Nach Kriegen und Diktaturen: Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem - Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert

Nach Kriegen und Diktaturen: Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem - Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert

Organisatoren
Geschichtsort Villa ten Hompel
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.09.2002 - 28.09.2002
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Von
Alfons Kenkmann; Matthias M. ester

In seinem Vortrag, der die internationale Tagung "Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem" in Münster eröffnete, zitierte Moshe Zimmermann (Jerusalem) den israelischen Schriftsteller Amos Oz. Der Nahe Osten sei eine Region, in der ein jeder den anderen "Nazi" nennen könne und dürfe. Ob Israeli oder Palästinenser, jeder beschimpfe den anderen mit diesem historisch-politischen Verdikt. Mit dieser Beobachtung veranschaulichte Zimmermann seine These, daß - neben vielen anderen Faktoren und Zusammenhängen - gerade die stete Erinnerung an den Holocaust unter allen am Nahostkonflikt beteiligten Akteuren nicht ausgleichend und befriedend, sondern "konfliktverschärfend" wirke. Zimmermanns Provokation war natürlich kein Plädoyer für das Vergessen und gegen das Erinnern, vielmehr eine Warnung vor der ideologischen Instrumentalisierung von Vergangenheit als geschichtspolitischem Argument in den Konflikten der Gegenwart, letztlich ein Appell für den verantwortungsbewußten und selbstkritischen Umgang von Gesellschaften und Staaten mit ihren Geschichten.

Zimmermanns ideologiekritischer Ansatz belebte immer wieder die Diskussionen der beiden folgenden Tage, auch wenn der konzeptionelle Bogen der Tagung weiter gefaßt und die inhaltlichen Schwerpunkte anders gelagert waren. Nach Alfons Kenkmann (Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster) und Hasko Zimmer (Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster), die die Tagung leiteten, sollte es nicht um eine weitere Variante der inflationären Debatte über "Erinnerung und Gedächtnis" gehen, sondern um den Versuch, das Thema "Umgang mit Vergangenheit" aus den nationalen, innerstaatlichen Kontexten herauszulösen und die internationale Dimension von Vergangenheitsaufarbeitung und Erinnerungsarbeit herauszuarbeiten. Denn am Anfang des 21. Jahrhunderts werde die internationale Bedeutung der historisch-politischen Selbstreflexion immer offensichtlicher, sei es im Zusammenhang mit der Bewältigung der Transformationsprozesse von den diktatorischen und rassistischen Regimen zu demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaften oder mit der Ausgestaltung der Integrationsprozesse im Kontext der EU-Erweiterung, sei es im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer völkerrechtlicher Instrumentarien wie den Internationalen Gerichtshöfen. Vergangenheitsbewältigung und Menschenrechtspolitik verknüpfen und internationalisieren sich zusehends - als politisches und völkerrechtliches Problem allemal, aber eben auch als diskursives und kommemoratives Problem. Eine derartig vielschichtige Thematik bedurfte des interdisziplinären Zugriffs und des komparatistischen Ansatzes. Historiker und Juristen, Politik- und Sozialwissenschaftler, Pädagogen und Experten aus der Menschenrechts- und Erinnerungsarbeit sollten miteinander ins Gespräch kommen, um am Beispiel ausgewählter Länder und umschriebener Handlungsbereiche die Bilanzen erfolgter bzw. unterlassener und die Perspektiven gegenwärtiger bzw. zukünftiger Vergangenheitsaufarbeitung und Erinnerungsarbeit zu verdeutlichen.

