Das Forschungskolloquium in Hadamar beschäftigte sich umfassend mit den vielfältigen Facetten der NS-„Euthanasie“-Verbrechen und den Verknüpfungen zur Nachkriegszeit. Die Tagung vereinte Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen und war interprofessionell ausgerichtet, was den Austausch und die Diskussion rund um die Dissertationsprojekte aus verschiedenen fachlichen Perspektiven bereicherte. Die thematische Homogenität des Kolloquiums wurde dadurch gewährleistet, dass alle Beiträge die zentralen Themen „Euthanasie“, Zwangssterilisation und Eugenik behandelten. Es widmete sich sowohl historischen Analysen als auch Fragen der modernen Erinnerungskultur. Zum Auftakt des Kolloquiums, das nach 2022 zum zweiten Mal stattfand, gab es eine Führung von LISA CASPARI (Hadamar) durch die Gedenkstätte Hadamar, welche den Teilnehmenden einen eindrucksvollen Einblick in die Geschichte der „Euthanasie“ in der Tötungsanstalt Hadamar gewährte.
Die Gedenkstätte Hadamar ist ein bedeutender Ort des Erinnerns, des Lernens und der Forschung. Sie befindet sich auf dem Gelände einer ehemaligen Tötungsanstalt, in welcher unter dem NS-Regime Tausende von Menschen im Rahmen der „Aktion T4“ und der „dezentralen Euthanasie“ ermordet wurden. Heute dient die Gedenkstätte als Mahnmal und Bildungsstätte, die Besucher:innen über die Verbrechen aufklärt und zur Auseinandersetzung mit den Folgen nationalsozialistischer Ideologie anregt. Die historische Bedeutung des Ortes schuf eine eindringliche Atmosphäre, die das Kolloquium prägte und den Teilnehmenden die Relevanz des Themas auf eindrucksvolle Weise vor Augen führte.
Nach dem Rundgang hielt SEBASTIAN SCHÖNEMANN (Hadamar) den Abendvortrag über „Die ‚Euthanasie‘ als mediales Bild – Die Tötungsanstalt Hadamar im Fernsehfilm ‚Holocaust‘ (1979)“. Er untersuchte, wie die Serie zur öffentlichen Wahrnehmung der NS-„Euthanasie“ beitrug und Hadamar als Symbol für den Verbrechenskomplex prägte. Der Vortrag verdeutlichte die Rolle von Medien in der Erinnerungskultur und regte zur Diskussion über deren Einfluss auf unser Geschichtsverständnis an.
Der zweite Tagungstag begann mit dem Panel I – Blickwinkel – und dem Dissertationsprojekt von HANNA HILKER (Kassel), welche die narrativen Strukturen in Patientenakten der Landesheilanstalt Merxhausen – einer Einrichtung, die während der NS-Zeit an der „Euthanasie“ beteiligt war – untersucht. Ihr Ziel ist es, wiederkehrende Erzählmuster in den Krankenakten aus den Jahren 1933 bis 1945 zu identifizieren und zu analysieren, wie sich diese im Laufe der Zeit veränderten. Dabei stellte sie in ihrem Vortrag die Frage, wie die Überlieferung und Auswahl von Inhalten durch die Verfasser:innen beeinflusst wurden. Hilker verwendet eine semantische Textanalyse und Methoden der Historischen Anthropologie, um neue Perspektiven auf die Nutzung von Patientenakten als historische Quellen zu eröffnen.
Das Dissertationsprojekt von ANN-KATHRIN HINZ (Marburg) thematisiert die Rolle wissenschaftlicher Netzwerke bei der Etablierung psychochirurgischer Verfahren zur Behandlung von „Geisteskrankheiten“ im 20. Jahrhundert, insbesondere in Deutschland und Schweden. Sie erforscht, wie internationale Verbindungen und zentrale Akteure die Einführung sowie Anwendung dieser Methoden beeinflussten und welche Bedeutung nationale Besonderheiten hatten. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf dem „deutschen Sonderweg“ nach dem Zweiten Weltkrieg, der im Kontext der NS-Medizinverbrechen kritisch beleuchtet wurde. Mithilfe einer sozialen Netzwerkanalyse und der Untersuchung von zeitgenössischen Publikationen, Kongressberichten und Patientenakten bot Hinz neue Perspektiven auf die Verflechtung von Medizin und Wissenschaft im historischen Kontext.
