einer Karte interpretierte Hutterer daher als sozialen Prozess, über den diese wechselseitigen Interessen ausgehandelt wurden. Denn entsprechende Karten wurden in Anwesenheit von Vertretern aller Prozessparteien erstellt und mussten von diesen akzeptiert werden.
CORNELIA MÜLLER (Zittau/Görlitz) beschäftigte sich mit der städtischen Feuer- und Brandbekämpfung im 18. sowie 19. Jahrhundert und skizzierte ihre Entwicklung am Beispiel von Bautzen, Görlitz und Löbau, die Teil des Oberlausitzer Sechsstädtebundes waren. Sie fragte danach, wie sich der Stadtraum im Fall eines Brandes veränderte. Dabei legte Müller den Fokus nicht primär auf Veränderungen des geografischen und baulichen, sondern des sozialen Stadtraumes und des Alltags der Stadtbewohner:innen im Brandfall. Als zentrale Grundlage dienten ihr vor allem Feuerordnungen, also normative Quellen. Die Grenzüberschreitung verortete Müller in der Überwindung der Stadtmauer beziehungsweise Stadttore, die während eines Brandes eine zentrale Rolle in der Wehrhaftigkeit nach außen einnahmen und nur für die Hilfstruppen aus den umliegenden Dörfern, die der Patrimonialgewalt der Städte unterstanden, passierbar waren. Die Gefahr von Plünderungen und Diebstählen während dieser Ausnahmesituation sollte dadurch minimiert werden.
HENRIK EẞLER (Hamburg) betonte, dass Umwelt- und Stadtwahrnehmungen stark von Sinneswahrnehmungen geprägt sind. Darauf aufbauend ging er der Frage nach, wie man „Sensory Studies“ in die Stadtgeschichteforschung integrieren könnte sowie welche Herausforderungen und Potenziale sie für die Geschichtswissenschaft bietet. Die sinnliche Grenzüberschreitung zwischen St. Pauli – bereits damals Stadtteil von Hamburg – und der an der Wende zum 20. Jahrhundert noch selbstständigen preußischen Stadt Altona stand dabei im Mittelpunkt. Über literarische Quellen, Zeitungsberichte und Erinnerungen versuchte er, akustische, visuelle, haptische und olfaktorische Grenzwahrnehmungen nachzuzeichnen. Eßler kam zu dem Schluss, dass ein direktes Nachempfinden vergangener Wahrnehmungen nicht möglich ist, da diese einerseits sehr individuell und anderseits zeitlich begrenzt sind. Darüber hinaus gaben die Quellen vorrangig Auskunft über die bürgerlichen Sinneswahrnehmungen. Ein Mangel an Quellen zur Perspektive der Stadtteilbewohner:innen – insbesondere von St. Pauli – verhinderte somit eine „Innenansicht“. Generell kam Eßler zu dem Schluss, dass die Überlieferung von Sinneswahrnehmungen über Schriftquellen unzureichend sei; gleichzeitig sah er in der Verwendung materieller und audiovisueller Quellen jedoch ein erhebliches und noch nicht ausreichend genutztes Forschungspotenzial.
LISA HELLRIEGEL (London) analysierte sexuelle Gewalt als Grenzüberschreitung im Hamburg der Zwischenkriegszeit, vor allem in Bezug auf den Körper (beziehungsweise gegen die sexuelle Selbstbestimmung) und ging unter anderem der Frage nach, was man unter „sexueller Gewalt“ im historischen Längsschnitt versteht. Darüber hinaus untersuchte sie, welche Auswirkungen die Urbanisierung auf sexuelle Gewalt hatte: Denn mit der Entstehung von Freizeitorten zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich ein neuer Begegnungsort für beide Geschlechter. Hellriegel zeigte anhand von Gerichtsakten und Interviews (Sekundäranalyse von Material aus den 1980er-Jahren) die enorme Bandbreite an sexuellen Grenzüberschreitungen. So geht zum Beispiel aus den Gerichtsverhandlungen hervor, wie sexuelle Grenzüberschreitungen juristisch behandelt und welche städtischen Räume als gefährlich eingestuft wurden. Sie zeigte zudem, dass mit Blick auf sexuelle Gewalt die Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Räumen verschwammen.
Die Vorträge zeigten ein großes Spektrum an inhaltlichen Zugängen zum Thema „Grenzüberschreitungen“ im urbanen Raum. Ein Hauptaugenmerk lag dabei auf städtebaulichen Veränderungen im Sinne von Stadterweiterungen oder stadtinternen räumlichen Grenzziehungen, beispielsweise durch Befestigungsbaurayons oder Stadtmauern und ihrer situationsabhängigen Funktion als weiche beziehungsweise harte Grenze. Ein weiterer Fokus lag auf der Darstellung von Grenzen und ihren Veränderungen in Publizistik und Karten sowie der Aufarbeitung damit verbundener Grenzveränderungen und Grenzkonflikte. Darüber hinaus wurde die Sinneswahrnehmung von Grenzen und ihrer Überschreitung – zum Beispiel zwischen Städten beziehungsweise Stadtteilen und Grenzüberschreitungen mit juristischer Komponente wie zum Beispiel sexueller Gewalt im städtischen Raum – diskutiert. Die Heterogenität der Beiträge zeigte dadurch deutlich die Komplexität und Vielschichtigkeit von Grenzen.
Konferenzübersicht:
Sebastian Haumann (Salzburg) / Dorothee Brantz (Berlin): Begrüßung und Einführung
Sektion I
Moderation: Rainer Liedtke (Regensburg)
Anna Gonchar (München): „Die Weltschau am Rhein“. Städtische Entwicklung Kölns durch die internationale Presseausstellung 1928
Joana Gelhart (Hamburg): Kommentar
Frank Rochow (Cottbus): Wo sich das Militärische vom Zivilen scheidet? Der Befestigungsbaurayon als Grenze und Kontaktzone in Krakau und Lemberg
Małgorzata Popiołek-Roßkamp (Berlin): Kommentar
Dorothea Hutterer (München): Grenzüberschreitungen im frühneuzeitlichen Kartenbild am Beispiel der salzburgischen Exklave Mühldorf a. Inn
Ansgar Schanbacher (Goslar): Kommentar
Mitgliederversammlung der GSU und Verleihung des Dissertationspreises (hybrid)
Moderation: Dorothee Brantz (Berlin)
Sektion II
Moderation: Kathrin Meißner (Berlin)
Cornelia Müller (Zittau/Görlitz): Veränderung des Stadtraumes im Falle eines Brandes am Beispiel dreier Städte in der Oberlausitz
Sven-Philipp Brandt (Erfurt): Kommentar
Henrik Eßler (Hamburg): Grenzerfahrungen. Eine Sinnesgeschichte der Großstadt am Beispiel von Altona und St. Pauli im 20. Jahrhundert
Celina Kress (Berlin): Kommentar
Lisa Hellriegel (London): Grenzüberschreitungen in der Großstadt. Sexualisierte Gewalt in Hamburger Gerichtsakten, ca. 1919–1937
Sebastian Haumann (Salzburg): Kommentar
Anmerkung:
1 Vgl. den Call der Tagung: Forum Stadtgeschichte 2024. „Grenzüberschreitungen“, in: H-Soz-Kult, 08.04.2024, https://www.hsozkult.de/event/id/event-143300 (27.12.2024). Im Überblick zur begrifflichen Vielfalt von „Grenzen“ vgl. Andrea Komlosy, Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf, Wien 2018.