Die Beispiele der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in den Demokratisierungsprozessen in Südamerika und Südafrika richteten das Augenmerk insbesondere auf die "Wahrheits- und Aussöhnungskommissionen". Mit dem Ende der Militärdiktaturen in Argentinien Mitte der 1980er Jahre und in Chile Ende der 1980er Jahre (Detlef Nolte und Ruth Fuchs, Hamburg) sowie dem Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren (Gunnar Theißen, Berlin) bildeten diese Kommissionen den Mittelpunkt der historisch-politischen Aufarbeitung. Die justitielle Aufarbeitung wurde eher zurückhaltend bis skeptisch eingeschätzt. Zum einen war die Justiz selbst Gegenstand der jeweiligen rechtsstaatlichen Transitionsprozesse - Stichwort personelle und institutionelle Kontinuität und Kooperation der Funktionseliten, zum anderen beschränkte sie sich neben den exemplarischen Prozessen gegen Exzeßtäter und Hauptverantwortliche vornehmlich auf Amnestie- und Verjährungsdebatten, von denen die Täter unter den politischen und militärischen Funktionsträgern profitierten. Die Wahrheitskommissionen in Südamerika und Südafrika nahmen einen Perspektivenwechsel vor; sie waren in erster Linie opfer-, nicht täterzentriert; sie widersetzten sich der Tendenzen zum Vergessen und Verdrängen, aber auch zur individuellen Rache und illegitimen Vergeltung. Das Benennen des Unrechts, das Dokumentieren des Terrors, das Mitteilen des Leids schützten und stärkten das (frühere) Opfer. Materielle Wiedergutmachung (Entschädigung und Rehabilitation), vor allem aber soziale Wiedergutmachung schufen eine Sphäre opferzentrierter Gerechtigkeit, die auf eine schnelle Lösung der Aussöhnung und nicht auf eine langwierige Aufarbeitung der Wahrheit ausgerichtet war. Wahrheitskommissionen fanden aufgrund ihrer dialogischen Grundstruktur weitgehende gesellschaftliche Akzeptanz. Als öffentlich-diskursives Forum mit symbolisch-exemplarischer Repräsentanz trugen sie zur Befriedung und Integration der Gesellschaften bei. So wichtig also ihre individual- und sozialpsychologischen Funktionen nach Bürgerkriegs- und Staatsterrorerfahrungen sind, so problematisch erscheint ihr pragmatischer Dezisionismus unter rechtsstaatlichen Aspekten. Täter konnten angeklagt und verurteilt bzw. freigesprochen werden, selbst Amnestie konnte rechtswirksam gewährt bzw. verweigert werden. Die Aufklärungsarbeiten der Wahrheitskommissionen sind zeitlich befristet; was an Erinnerungsarbeit folgt, muß abgewartet werden.

Krzysztof Ruchniewicz (Wroclaw) thematisierte am polnischen Beispiel den Umgang mit der Vergangenheit in postkommunistischen Gesellschaften. Am Anfang, im Frühjahr 1989, stand der "Runde Tisch" von Regierung und Opposition, seit Mai 2002 schließlich verwaltet das "Institut des Nationalen Gedenkens" den aufarbeitenden Umgang mit dem kommunistischen Erbe. Die geschichtspolitischen Bewertungen der vergangenen Volksrepublik unterscheiden sich stark, je nachdem, wer sie vornimmt: der ehemalige Oppositionelle, der gewendete Exkommunist oder der rechtsextreme Newcomer, der Historiker, der Politologe und der Publizist, alle beteiligen sich am "Bürgerkrieg um die Tradition" (A. Paczkowski). Insbesondere die Unabhängigkeits- bzw. Souveränitätsfrage nach 1945, die stalinistische Phase und jene Übergangsphase unter Kriegsrecht (seit 1981) stehen im Mittelpunkt der Bilanzierungen, die von radikaler Kritik bis gemäßigter Affirmation reichen. Hinzu kommt ein wirkungsmächtiges Selbstbild der polnischen Gesellschaft, das die neuzeitliche Gesellschaftsgeschichte als fortgesetzte Opfergeschichte interpretiert. Gabriele Lesser (Warschau) wies darauf hin, daß sich die im Bewußtsein des "Normalbürgers" wahrgenommene tiefgreifenden Dichotomie zwischen Gesellschaft und Staat, "guter" Bevölkerung und "schlechter" Regierung, wie sie sich nicht erst unter kommunistischer Herrschaft herausgebildet hatte, nach der Wende nicht aufgelöst hat. Vielmehr setzen sich die traditionellen Konflikte und Verwerfungen um gesellschaftliche Integration und polnische Identität auf dem Felde der Geschichtspolitik und Erinnerungsarbeit fort. Sie verengen die Diskussionen auf einfache Gegensätze wie Regime - Nation, Täter - Opfer, Kollaboration - Widerstand (sowohl zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wie der sozialistischen Volksrepublik im Nachkriegspolen) und verzögern die Herausbildung einer demokratischen Erinnerungskultur, die die Gesamtbreite von individuellen und kollektiven Verhaltensmustern berücksichtigt und die auch den Minderheiten und Randgruppen der polnischen Gesellschaft gerecht wird.

