Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?/ What is National Socialist about Eugenics?

Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?/ What is National Socialist about Eugenics?

Organisatoren
Historisches Seminar, Universität Basel (Prof. Dr. Regina Wecker, Sabine Braunschweig, Gabriela Imboden, Hans-Jakob Ritter), Dr. Bernhard Küchenhoff (Psychiatrische Universitätsklinik Zürich), im Rahmen des Forschungsprojektes „Eugenik und Verwaltung im Kanton Basel-Stadt, 1880-1960“ des Nationalen Forschungsprogramms 51 „Integration und Ausschluss“
Ort
Basel
Land
Switzerland
Vom - Bis
17.02.2006 - 18.02.2006
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Von
Martin Lengwiler, Universität Basel

In der deutschsprachigen Forschung wird die Geschichte der Eugenik meist mit Blick auf die nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungsprogramme – von den Zwangssterilisationen bis zur Ermordung körperlich und geistig Behinderter – untersucht. Die internationale Eugenikbewegung bildete nach 1900 allerdings eine heterogene Sammlungsbewegung mit Anhängern in linken wie rechten Parteien, in Wissenschaft und Politik, in Diktaturen wie dem faschistischen Italien und NS-Deutschland sowie in demokratischen Staaten wie Großbritannien, den USA, den skandinavischen Ländern oder der Schweiz. Der Titel der zu besprechenden Tagung – „Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?“ – stellt deshalb eine rhetorische Frage. Natürlich lässt sich die Eugenik nicht auf den Nationalsozialismus reduzieren, darin waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung einig. Im Übrigen stand die Titelfrage für das forschungsstrategische Anliegen der Organisatorinnen und Organisatoren: die deutschsprachige Forschung zur Eugenikgeschichte stärker in die internationale Forschungslandschaft einzubetten. Mit ihrer international breit besetzten, stringent gegliederten und insgesamt ertragreichen Tagung ist dies auch gut gelungen.

Regina Wecker skizzierte einleitend die geschichtstheoretischen Probleme, die die Eugenik als historischer Gegenstand stellt. Um die Eugenikbewegung nicht einfach auf eine sozialpolitische Etappe des Sonderwegs zum Nationalsozialismus zu reduzieren, schlug Wecker vor, sie im Rahmen einer Theorie der Moderne zu analysieren. In Anlehnung an den Begriff der ambivalenten Moderne (Zygmunt Bauman) plädierte Wecker dafür, die Eugenik als „biopolitisches Projekt der bürgerlichen Moderne und als vergleichbar mit modernen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“ zu verstehen; dies auch im Sinne einer kritischen Sicht auf das Projekt Moderne, einschließlich seiner rassistischen und antifeministischen Bestandteile. Die Schweiz biete, so Wecker, mit ihrer demokratischen Verfassung einerseits und den vielfältigen politik-, wirtschafts- und wissenschaftshistorischen Verbindungen zu NS-Deutschland andererseits ein besonders lohnenswertes Untersuchungsfeld für einen nicht-totalitären Zugang zur Eugenikgeschichte.

