Historikertag 2002: Zivilgesellschaft als Prozeß und Projekt. Konzept und Forschungserträge

Historikertag 2002: Zivilgesellschaft als Prozeß und Projekt. Konzept und Forschungserträge

Organisatoren
44. Deutscher Historikertag Sektion: 5.2. Zivilgesellschaft als Prozeß und Projekt. Konzept und Forschungserträge Leitung: Arnd Bauerkämper, Berlin; und Jürgen Kocka, Berlin
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.09.2002 -
Url der Konferenzwebsite
Von
You Jae Lee, Erfurt

Megabegriffe und Metatheorien sind in der Geschichtswissenschaft heute nicht en vogue. Die Skepsis gegenüber solchen Begriffen wie Modernisierung, Kapitalismus und Klasse ist in den letzten zwanzig Jahren gewachsen. Dazu haben die Kritiken und Herausforderungen von Alltagsgeschichte, neuer Kulturgeschichte und linguistic turn maßgeblich beigetragen. Wer trotz all dem an einem solchen Megabegriff wie dem der "Zivilgesellschaft" festhält, muß den Gebrauch des Begriffs um so mehr rechtfertigen. Das Berliner "Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas" hat sich seit Mitte der 1990er Jahre um eine klare Begriffsdefinition bemüht und ihn damit für die Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht. Durch mehrere Workshops, Konferenzen, Sommerschulen und Publikationen hat das Zentrum inzwischen eine führende Stellung in der historischen Zivilgesellschaftsforschung eingenommen. In der Sektion wurden die Konzepte und Forschungserträge des Zentrums sowie Kritik daran präsentiert.

In einem begriffsgeschichtlichen Abriß zeigte Jürgen Kocka am Beispiel Deutschlands den Bedeutungswandel der Termini Zivilgesellschaft, Zivilität und bürgerlicher Gesellschaft. Die vielfältige Bedeutung dieser Begriffe macht ihren Gebrauch heute nicht einfacher. Im Gegenteil, die Begriffsdefinition der Zivilgesellschaft als historischem Analysemittel scheint vor diesem Hintergrund erschwert. Kocka definierte die Zivilgesellschaft als eine soziale Sphäre zwischen Staat, Ökonomie und Privatsphäre, in der spezielle Modi sozialer Interaktion praktiziert werden. Damit rücken insbesondere Assoziationen, Vereine, Netzwerke, soziale Bewegungen und NGOs ins Zentrums des Interesses. Diese Defnition ist ebenso normativ prägend wie analytisch folgenreich. Die immanente Spannung zwischen Projekt und Prozeß setzt bestimmte Grenzen in der historischen Forschung auf, ist aber zugleich herausfordernd. Nützlich findet Kocka diesen Begriff, um unterschiedliche Pfade zur Zivilgesellschaft in Europa im Vergleich zu erkennen. Als Rahmen und Perspektive bietet er Detailstudien Orientierungspunkte. Darüber hinaus lädt der Begriff zu einer Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen ein.

Der Politologe Hans-Joachim Lauth folgte dieser Einladung zum interdisziplinären Dialog. Er schlug ein funktionalistisches Zivilgesellschaftsmodell vor, das fünf zentrale Merkmale der Zivilgesellschaft unterscheidet: Staatsunabhängigkeit, Gemeinschaftsbezogenheit, Öffentlichkeit, "freie Assoziationen" und zuletzt Toleranz und Gewaltfreiheit. Dieses Modell wurde in drei Typen unterteilt: ambivalente, reflexive und strategische Zivilgesellschaft. Ergänzt wurde diese schematische Typologie der Zivilgesellschaft in Verbindung mit der Demokratietheorie durch ein Phasenmodell zunehmender Inklusion der sozialen Akteure.