Mit Japan und Deutschland kamen zwei Gesellschaften in den Blick, die inzwischen über ein halbes Jahrhundert Zeit hatten, sich mit ihrer Vergangenheit vor 1945 auseinanderzusetzen. Takeo Sato (Tokyo) sprach von den "zwei Gesichtern" in Bezug auf den Umgang Japans mit seiner Kriegsvergangenheit, die die Diskrepanz zwischen der innenpolitischen und außenpolitischen Art der Vergangenheitsbewältigung widerspiegeln. Trotz der expansionistischen Politik gegenüber Korea und China seit Beginn des 20. Jahrhunderts, trotz der Zugehörigkeit zu den Achsenmächten unter Hitler und Mussolini im Zweiten Weltkrieg, trotz der in Ost- und Südostasien begangenen Kriegsverbrechen - der Japaner sah und sieht sich in erster Linie als ein Opfer des Zweiten Weltkriegs. Dieser "Opfermythos" ist eine Reaktion auf die Atombombenabwürfe in der Endphase des Krieges. Mit dem Verzicht auf eine angriffsfähige Armee hatte Japan nach 1945 die außenpolitischen Konsequenzen gezogen. Erst seit Mitte der 1990er Jahre kommt eine Politik der offiziellen Entschuldigungen für die im Zweiten Weltkrieg begangenen Kriegsverbrechen hinzu. Petra Buchholz (Berlin) stellte die lebensweltlich-erfahrungsgeschichtliche Dimension gegen die geschichtspolitisch-ideologiekritische Sichtweise. Der Hinweis auf die in Japan hochangesehene Textgattung ‚Autobiographische Erinnerungen' in Zeitungen und Büchern, machte mit dem "aktiven Opfer" bekannt. Japanerinnen und Japaner berichten von dem erlittenen Leid und erfahrenen Unglück, scheuen sich aber auch nicht, ihren individuellen Anteil am Krieg und sogar an den Kriegsverbrechen mitzuteilen. Selbstkritik im Medium der Opfer-Täter-Biographie nimmt erst in den letzten Jahren zu; das Ende dieser persönlichen Selbstreflexion ist mit dem Aussterben der Zeitzeugen absehbar.

Nachkriegsdeutschland und Nachkriegsjapan hatten eine Gemeinsamkeit: den frühen Versuch der justitiellen Aufarbeitung durch die Internationalen Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokyo. War ihre Wirkung nach innen als Tribunal der Sieger und Besatzer begrenzt, was sich gerade für Deutschland im Rahmen der Entnazifizierung zeigte, so waren sie doch sehr bedeutsam für die Entwicklung des Völkerrechts. Deutschland ist zugleich ein Sonderfall von Vergangenheitsaufarbeitung und Erinnerungsarbeit: Erst mußten nach 1945 zwei Staaten, eingebunden in unterschiedliche weltanschauliche Systeme, eine gemeinsame Vergangenheit von Krieg und Diktatur aufarbeiten, dann nach 1989 das wiedervereinte Deutschland eine zweite totalitäre (Teil-)Vergangenheit. Marc von Miquel (Bochum) und Knut Amelung (Dresden) resümierten die juristische Aufarbeitung der NS- bzw. DDR-Vergangenheit in der Bundesrepublik. Der justitielle Umgang mit den Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg und der Verbrechenspolitik des Nationalsozialismus in der SBZ und DDR blieb weitgehend unberücksichtigt, obwohl gerade hier sich ein Vergleich angeboten hätte. Dafür entbrannte aufgrund der unterschiedlichen analytischen Zugriffe und der divergierenden historisch-politischen Einordnungen eine Auseinandersetzung zwischen den Wissenschaftskulturen der Historiker und Juristen. Während von Miquel die gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung der justitiellen Vergangenheitsbewältigung zu erfassen trachtete, beschränkte sich Amelung auf die normative und rechtsgeschichtliche Sichtweise.

