Historikertag 2002: Staatssymbolik und Geschichtskultur im "neuen" Osteuropa"

Historikertag 2002: Staatssymbolik und Geschichtskultur im "neuen" Osteuropa"

Organisatoren
44. Deutscher Historikertag
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2002 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Wilfried Jilge, Leipzig/Kiew

Sektion 5.22: Staatssymbolik und Geschichtskultur im "neuen" Osteuropa

Nach dem Zerfall der sowjetischen, jugoslawischen und tschechoslowakischen Föderationen in zwei Dutzend Nachfolgestaaten steht dort das Problem der Konstruktion einer einheitlichen Nationalgeschichte im Zentrum öffentlicher Debatten. Mit einer neu geschaffenen nationalstaatlichen Symbolik, also mit Staatswappen, Hymne, Flagge und anderen nationalen Hoheitszeichen, sowie mit staatlichen Gedenk- und Feiertagen werden bestimmte Ereignisse und Persönlichkeiten mit dem Ziel erinnert (oder vergessen), die Existenz der heutigen, "jungen" Staaten durch den Nachweis einer bis in älteste Zeiten zurückgehenden staatlichen Tradition zu legitimieren.

Der komplexe Zusammenhang von Geschichtskultur und historischer Erinnerung einerseits und den weiter im Gange befindlichen Nationsbildungsprozessen in Osteuropa andererseits ist erst in jüngster Zeit in den Fokus der Forschung geraten. Die Sektion, die aus einem DFG-geförderten Forschungsprojekt zum Thema "Visuelle und historische Kulturen Ostmitteleuropas im Prozeß staatlicher und gesellschaftlicher Modernisierung seit 1918" am Leipziger Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas hervorging und von Stefan Troebst (Leipzig) und Wilfried Jilge (Leipzig/Kiew) geleitet wurde, fragte daher insbesondere danach, wie und von wem sich die Nationen in ihren symbolischen Identitätskonstruktionen abgrenzen, welche historischen Traditionen und Konzepte von Nation den Symbolkonstruktionen zugrunde liegen und welche politischen Grundoptionen und Bedeutungen von ihnen im Hinblick auf die Gestaltung von Staats- und Nationsbildung abgeleitet werden können. Als Fallbeispiele dienten die GUS-Staaten Ukraine und Moldova sowie die jugoslawischen Nachfolgestaaten Kroatien und Makedonien. (Der Vortrag über das CSSR-Zerfallsprodukt Slowakei mußte ausfallen, da die Referentin Silvia Miháliková aus Bratislava verhindert war.)

Bei den genannten Beispielen handelt es sich sämtlich um Länder, in denen die Schaffung einer neuen bzw. der Rückgriff auf eine in der ersten Jahrhunderthälfte bereits einmal benutzte Staatssymbolik schwierig gewesen ist, folglich zu den umstrittensten Fragen der politischen Debatten gehörte bzw. immer noch gehört. Die häufigsten Gründe dafür sind eine uneinheitliche und noch nicht abgeschlossene Nationsbildung, regional unterschiedliche politische Traditionen, nachwirkende Prägungen sowjetischer und sozialistischer Identitäten in den aus supranationalen Staatsbildungen hervorgegangenen Nationalstaaten sowie die ambivalenten und historisch belasteten Beziehungen zwischen der Titularnation und den ehemaligen "großen Brudernationen". Hinzu kommen die Auswirkungen dieses Erbes auf die Debatten um die Symbolik, das ihr zugrundeliegende nationale Selbstbild sowie das Verhältnis zwischen Mehrheiten und Minderheiten.