An die Ausführungen Kockas anknüpfend wandte sich Arnd Bauerkämper den Akteuren der Zivilgesellschaft sowie den Ambivalenzen und Widersprüchen von Zivilgesellschaften zu. Akteursorientierte Untersuchungen lenken die Aufmerksamkeit auf die individuellen und strukturellen Voraussetzungen zivilgesellschaftlichen Handelns und ihren Universalisierungsprozeß. Wie aber die zunehmende Inklusion das zivilgesellschaftliche Projekt selbst verändert, blieb offen.
Die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten der Zivilgesellschaft zeigen, daß das Projekt der Zivilgesellschaft nicht eine garantierte Erfolgsgeschichte sein kann. Zivilgesellschaften sind besonders anfällig für Gewalt, da die Normen und strukturellen Merkmale, die ihre Attraktivität begründen (wie Offenheit, Zivilität, Pluralität und Freiheit) destruktiven Gegenbewegungen Spielräume eröffnen. In politischen, ökonomischen und sozialen Krisen bedürfen Zivilgesellschaften des uneingeschränkten staatlichen Schutzes, um ihre Wertegrundlage gegen Anfeindungen zu bewahren. Staat und Zivilgesellschaft können hier analytisch nicht eindeutig als Gegensatz gefaßt werden. Zivile Gesellschaften können in unzivile umschlagen. Um jedoch über den allgemeinen Befund der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit hinauszukommen, müssen konkrete Prozesse, die daran beteiligten Akteure und ihre Handlungsbedingungen untersucht werden.

Der Frage, ob Zivilgesellschaft als Alternative zur Revolution im ausgehenden Zarenreich dienen kann, widmete sich Manfred Hildermeier. Seine "Entdeckung" zivilgesellschaftlicher Elemente in Rußland - eine transständische städtische Elite als Trägerschicht, gesellschaftliche und politische Aktionen in freiwilligen Vereinen und Assoziationen, die Entstehung einer publizistischen Öffentlichkeit - waren keineswegs überraschend. Die von Hildermeier referierte Verschiebung der Forschungsperspektive auf die Provinz eröffnete jedoch einen anderen Blick auf die Rolle des Staates. In Stadtverwaltungen auf lokaler Ebene wurde der vermeintliche Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft relativiert. Der Staat diente oft als Schutzherr der Zivilgesellschaft, und die dadurch ermöglichten Selbstverwaltungen stellten "Übungssäle" für demokratische Regeln dar. Die definitorische Festlegung der Vorstaatlichkeit der Zivilgesellschaft wurde damit jedoch nicht aufgegeben. Aufgrund der in der Privatsphäre wurzelnden Gemeinschaftsorientierung der Assoziationen hätte eine stärkere Relativierung der Trennung zwischen Privatsphäre und Zivilgesellschaft hier nahelegen.

In einem Vergleich der Theater in Leipzig, Lemberg und Prag führte Philipp Ther die breiten Trägerschichten der Zivilgesellschaft vor Augen, zum Teil mit Argumenten gegen einen linearen Universalisierungs- und Inklusionsprozeß. Ther zufolge stellten die Theatergründungen eher ein Elitenprojekt als ein Bürgerprojekt dar. Sein beziehungsgeschichtlicher Vergleich zeigte, daß Professionalisierung, Repertoire, Aufführungspraxis und die Nationalisierung der Theater erstaunlich konvergierten, was auf zunehmende Kommunikation, die Herausbildung von Netzwerken und Kulturtransfers zurückzuführen sei. Hier wurden zwei Punkte deutlich: Die Trägerschichten der Zivilgesellschaft waren bereits in ihren Anfängen nicht nur Bürger, sondern eher städtische Eliten. Und die Transfergeschichte der Theater zeigt, daß die Herausbildung von zivilgesellschaftlichen Werten nicht aus einem Export-Import Verhältnis von West nach Ost resultierte, sondern aus einer wechselseitigen Beeinflussung und Ergänzung, die es rückblickend unmöglich macht, den Ursprung dieser Entwicklung an einem einzigen Ort kenntlich zu machen.