Von Miquel lenkte die Aufmerksamkeit weg von den einseitig generalisierenden und obsolet gewordenen Bewertungen des justitiellen Umgangs mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen ("Teil der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik oder Ausdruck einer skandalösen Restauration?"). Er verwies hingegen auf zwei lohnenswerte Forschungsfelder der Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Zum einen ist eine lange Folgewirkung des "volksgemeinschaftlichen" Selbstverständnisses bis weit in die 1960er Jahre in Justiz und Justizpolitik festzustellen. Dessen Personal stammte in hohem Maße aus den Gerichten und Verwaltungen des "Dritten Reiches". Zum anderen ist die sukzessive Demokratisierung von den fünfziger bis zu den achtziger Jahren nicht als linearer Prozeß zu deuten. Die Herausbildung des demokratischen Rechtsstaates verlief vielmehr labil und störanfällig, in Extremfällen bis hin zur Apologie des NS-Unrechts. So ist etwa für die sechziger Jahre zu konstatieren, daß die NS-Prozesse zu keiner erhöhten Empathie mit den Opfern und zur Einsicht in die Strafwürdigkeit der Mordtaten geführt, sondern im Gegenteil die Ablehnung der Strafverfolgung befördert haben. Das weitgehende Desinteresse am Opfer, sowohl in der öffentlichen Meinung wie im Justizapparat, ist Teil einer "Befangenheitsperspektive" vieler Deutscher, die nicht zuletzt aus dem durchaus vorhandenen, freilich nicht offen eingestandenen Bewußtsein von der gesamtgesellschaftlichen Verstrickung in die Verbrechenspolitik des Regimes erklärt werden kann. Amelung gab einen allgemeinen Überblick über die gesetzlichen Grundlagen der Beurteilung des DDR-Unrechts und veranschaulichte die Rechtsprechung an drei Themenkomplexen: "Mauerschützen"-Prozesse, Rechtsbeugung durch Angehörige der Justiz und Spionage durch Angehörige der Staatssicherheit. Die nationalen (und internationalen) Gerichte kamen zu gleichartigen Ergebnissen, unterschieden sich aber in den Begründungen stark. Letztendlich war Amelungs Argumentation ein Plädoyer für die "richterliche Kunst, zwischen entgegengesetzten Standpunkten einen gerechten Ausgleich zu finden und dadurch Frieden zu schaffen". Im Hinblick auf die justitielle Aufarbeitung nach 1945 stellte Amelung nun eine höhere Geschwindigkeit und größere Entschlossenheit fest. Mehr als zehn Jahre nach der Wiedervereinigung seien die wichtigsten Themenkomplexe justitiell abgearbeitet und bewältigt, mithin die deutsche Praxis zum Exportschlager geworden.

Seit wenigen Jahren, beschleunigt durch die Generationenwechsel und dem Ende der Zeitzeugenschaften der Täter und Opfer, wird der bundesrepublikanische Umgang mit den Opfern wissenschaftlich untersucht, wie auch der staatliche und gesellschaftliche Umgang mit den Tätern zum Forschungsthema geworden ist. Inzwischen historisiert sich die Erforschung der Aufarbeitungsgeschichte selbst, sie wird damit zur nachholenden Bewältigung der Vergangenheitsbewältigung. Der Ort, an dem die Tagung in Münster stattfand, hätte nicht mit mehr Bedacht ausgewählt werden können: die Villa ten Hompel, ein Ort der Polizei-Schreibtischtäter im Nationalsozialismus, eine Stätte der administrativen Wiedergutmachung in der frühen Bonner Republik, ein Zentrum der Täter- und Opferforschung in der neuen Berliner Republik, oder: ein Geschichtsort an der Schnittstelle von Erinnern, Forschen und Lernen, der seinen Beitrag zur demokratischen Erinnerungskultur leistet.

Kontakt

Dr. Alfons Kenkmann

Leiter des Geschichtsort
Villa ten Hompel
Kaiser-Wilhelm-Ring 28
48145 Münster

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