Die Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing: Kultur und Kommunikation des Wissens

Die Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing: Kultur und Kommunikation des Wissens

Organisatoren
Ulrich Johannes Schneider in Verbindung mit dem Collège de France
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.10.2002 - 25.10.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulrich Johannes Schneider, Abteilung Forschungsprojekte, Herzog August Bibliothek , Wolfenbüttel

Die Wolfenbütteler Tagung zur Gelehrtenrepublik im 18. Jahrhundert wurde in Verbindung mit dem Collège de France organisiert und setzte eine Problematisierung der Gelehrtenrepublik fort, die im Jahre 2001 mit einer Konferenz in Paris begonnen wurde (über die "Republique des Lettres" bis zum 17. Jahrhundert), damals organisiert von Prof. Marc Fumaroli. Fumaroli war leider verhindert, die Wolfenbütteler Tagung zu eröffnen; in einem in Wolfenbüttel verlesenen Text betonte er die Aktualität der Idee, welche die Gelehrtenrepublik in Europa seit dem 15. Jahrhundert repräsentierte. Der Gedanke geistiger Einheit gegen die politische und konfessionelle Zersplitterung Europas in der Frühen Neuzeit sei auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine notwendige Aufgabe der Bildung und der Erziehung.

Die Gelehrtenrepublik zwischen Wissenschaft und Religion
Die Wolfenbütteler Tagung widmete sich dezidiert weniger der Idee als vielmehr der Praxis der Gelehrtenrepublik und untersuchte ihre Formen bzw. Grenzen zwischen Universität, Akademie und höfischem Leben. In seinem Eröffnungsvortrag skizzierte Ulrich Johannes Schneider (Wolfenbüttel) verschiedene Denkstile in der kommunikativen Welt des Geistes: Leibniz als irenisch-diplomatischer Denker der Perspektivenvereinigung pflegte in Briefen und Schriften einen Ton der "Harmonie", von dem Lessing als polemisch-kritischer Anwalt eines öffentlichen Meinungsaustrags (auch in religiösen Dingen) sich deutlich absetzen lässt. Einige der insgesamt 65 Entwürfe, die Leibniz für noch zu gründende Akademien hinterlassen hat, rekonstruierte Hans Poser (Berlin) und zeigte, dass bei Leibniz die "scientia generalis" mit religiösen bzw. kirchenpolitschen Annahmen verbunden war. Die "Einmütigkeit der Gottesfürchtigen" stand durchaus nicht zufällig im Vordergrund einer Bestimmung der Gelehrtenrepublik als welt- und sachenüberspannendes Gespräch. Dass aus religiösen Vorannahmen auch Vorbehalte gegenüber der Wissenschaft werden konnten, wies Reimund Sdzuj (Greifswald) in seiner Einlassung auf eine orthodox-lutherisch geprägte universitäre Debatte zu Anfang des 18. Jahrhunderts um die Möglichkeit (auch im Sinne der Zulässigkeit) von menschlicher Innovation nach. Sdzuj problematisierte die Blumenberg-These von der Identifikation der Neuzeit mit der Neugier und verwies auf eine reiche Tradition akademischer Kritik am Konzept der "Neuerung" und an der Figur des "Neuerers". Im Kontext deutscher Universitätsgelehrter mußte die Möglichkeit von Experiment und empirischer Erfahrung moralisch in den Bereich der "adiaphora" verwiesen werden, um tolerierbar zu sein.
Hartmut Hecht (Berlin) zeigte in einem der wenigen Beiträge zur Entwicklung der Naturwissenschaft, wie sehr metaphysische Annahmen die Diskussion der Physik bestimmten, etwa in der Uminterpretation des Leibnizschen Begriffs der "action" durch Maupertuis, samt der daraus für die Analyse der Lichtbrechung folgenden Konsequenzen. Ursula Goldenbaum (Berlin) nahm ebenfalls Maupertuis ins Visier, nicht allerdings als Theoretiker, sondern als machtbewussten Akademie-Präsidenten, der mit Zensur und politischen Intrigen eine Differenz in der Sache (mit Samuel König) auszufechten verstand. Die Akademie, üblicherweise als freies Territorium der Gelehrten angesehen, erwies sich als ein Ort disziplinierter Diskursivität, gegen den man sich nur in ausgewählten Zeitschriften an "ausländischen" Druckorten behaupten konnte. Die Debatte, die auch mit Unterstützung des preußischen Königs unterdrückt werden sollte, fand gleichwohl statt: eine neue Öffentlichkeit wurde ins Werk gesetzt.