Ausgehend von der skandinavischen Forschung unterstützte Lene Koch (Kopenhagen) diesen Ansatz. Sie verwies darauf, dass die seit 1929 erlassenen eugenischen Sterilisationsgesetze in den skandinavischen Staaten primär von sozialdemokratischen Gruppierungen ausgingen. Koch kritisierte einige historiografische „Mythen“ und die damit zusammenhängende „Dämonisierung“ der Eugenik in der historischen Forschung. Parteipolitische Schwarzweiß-Malerei sei kaum erhellend. In Skandinavien hätten reaktionär-konservative Parteien oft gegen eugenische Maßnahmen politisiert, während Sozialstaatsbefürworter oder Feministinnen die Sterilisationsgesetze befürworteten. Auch die in der Forschung verbreitete Gleichsetzung von Eugenik und Zwangsmaßnahmen, in Abgrenzung von einer auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit begründeten Humangenetik, ließe sich nicht auf die skandinavischen Verhältnisse übertragen. Hier beruhten die eugenischen Sterilisationsgesetze auf einer Mischung von Zwang und Freiwilligkeit: Bevormundete wurden zwangssterilisiert, nach bürgerlichem Recht Handlungsfähige mussten dagegen entsprechenden Eingriffen zustimmen. Koch spitzte ihr ikonoklastisches Argument noch zu, indem sie forderte, auch die progressiven, emanzipatorischen Folgen eugenischer Sterilisationsgesetze anzuerkennen. In Dänemark waren so genannt Schwachsinnige vor 1929 meist lebenslang in Anstalten interniert. Erst mit dem Sterilisationsgesetz ließen sich die politischen Parteien dazu gewinnen, die Internierungspolitik zu begraben und die Anstaltsinsassen aus der Verwahrung zu entlassen. Unter diesen realpolitischen Umständen bildeten die Sterilisationsgesetze, so Koch, die progressivere zweier diskriminierender Maßnahmen. Im Sinne des Biopolitik-Begriffs von Nikolas Rose trage die Eugenik sowohl repressive wie emanzipatorische Züge.

Auch das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik ließ sich an der Tagung nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Staffan Müller-Wille (Exeter) illustrierte dies am Beispiel der Biografie Wilhelm Johannsens (1857-1927). Johannsen, der nach 1900 die Begriffe des Gens sowie die Unterscheidung zwischen Genotyp und Phänotyp geprägt hat und zu den Begründern der modernen Genetik gehört, kritisierte die zeitgenössische rassenbiologische Vererbungsforschung und deren eugenische Züchtungsvisionen als unwissenschaftlich. Dies hinderte ihn nicht, in den 1920er Jahren aus sozialpolitischen Überlegungen für die Einführung von Sterilisationsgesetzen zu argumentieren. Müller-Wille betonte die vielfältigen Asynchronitäten zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Umsetzung, die durch die notorische Zersplitterung der akademischen Eugenikbewegung noch akzentuiert wurden. Die wissenschaftliche Begründung eugenischer Postulate stand in der Zwischenkriegszeit auf schwachen Füßen; mendelistische und biometrische, darwinistische und lamarckistische Ansätze befanden sich in anhaltendem Widerstreit.

Nach diesen drei Eröffnungsreferaten war die Tagung in thematische Sektionen gegliedert. Die erste Sektion zum Thema „Sterilisation“ beschäftigte sich mit der Entwicklung der staatlichen Bevölkerungspolitik. Am Beispiel Deutschlands wurde danach gefragt, wie weit die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik eine Radikalisierung der Rassenhygiene vor 1933 darstellte. Johannes Vossen (Berlin) verwies in seinem Referat auf die bis in die 1920er-Jahre zurückreichenden Vorarbeiten zum 1933 erlassenen NS-Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Trotz der bevölkerungspolitischen Kontinuitäten zwischen Weimarer Republik und NS-Zeit wäre, so Vossen, ein Sterilisationsgesetz wie dasjenige von 1933 vor der Machtergreifung gegen den Widerstand kommunistischer und vor allem katholisch-konservativer Kreise nicht möglich gewesen. Vossen hob vor allem die Diskontinuitäten zwischen Weimarer Republik und NS-Zeit hervor. Die nationalsozialistische Sterilisationspolitik baute auf einer völkischen Rassenhygiene auf und begründete mit den „Erbgesundheitsgerichten“ einen umfassenden Zwangsapparat zur Durchsetzung massenhafter Zwangssterilisationen – beides stand im Gegensatz zur Bevölkerungspolitik der Weimarer Republik. Der Beitrag von Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld) behandelte die Verbindungen zwischen der Vererbungsforschung am „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ und der NS-Erbgesundheitspolitik. Die beiden prominentesten Exponenten des Instituts, Eugen Fischer und Otmar Frhr. von Verschuer, wandten sich in ihrer Forschung von einem reduktionistischen Vererbungskonzept ab und zur Phänogenetik hin; mit diesem Paradigmenwechsel relativierten sie auch das Primat der Vererbung. Dies änderte jedoch, so Schmuhl, nichts an ihrer Unterstützung der Eugenik. Beide befürworteten nach 1933 vorbehaltlos die nationalsozialistische Sterilisationspolitik und engagierten sich unter anderem als ärztliche Beisitzer aktiv an Sterilisationsverfahren der Erbgesundheitsgerichte. Schmuhl kam zu dem Schluss, dass Allianzen zwischen Biowissenschaft und NS-Bevölkerungspolitik unabhängig von den jeweiligen wissenschaftlichen Paradigmen möglich waren.