Mit ihrem Beitrag zur Fürsorgeerziehung und „Euthanasie“ schloss MADELEINE MICHEL (Gießen) das erste Panel ab. Sie zeigt in ihrem Dissertationsprojekt die komplexe Beziehung zwischen Fürsorgeerziehung und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus auf. In ihrem Vortrag fokussierte sie sich auf das Spannungsfeld zwischen Ereignisgeschichte und Wissenschaftstheorie. Sie zeigte außerdem auf, wie erzieherische Praktiken und ideologische Konzepte miteinander verwoben waren und wie die Fürsorgeerziehung zur Vorbereitung sowie Legitimation von Maßnahmen diente, die später zur Durchführung der „Euthanasie“-Verbrechen führten.
Das Panel II – Tatorte – wurde durch BENJAMIN PFANNES (Potsdam) eröffnet. Sein Forschungsprojekt setzt sich mit den „Euthanasie“-Verbrechen in Belgien während der deutschen Besatzung von 1940 bis 1944 auseinander. Er untersucht, in welcher Weise die Besatzungsmacht ihre rassistische sowie eugenische Ideologie durchsetzte und welche Maßnahmen sie zur Eliminierung von als „lebensunwert“ betrachteten Menschen ergriff. Pfannes analysierte in seinem Vortag die Reaktionen belgischer Institutionen und Akteure auf die Besatzungspolitik – sowohl in Form von Kollaboration als auch Widerstand. Die Arbeit stützt sich auf Quellen des Belgischen Staatsarchivs, regionaler belgischer Archive sowie Forschungsinstitutionen wie dem CegeSoma in Brüssel und dem Dokumentationszentrum der Kazerne Dossin in Mechelen, um zur Erschließung dieser bislang wenig erforschten Thematik und zur historischen Aufarbeitung beizutragen.
Ergänzt wurde das Panel durch KATHARINA GENZ (Kiel), die in ihrem Dissertationsprojekt die Rolle von Pflegepersonen in der „Kindereuthanasie“ während des Nationalsozialismus untersucht. Sie fokussiert sich dabei auf die „Kinderfachabteilungen“ in Norddeutschland. Dazu gehörten Einrichtungen in Niedersachsen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Bei der Vorstellung ihres Forschungsvorhabens hob sie hervor, dass die Beteiligung des Pflegepersonals an diesen Verbrechen bisher wenig Beachtung fand, obwohl diese Berufsgruppe maßgeblich zur Durchführung und Dokumentation beitrug. Genz betonte, dass Pflegepersonen durch ihre Handlungen und Aufzeichnungen den Verlauf für die Patient:innen beeinflussen konnten. Ihre Arbeit soll nicht nur zur historischen Aufarbeitung beitragen, sondern auch pflegewissenschaftliche und hochschuldidaktische Perspektiven bieten, um diese Erkenntnisse in die Ausbildung von Pflegefachpersonen zu integrieren.
Im Rahmen der Dissertationsforschung von FRANZISKA SCHMIDT (Bochum) zur Tötungsanstalt Hadamar 1942 bis 1945 spielt besonders der Alltag während der Zeit der Medikamenten- und Hungermorde eine besondere Rolle. In ihrem Vortrag setzte sie sich kritisch mit der Organisation von Routine, Planung und Durchführung der Tötungen auseinander. Schmidt stellte heraus, dass sich durch eine detaillierte Analyse des Alltags in Hadamar neue Erkenntnisse gewinnen ließen, die Hadamar außerhalb der Rolle als T4-Tötungsanstalt darstellten. Ihr Beitrag betonte den Mehrwert einer solchen mikrohistorischen Perspektive, um die Mechanismen und Dynamiken zu verstehen, welche die Institution in ihrer Funktionsweise prägten. Diese Ansätze lieferten nicht nur eine umfassendere Sicht auf die Abläufe in Hadamar, sondern regten auch zur Diskussion darüber an, wie sich die Erkenntnisse in den größeren Kontext der NS-„Euthanasie“-Forschung einfügen ließen.