Buchmarkt, Universität und Urteilskultur
Anne Saada (Paris) rekonstruierte den raschen Aufbau der Göttinger Universitätsbibliothek (gegründet 1737) zur führenden wissenschaftlichen Einrichtung des deutschen 18. Jahrhunderts und wies insbesondere auf die Funktion der Rezensionszeitschriften hin, welche die Buchankäufe unterstützten und begleiteten. Die Göttingischen Gelehrten Anzeigen verpflichteten die gelehrte Diskussion in Deutschland auf unbedingte Aktualität; ihr Herausgeber Christian Gottlob Heyne war zugleich Bibliothekar in Göttingen. Den Blick auf das Rezensionswesen weitete Ute Schneider (Mainz) mit Rücksicht auf die gesamte Buchproduktion, die zu beherrschen allerdings unmöglich war, weil sich spätestens ab 1765 der Buchmarkt immer stärker differenzierte (was man auch den Messkatalogen ablesen kann). Daraus aber ergab sich gerade umgekehrt die Bedeutung des kritischen Urteils, welches die Verwissenschaftlichung der Gelehrtenrepublik im 18. Jahrhundert vorantrieb. Auf der anderen Seite entstand auf dem Gebiet der Zeitschriften mit den Moralischen Wochenschriften ein offiziöser Meinungsmarkt abseits der schulischen und universitären Wissensvermittlungsinstitutionen, wie Martin Gierl (Göttingen) zeigte. Er wies so etwas wie eine "soziale Vertextung" des Wissens nach, das in seiner ganzen Breite (Beispiel: der Enzyklopädismus) nun einem Urteil unterworfen wurde, das zugleich von den Zeitschriftenautoren autoritativ vorgeprägt war.
Im Ausgang von Christian Thomasius verfolgte Frank Grunert (Gießen) die Abwertung der memoria zu Gunsten des judicium; er nannte es eine "Pragmatisierung der Gelehrsamkeit", nicht mehr das Wissen schlechthin, sondern die wahre Überzeugung ins Zentrum der intellektuellen Auseinandersetzung zu stellen. Die Unterscheidung von Schul- und Weltweisheit sollte nicht als Abwertung des akademischen Umgangs gewertet werden, sondern muss als Funktionalisierung wissenschaftlicher Argumente im engeren Sinne verstanden werden, eingebettet in eine offene bzw. öffentliche Kultur der Urteilsfindung. Das hat Hanspeter Marti (Engi) eindrucksvoll belegt, indem er das Programm von Christian Thomasius untersuchte, durch Ausgestaltung der traditionellen Disputation die freie Diskussion in die Universität einzuführen. Thomasius stärkte die Rolle des Opponenten und versuchte, den Übungscharakter der akademischen Thesenverteidigung zu Gunsten einer echten Auseinandersetzung um Sachfragen herabzumindern: öffentlich zu diskutieren hieß für ihn, moralische Verantwortung für das Gesagte zu übernehmen. Dass die Urteilskultur des frühen 18. Jahrhunderts auch die Quellenkritik motivierte und eine Verwissenschaftlichung der historischen Kenntnis beförderte, konnte Helmut Zedelmaier (Wolfenbüttel) zeigen. Er wählte Christoph August Heumann als Beispiel für die Depotenzierung des christlichen Weltbildes und seiner historischen Annahmen bezüglich des Ursprungs gelehrten Wissens. Die Philosophiegeschichte tritt in die neue Funktion einer kulturhistorischen Untersuchung über die gesellschaftlichen Bedingungen von gelehrter Existenz ein.

Zwischen Literatur und Wissenschaft
Rainer Maria Kiesow (Frankfurt) führte in die Schwierigkeit ein, das juristische Wissen einerseits als Ausbildung des Gesetzeswissen im Prozess der Aufklärung zu lokalisieren, andererseits das Wissen um die juristisch problematischen Fälle in ihrem individuellen Charakter als Geschichten zu würdigen. Zwischen Literatur und Wissenschaft wird erst im 19. Jahrhundert eindeutig getrennt; der "Pitaval" als (prinzipiell unmögliche) "Enzyklopädie der Fälle" zeigt, dass Wissen noch nicht eindeutig einer nur professionellen Öffentlichkeit angehörte. Auch Merio Scattola (Pisa) ging der Trennlinie zwischen Literatur und historischer Wahrheit anhand der gängigen Definition der Historia Literaria nach, innerhalb derer die empirische Berücksichtigung von fiktionalen Erzählungen einer Rehabilitierung der Geschichtskenntnis in moralischer Absicht parallel lief. Gegen die gängige Abwertung der literarischen Phantasie kann mit Argumenten von Pierre Daniel Huet und Christian Thomasius der Roman als Verkleidung moralphilosophischer Erkenntnis gelesen und in seiner praktischen Wirksamkeit anerkannt werden. Die roman-rechtfertigenden Argumente etablieren neben der Tugendlehre auch eine Klugheitslehre im 18. Jahrhundert. Dass die literarische Form eine scharfe Grenze war, wenn es um die Zugehörigkeit zur Gelehrtenrepublik ging, machte Edoardo Tortarolo (Turin) klar. Er konnte mit Johann Conrad von Hatzfeld die tragische Geschichte eines Aspiranten erzählen, welcher in die Gelehrtenrepublik keinen Einlass erhielt, weil er mit seinen religionskritischen Schriften im Freidenker-Stil die Grenzen der Höflichkeit verletzte und damit die Kommunikabilität seiner Thesen dauerhaft gefährdete. Die radikale Aufklärung, die jüngst von Jonathan Israel und Martin Mulsow aufgearbeitet worden ist, konnte sich nicht dauerhaft in die Gelehrtenrepublik integrieren, da diese weder in Deutschland noch in Frankreich ihre Nähe zu den Zentren der Macht aufs Spiel setzen konnte.