Im dritten Beitrag zur Sektion beleuchteten Béatrice Ziegler (Zürich) und Gisela Hauss (St. Gallen) die Sterilisationspraxis im Umfeld zweier kommunaler Sozialhilfebehörden in der Schweiz (Bern und St. Gallen). Der kontrastierende Vergleich mit Deutschland war besonders aufschlussreich. Formal fehlte in der Schweiz eine Zwangsgesetzgebung (nur der Kanton Waadt kannte überhaupt ein eugenisch motiviertes Sterilisationsgesetz). Sterilisationen konnten nur nach Einwilligung der Betroffenen oder ihrer Vormünder durchgeführt werden. Zwang wurde hier subtiler ausgeübt. Die Sterilisationen beruhten auf einer situativ-flexiblen administrativen Herrschaftspraxis, bei der die Vormundschaftsbehörden eng mit Medizinern oder Psychiatern kooperierten. Auf diesem informellen Weg kam es seit der Zwischenkriegszeit zu einer breiten eugenischen Sterilisationspraxis; die Eingriffe wurden sowohl in privaten wie öffentlichen Kliniken durchgeführt.

Die Sektion „Wissenschaft“ beschäftigte sich mit dem akademischen Expertendiskurs, der vergleichend in Deutschland, Großbritannien und der Schweiz untersucht wurde. Alexander von Lünen (Darmstadt) beleuchtete die mendelschen Züchtungsutopien von J.B.S. Haldane, der noch in den 1960er-Jahren positiv-eugenische Züchtungsprojekte für die bemannte Raumfahrt vorschlug, gleichzeitig aber ein Gegner negativ-eugenischer Zwangssterilisationen war. Veronique Mottier (Lausanne/Cambridge) illustrierte am Beispiel der Schweiz, dass die akademischen Eugenikdebatten je nach sprachregionalen und konfessionellen Voraussetzungen stark variierten – mit entsprechend unterschiedlichen politischen Folgen. Mottier betonte die Abhängigkeit des Eugenikdiskurses von den politischen Institutionen. Dass beispielsweise die Sterilisationspolitik in der Schweiz weitgehend auf Frauen zielte hing nach Mottier mit dem bis 1971 institutionalisierten Ausschluss der Frauen aus dem politischen System zusammen. Veronika Lipphardt (Berlin) untersuchte die Eugenikdebatten unter deutsch-jüdischen Medizinern, Anthropologen und Biologen zwischen 1900 und 1935. Sie kritisierte die in der neueren Wissenschaftsgeschichte teils postulierte Einheit eines jüdischen Eugenikdiskurses („jewish eugenics“). Dagegen verwies Lipphardt auf das breite Spektrum bevölkerungspolitischer Positionen unter deutsch-jüdischen Biowissenschaftlern. Sie betonte außerdem die für den jüdischen Eugenikdiskurs charakteristische Auseinandersetzung mit religiösen Fragen der Mischehe zwischen Juden und Nichtjuden. Insgesamt beruhte der jüdische Eugenikdiskurs nach Lipphardt weitgehend auf individualistischen, anti-biologistischen Ansätzen sowie auf dem Freiwilligkeitsprinzip und unterschied sich damit fundamental von den rassenbiologischen Vererbungsdiskursen und der NS-Rassenhygiene.