Das Panel wurde mit dem Dissertationsprojekt von ULRIKA MIENTUS (Marburg) abgeschlossen, die sich in ihrem Vortrag mit dem Konzept des „vollwertigen“ Mensch-Seins und der Legitimierung von Gewalt auseinandersetzte. Mientus untersucht, wie bestimmte Menschengruppen im nationalsozialistischen Regime als „nicht vollwertig“ kategorisiert wurden, was deren Entrechtung und die Ausübung von Gewalt legitimierte. Ihr Beitrag beleuchtete die ideologischen und theoretischen Grundlagen, welche diese Abwertung und die damit einhergehende Brutalität ermöglichten. Ihr Vortrag regte zur Diskussion an, inwiefern diese Mechanismen auch nach 1945 in verschiedenen Formen fortbestanden und reflektiert werden müssten.
Das Panel III – Handlungsspielräume – wurde von LEA LACHNITT (Marburg) eröffnet, die sich in ihrem Dissertationsprojekt der Untersuchung der Sicherungsverwahrung forensischer Patient:innen in der Landesheilanstalt Hadamar zwischen 1941 und 1975 widmet. Sie erforscht die historische Entwicklung der Anwendung des Artikel 42b, der erstmals 1933 als „letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik“ eingeführt wurde und während der NS-Zeit eine besonders drastische Anwendung fand. Dabei betrachtete sie sowohl den gesellschaftlichen und politischen Diskurs als auch Veränderungen in der psychiatrischen Praxis und der Strafrechtspolitik bis zur Reform 1975. Lachnitt beleuchtete in ihrem Vortrag, wie sogenannte „gefährliche Geisteskranke“ in die „Euthanasie“-Programme einbezogen wurden, und stellte erste Erkenntnisse zu Brüchen sowie Kontinuitäten in der Versorgung dieser Patientengruppe bis in die bundesrepublikanische Zeit vor.
ATARAXIA HOFSTÄDTER (Frankfurt am Main) beschäftigt sich in ihrer medizinhistorischen Dissertation mit der Verlegungspolitik der Universitätsnervenklinik Frankfurt (UNKF) während des Nationalsozialismus von 1940 bis 1945 und deren Rolle im Rahmen der „Euthanasie“. Die Arbeit analysiert die Handlungsspielräume der Klinik, um herauszufinden, wie umfangreich Patient:innen der „Euthanasie“ zugeführt oder davor geschützt wurden. Mithilfe von Krankenakten, Opferdatenbanken und Sterbebüchern wird das Schicksal der verlegten Patient:innen nachverfolgt. Die Studie liefert empirische Daten zur Beteiligung der UNKF an den systematischen Krankenmorden und dient als Grundlage für vergleichbare Untersuchungen anderer Universitätskliniken.
DIANA DE ALMEIDA (Erlangen) untersucht in ihrem Dissertationsprojekt die juristische Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen am Beispiel des Strafverfahrens gegen Horst Schumann. Schumann war maßgeblich an der „Aktion T4“, der „Sonderbehandlung 14f13“ und Sterilisationsversuchen im Konzentrationslager Auschwitz beteiligt. Trotz der Anstrengungen der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main wurde das Verfahren gegen ihn wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt und es kam nie zu einer rechtskräftigen Verurteilung. De Almeidas Vortrag beleuchtete die Strategien der Verfahrensbeteiligten und untersuchte die Handhabung der Verhandlungsfähigkeit durch die Gerichte, einschließlich der Frage, ob Schumann seinen Gesundheitszustand manipulierte, um eine Verfahrenseinstellung zu erreichen. Methodisch stützt sich die Arbeit auf eine interdisziplinäre Quellenkritik und juristische Auslegung.