Die Gelehrtenrepublik als kommunikatives Netzwerk
Die These, dass die gelehrte Welt kommunikativ institutionalisiert sei, bildete den Ausgangspunkt von Hans Erich Bödekers (Göttingen) Ausführungen, in denen er als Beispiel die gelehrte Reise mit all ihren Ritualen (Empfehlungsschreiben, Besucherbuch etc.) als eine lebenspraktische Stütze der gelehrten Existenz wählte. Wissen war in das Rezipieren und Tradieren investiert: die festetablierten Akademien bilden in dieser Hinsicht nur Zentren der Verdichtung einer Kommunikationsstruktur, welche das eigentliche Rückgrat der Gelehrtenrepublik ausmacht. Jeroom Vercruysse (Brüssel) belegte am Leben und an den Schriften von Charles Joseph de Ligne die konstitutive Rolle der Reisen für die Entstehung literarisch zirkulierbaren Wissens. Eine Verschränkung von Hofkultur und gelehrter Welt wirkt noch im 18. Jahrhundert nach, weshalb man die Grenzen des gebildeten Milieus nicht allzu streng um die Akademien und Universitäten ziehen darf. Konkret auf das gelehrte Milieu konzentriert, untersuchte Michel Kowalewicz (Montpellier) die osteuropäischen Verbindungen der deutschen Gelehrtenkultur anhand des Briefwechsels von Johann Albrecht Euler, Sekretär an der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Euler war über 40 Jahre hinweg das Zentrum der Kommunikation zwischen Petersburg, Moskau, Berlin und Paris; er etablierte in offizieller wie in privater Funktion ein Netzwerk, welches die Gelehrtenrepublik interdisziplinär und interkulturell stabil halten konnte. Solche Netzwerke waren gelegentlich nicht nur bildungsgeschichtlich, sondern unmittelbar sozialhistorisch gestützt bzw. wurden als solche durch die Emigrationsbewegungen erzeugt. Am Beispiel der Predigerfamilie der Beausobres thematisierte Jean-Loup Seban (Brüssel) Assimilations- und Akkommodationsleistungen der hugenottischen Prediger am preußischen Hof. Die Toleranzidee wurde im Reflex der konfessionellen Meinungen im 18. Jahrhundert nicht zufällig betont. Netzwerke waren auch die Bibliotheken. Françoise Bléchet (Paris) schilderte die Bibliothek des französischen Königs als einen intellektuellen Wegweiser aus der europäischen Begrenzung der Gelehrtenrepublik im Sammelschwerpunkt "Orientalismus". Dass die Gelehrtenrepublik nicht allein gelehrtes Wissen zum Inhalt hatte, sondern im 18. Jahrhundert wesentlich eine Kultur der Erziehung und Bildung einschloss, betonte Nicholas Phillipson (Edinburgh). Er gab ein breit entwickeltes Bild der schottischen Gelehrtenrepublik vor der Mitte des 18. Jahrhunderts, innerhalb und am Rande der Universitäten. Die Aufnahme in die Gesellschaft der Gelehrten war notwendig an einen Prozess der Erziehung und Bildung gebunden, der einerseits eine internationale Dimension hatte (die schottischen Universitäten kopierten holländische Universitätsverfassungen und Lehrpläne), andererseits in Clubs und Gelehrtengesellschaften regionale Milieus ausbildete, aus denen im Falle Schottlands mit David Hume, Thomas Reid und Adam Smith eine ganze Schule sozialen und ökonomischen Denkens hervorging.

Die Wolfenbütteler Tagung zur Gelehrtenrepublik fand in angeregter Atmosphäre statt und hat bei allen Beteiligten zur Überzeugung geführt, die vorgetragenen Überlegungen und Fallstudien auszuarbeiten und so zu gruppieren, dass sie in einem Band publiziert werden können.


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