Angesichts dieser schwer überschaubaren Gemengelage des akademischen Eugenikdiskurses wurde in der Diskussion gar gefordert, die epistemische Ebene als belanglos zu betrachten und die eugenischen Praktiken vollständig aus der Eigendynamik sozialpolitischer Institutionen zu erklären. Solche Thesen ließen sich in der Sektion „Eugenik – Sozialhygiene – Sozialtechnologie“ überprüfen. Bernhard Dietz (London/Berlin) untersuchte die Eugenikdebatte in der radikal-konservativen Rechten Großbritanniens in der Zwischenkriegszeit, deren elitär-sozialdarwinistische Konzepte nach den Massenopfern des Ersten Weltkriegs (und dem befürchteten „Survival of the Unfittest“) besondere Beachtung fanden. Trotzdem blieb die radikale Rechte – die zu den britischen Faschisten eine kritische Distanz wahrte – mit ihren Herrenmenschenidealen politisch wirkungslos. Ursula Ferdinand (Berlin) beleuchtete die Sozialhygiene Alfred Grotjahns, der in der Weimarer Republik im Stile eines „medizinischen Kathedersozialisten“ eine soziologische Version der naturwissenschaftlichen Hygiene formulierte. Grotjahn stand einer auf Freiwilligkeit beruhenden praktischen Eugenik positiv gegenüber und beriet beispielsweise die Berliner Behörden bei der Errichtung kommunaler Sexual- und Eheberatungsstellen. Die Diskussion hob in der Tat die Bedeutung langfristiger bürokratischer Vewaltungstraditionen hervor (vom deutschen Gemeindesozialismus bis zur britischen Poor Law-Tradition). Eheverbote, Internierungsmaßnahmen und Sterilisationspraktiken waren ja keine Innovationen der Eugenikbewegung, sondern finden sich teils bereits in der Frühen Neuzeit. Zieht man solche bürokratischen Kontinuitäten in Betracht, dann bietet die Eugenik zwar eine neue Legitimationsbasis mit neuen Handlungsoptionen, die institutionelle Umsetzung müsste aber im Rahmen einer langfristig angelegten Geschichte bürokratischer Herrschaftssysteme untersucht werden.

Die Sektion „Netzwerke – Katholizismus“ befasste sich mit der Rolle der Eugenik in katholischen Staaten. Die neuere Forschung konnte sowohl an europäischen wie amerikanischen Fällen zeigen, dass die Eugenikbewegung auch in katholischen Gebieten und Milieus Fuß fasste. Die Sektion hat diese Ergebnisse an empirischen Beispielen aus Österreich und Italien weiter differenziert. Monika Löscher (Wien) argumentierte, dass eugenisches Denken in katholischen Staaten nicht gleichbedeutend mit einer „katholischen Eugenik“ ist. Die katholische Kirche Österreichs lehnte eugenische Zwangsmittel wie Sterilisationen und Abtreibungen klar ab; trotzdem folgte die kirchliche Familien- und Sexualethik eugenischen Grundgedanken und verstand sich nach Löscher als die „bessere Eugenik“. Daneben existierte in Österreich – darauf verwies neben Löscher auch Thomas Mayer (Wien) – eine breite, teils katholische, teils liberal-antiklerikale Eugenikbewegung, die in Vereinen wie der „St. Lukas Gilde“ oder der Wiener Gesellschaft für Rassenpflege organisiert war. Andreas Venakis (Zürich) beleuchtete die italienische Eugenikbewegung, die ebenfalls ihre Forderungen mit der katholischen Familien- und Sexuallehre zu verbinden suchte und nach der pronatalistischen Wende des italienischen Faschismus 1927 breite Beachtung fand, in dem sie etwa die neuen Beratungsstellen für Ehekandidaten mitgestaltete. Josef Mooser (Basel) folgerte in seinem Kommentar gleichwohl, dass die Reichweite eugenischer Diskurse in katholischen Milieus durch verschiedene Faktoren begrenzt blieb: etwa durch die kirchliche Moral der Unverfügbarkeit über das menschliche Leben, durch das katholische Misstrauen gegen moderne staatliche Institutionen oder durch den naturrechtlich begründeten katholischen Sittlichkeitsdiskurs.