Aus ethnologischer Perspektive übte Chris Hann eine Generalkritik an einem eurozentrischen Begriff der Zivilgesellschaft. Eine auf Tocqueville zurückgehende Vorstellung, daß die freiwilligen Clubs, Vereine und Assoziationen, die unabhängig und autonom zwischen Familie und Staat angesiedelt sind, das wichtigste Merkmal der Zivilgesellschaft darstellten, lehnte Hann ab. Für ihn waren die nicht offiziellen Interaktionsnetzwerke, andere Arten der Verknüpfung mit der Politik oder Schlichtungsprozesse wichtiger, weil Vereinigungen nicht die Basis gesellschaftlicher Ordnung seien. Daher lehnte er eine klare Trennung zwischen Familie (Privatsphäre), Zivilgesellschaft und Staat ab und zählte den Markt und die religiösen Institutionen vorerst dazu.
Am Beispiel der Geschichte eines Frauenklubs im ungarischen Dorf Tázlár wurden die Grenzen des zivilgesellschaftlichen Begriffs deutlich. Obwohl in der postsozialistischen Ära mehr Vereine und Vereinigungen existieren, so dass man formal von einer Stärkung der Zivilgesellschaft ausgehen müsste, scheint die Mehrheit der Bewohner davon nicht zu profitieren, sondern trauert eher dem Verschwinden einer sozial integrativen Gemeinschaft nach. Viele Bewohner haben das Gefühl, erneut ausgegrenzt zu werden, wie schon vor 1945, als die bürgerlichen Eliten Budapests ihre entstehende Zivilgesellschaft gerade gegen sie aufbauten. Damals wurden die Leute gezwungen, sich patriotisch zu Ungarn zu bekennen. Heute sollen solche Lösungen allein in einer stärkeren Betonung des Nationalismus gesucht werden.

In der Diskussion äußerte das Publikum Vorbehalte gegenüber dem Konzept der Zivilgesellschaft. Die Vermutung, daß damit nur die Ideologie des Neoliberalismus legitimiert werde, ein Gedanke, den Hann unterstrich, indem er für die Verwendung des alten Begriffs der "bürgerlichen Gesellschaft" plädierte, wurde von Kocka scharf zurückgewiesen. Forschungsergebnisse würden zeigen, dass die Trägerschicht der Zivilgesellschaft gerade nicht auf das Bürgertum beschränkt war. Kocka plädierte angesichts der Kritik auch für eine klare Trennung von Gemeinschaft und Zivilgesellschaft. Letztere sei eben keine face to face-community, beinhalte keine emotionale, sondern eine vermittelte Form, gekennzeichnet durch die Ausdifferenzierung von Familie und öffentlichem Bereich. Gerade dieses Insistieren machte indes die Defizite des zivilgesellschaftlichen Konzepts deutlich: Es vernachlässigt die zwischenmenschlichen Beziehungen und Interaktionen in kleinen Kreisen und blendet Emotionen aus der Forschung aus. Darüber hinaus läßt die Trennung von Familie, Verwandtschaft und Zivilgesellschaft mit einer Präferenz für Öffentlichkeit nicht nur die privaten Voraussetzungen von Zivilgesellschaft außer Betracht, sondern auch die informellen Institutionen in den meisten Ländern inner- wie außerhalb Europas, die nicht in Assoziationen und Vereinen organisiert sind. Die Spannung zwischen universalem Anspruch und exklusiver Realität, also zwischen Projekt und Prozeß ist durch das politische Engagement des Historikers allein nicht zu lösen, sondern muß in der Geschichte selbst verortet werden, um deren Widersprüche zu thematisieren. Eine gute und schlechte Zivilgesellschaft zu unterscheiden und somit eine dichotomische Polarisierung vorzuziehen, erscheint dabei wenig sinnvoll.

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