Das Panel III schloss mit dem Dissertationsprojekt von LAURA MIETE (Halle an der Saale), die in ihrem Dissertationsprojekt die Netzwerke inhaftierter NS-Täter in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er- bis 1980er-Jahre erforscht. Den Ausgangspunkt für die Untersuchung bildet ihr Großvater August Miete (1908–1987), der von 1940 bis 1942 im Rahmen der „Aktion T4“ in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar sowie im Vernichtungslager Treblinka und später bei der „Sonderabteilung R“ in Norditalien tätig war. Nach Kriegsende zunächst unbehelligt, wurde er 1960 verhaftet und 1965 wegen seiner Taten in Treblinka zu lebenslanger Haft verurteilt. 1985 wurde er aus der Haft entlassen. Anhand der Untersuchung von August Mietes Nachlass analysiert sie, wie inhaftierte Täter Kontakte nutzten, um ihre Haftbedingungen zu verbessern, ihre Familien zu unterstützen oder eine vorzeitige Entlassung zu erreichen. Der Vortrag warf dabei ein erstes Licht auf die vielfältigen Unterstützungsstrukturen, darunter Familie, Rechtsanwälte, Hilfsorganisationen und Netzwerke unter den Inhaftierten. Die Studie schließt eine Forschungslücke, indem sie das Handeln und die Netzwerke der Täter in Haft detailliert untersucht und auf Quellen wie den schriftlichen Nachlass und Archivmaterial zurückgreift.
Das dreitägige Kolloquium zeichnete sich durch einen intensiven fachlichen Austausch aus, der alle Teilnehmenden tief in die komplexen Themen „Euthanasie“, Zwangssterilisation und Eugenik einführte. Neben den fachlichen Diskussionen wurde auch über Promotionsvorhaben, die Organisation von Forschungsprojekten und die allgemeinen Rahmenbedingungen des wissenschaftlichen Arbeitens gesprochen. Dieser Aspekt des Kolloquiums war für die Teilnehmenden besonders bereichernd, da er Einblicke in die vielfältigen Herausforderungen und Lösungsansätze anderer Wissenschaftler:innen bot. Der offene Dialog über individuelle und institutionelle Erfahrungen förderte ein Gefühl der Gemeinschaft und erweiterte den Horizont für künftige Forschungsstrategien und Kooperationen. Insgesamt bot das Kolloquium somit nicht nur eine thematisch fokussierte Plattform, sondern auch einen wertvollen Rahmen für den persönlichen und beruflichen Austausch.
Konferenzübersicht:
Lisa Caspari (Hadamar): Führung durch den historischen Ort
Sebastian Schönemann (Hadamar): Die „Euthanasie“ als mediales Bild – Die Tötungsanstalt Hadamar im Fernsehfilm „Holocaust“ (1979)
PANEL I – Blickwinkel
Moderation: Laura Miete (Halle an der Saale)
Hanna Hilker (Kassel): Narrativität in Krankenakten der Landesheilanstalt Merxhausen
Ann-Kathrin Hinz (Marburg): Die Bedeutung wissenschaftlicher Netzwerke für die Etablierung medizinischer Praktiken im 20. Jahrhundert – Debatten über die Anwendbarkeit psychochirurgischer Verfahren in der BRD
Madeleine Michel (Gießen): Fürsorgeerziehung und „Euthanasie“. Ereignisgeschichte versus Wissenschaftstheorie
PANEL II – Tatorte
Moderation: Hanna Hilker (Kassel)
Benjamin Pfannes (Potsdam): Verborgene Grausamkeiten. Die „Euthanasie“-Verbrechen in Belgien während der deutschen Besatzung (1940–1944)
Katharina Genz (Kiel): Rolle der Pflegekräfte in der „Kindereuthanasie“
Franziska Schmidt (Bochum): Erkenntnis, These und Mehrwert – Alltag der Tötungsanstalt Hadamar 1942–1945
Im Fokus
Moderation: Franziska Schmidt (Bochum)
Ulrika Mientus (Marburg): Über „vollwertiges“ Mensch-Sein und die Legitimation von Gewalt
PANEL III – Handlungsspielräume
Moderation: Katharina Genz (Kiel)
Lea Lachnitt (Marburg): Forensische Patienten und Sicherungsverwahrung in Hadamar
Ataraxia Hofstädter (Frankfurt am Main): Verlegungspolitik der UNKF und NS-„Euthanasie“
Diana de Almeida (Erlangen): Das Strafverfahren gegen Horst Schumann – Puzzleteil einer „medizinischen Amnestie“
Laura Miete (Halle an der Saale): Netzwerke inhaftierter NS-Täter in der Nachkriegszeit