Die letzte Sektion stand unter dem Titel „Positive/negative Eugenik: Kontinuitäten und Diskontinuitäten“ und behandelte die Bevölkerungs- und Familienpolitik nach 1945. Daphne Hahn (Berlin) zeigte in ihrem vergleichsgeschichtlich angelegten Beitrag, dass sowohl in der BRD als auch in der DDR im Zuge einer pronatalistischen Bevölkerungspolitik eugenisch motivierte Sterilisationen unter Voraussetzung einer medizinischen Indikation weiterhin möglich waren. Florian Grams (Hannover) und Christoph Keller (Basel) unterstrichen je für den deutschen und schweizerischen Kontext, dass die körperlichen Normalitätsvorstellungen der Eugenik von der pränatalen Diagnostik aufgenommen und weitergeführt wurden. Parallel dazu, dass die pränatale Diagnostik in den letzten Jahren zum selbstverständlichen Eingriff geworden sei, habe sich, so Grams, auch die sozialpolitische Marginalisierung der Behinderten verstärkt, was sich etwa in Diskussionen um die Übernahme der Folgekosten von Behinderungen durch die Krankenkassen zeige. Keller griff auf Jürgen Links Normalisierungskonzept zurück, um die Entwicklung eugenischen Denkens nach 1945 zu beleuchten. Er unterschied zwei Normalisierungsphasen, eine proto-normalistische Normalisierung der klassischen Eugenik und eine neuere Phase der flexiblen Normalisierung, die sich in den aktuellen biomedizinischen Eingriffen manifestiere.

Den Schlusskommentar lieferten Susanne Heim (Berlin) und Jakob Tanner (Zürich). Heim erinnerte nochmals an die übergeordnete und während der Tagung manchmal etwas aus dem Blick geratene Fragestellung nach dem Zusammenhang zwischen Eugenik und Moderne. Um einer Antwort näher zu kommen schlug sie vor, die konkreten Bedingungen für die Ausbreitung des Eugenikdiskurses vergleichsgeschichtlich zu analysieren. Die Tagung lieferte dafür einige wichtige Anhaltspunkte: die Verknüpfung eugenischer Diskurse mit sozialpolitischen Institutionen wie der Fürsorge oder dem Gesundheitswesen, aber auch spezifisch historische Umstände wie die sozialpolitischen Destabilisierungen während und nach dem Ersten Weltkrieg. Gerade die institutionellen Bedingungen eugenischen Handelns müssten noch weiter untersucht werden, um etwa die nationalen Sonderwege des Eugenikdiskurses erklären zu können. Als weiteres Forschungsdesiderat führte Heim die Frage der Internalisierung an. Eugenische Interventionen hätten sich im Lauf des 20. Jahrhunderts von externen, institutionellen Zwangsmaßnahmen zunehmend zu internalisierten, subjektiven Entscheidungen gewandelt. Unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen und mit welchen bevölkerungspolitischen Folgen dieser Wandel zustande kam, sei noch weitgehend ungeklärt. Tanner nannte abschließend einige ungelöste methodische und theoretische Forschungsprobleme. Zunächst sei der Gegenstand der Forschung immer noch instabil: weder die Eugenik selbst noch zentrale Begriffe wie der „Zwang“ (etwa bei Zwangssterilisationen) ließen sich präzis definieren. Um solche facettenreiche Phänomene analytisch besser zu fassen, plädierte Tanner für einen wohltemperierten Nominalismus. Im Anschluss an Heim forderte er weiter, neben der Wissenschaft auch die Rolle der Institutionen ernst zu nehmen. Wichtig wäre eine Theorie der institutionellen Opportunitäten, deren sich die verschiedenen Akteure – Wissenschaftler, Ärztinnen, Politiker oder Patientinnen – bedienten. Schließlich fehle eine fundierte Kritik des Begriffs der Freiwilligkeit. Freiwilligkeit, eine für den eugenischen Diskurs zentrale rhetorische Figur, gehe von einer herrschafts- und zwangsfreien Scheinsituation aus. In der historischen Praxis dagegen seien Entscheidungen immer mit Nutzen und Kosten verbunden. Utilitaristische oder Rational Choice-Modelle müssten deshalb für die historische Forschung kritisch umformuliert werden.


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