Den Auftakt unter den Referenten bildete Holm Sundhaussen (Berlin) mit dem Vortrag "Divergierende Erinnerungskulturen in der Republik Kroatien: Nationalismus als verbindendes Element einer ideologisch gespaltenen Gesellschaft". Die gesamte Ära Tito hindurch waren laut Sundhaussen politische Elite und Gesellschaft der jugoslawischen Teilrepublik Kroatien entlang einer ideologischen Trennlinie gespalten: Den Anhängern des autoritären "Unabhängigen Staates Kroatien" (NDH) von Hitlers und Mussolinis Gnaden, wie er von 1941 bis 1944 bestanden hat, standen die Parteigänger des kroatischen Widerstandes kommunistischer Prägung gegen eben dieses staatsähnliche Gebilde gegenüber. Franjo Tudjman, der erste Präsident der 1991 gegründeten Republik Kroatien, verkörperte diesen Widerspruch gleichsam in seiner Person: In den sechziger Jahren wurde der titotreue Partisanengeneral zum nationalkroatischen Dissidenten. 1990 ins Präsidentenamt gewählt, bestand das Programm seiner "Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft" (HDZ) primär aus der Idee einer einheitlichen kroatischen Nation, deren Staatsbildungen vom 10. bis zum 20. Jahrhundert als wichtigstes Antemurale des westkirchlichen Europas gegen Islam und Orthodoxie fungierten. Die "šahovica", das rot-weisse Schachbrettwappen, welches mittelalterlichen Ursprungs ist und das zu NDH-Zeiten staatliches Wappen- und Flaggensymbol war, symbolisierte diese nationale Idee und untermalte die Politik der ethnischen Purifizierung durch Austreibung der serbischen Minderheit sowie das Ausgreifen auf Bosnien durch die militärische Unterstützung von Herceg-Bosna. Anders als in der Ukraine gelang die Etablierung der neuen Staatssymbolik in Kroatien in relativ kurzer Zeit, zumal zentrale Elemente wie das Schachbrett aus dem Wappen der jugoslawischen Teilrepublik übernommen werden konnten und regionale Unterschiede in den Erinnerungskulturen eine nicht so bedeutende Rolle spielten, wie z.B. in der Ukraine nach 1991. Einigen der einleitend genannten Fallbeispiele (z.B. Kroatien, Ukraine, Slowakei) sowie anderen Ländern Ostmittel- und Osteuropas gemeinsam ist jedoch die Schlüsselrolle, die dem Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg und der Bewertung der kommunistischen Vergangenheit im Zusammenhang mit einer nun mittels Symbolen zu konstruierenden "Nationalgeschichte" zukommt. Vor diesem Hintergrund betonte Sundhaussen, daß es dem kroatischen Präsidenten Tudjman vor allem um eine Aussöhnung zwischen kroatischen Opfern und Tätern gegangen ist, die freilich der Ausklammerung unangenehmer Fragen der Verantwortung für Missetaten der jüngsten Vergangenheit und damit der politischen Legitimation derjenigen Herrschaftselite diente, die eng mit dieser Vergangenheit verbunden war. Die Folge dieser Strategie ist darüber hinaus eine Vertiefung des auch in anderen Fallbeispielen beobachtbaren Opfermythos, der nicht nur mit einer Verdrängung, sondern auch mit einer konfliktträchtigen Ethnisierung der Fragen historischer Schuld einhergeht (wie z.B. im kroatisch-serbischen Konflikt).

Das zweite Beispiel aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien behandelte Christian Voss (Freiburg/Br.) in seinem Referat "Irredentismus als historischer Selbstentwurf in Wissenschaftsdiskurs und Staatssymbolik der Republik Makedonien". Das seit 1913 griechische Ägäisch-Makedonien fungiert gleich in dreifacher Hinsicht als Arsenal zur ethnisch-nationalen Eigendefinition des jugoslawischen und dann des postsozialistischen Makedonien. Hinter dem in der Diaspora angefachten archäomanen Disput von 1991-1995 um das kulturelle Erbe Alexanders des Großen im Stern von Vergina verbergen sich laut Voss die zentralsten, ebenfalls mit Griechenland verbundenen Symbole makedonischer historischer Identität. Zum einen der gescheiterte St. Elias-Tag- bzw. "Ilinden"-Aufstand von 1903 und der bulgarisch-griechische Guerillakrieg von 1904-1908, die zur Festschreibung des Opfermythos des makedonischen Volkes geführt haben (z. B. die Nachbarn als "vier Wölfe"), zum anderen die ethnische Semantisierung von drei - keinesfalls nach ethnischen Gesichtspunkten gezogenen - osmanischen Verwaltungsgebieten aus dem 19. Jh. Historische Analogiebildungen sind sowohl von den Parteiideologen der Kommunistischen Partei Jugoslawiens unternommen worden, die das jugoslawische Makedonien seit 1944 als "Zweiten Ilinden" bezeichneten, als auch von nationalistischen Kräften, die die Herauslösung aus Jugoslawien 1991 als "Dritten Ilinden", den Kampf gegen die UÇK im Sommer 2001 als "Vierten Ilinden" ausgerufen haben. Unterschiedliche Aus- bzw. Umprägungen der identitätsstiftenden Mythen ("Ilinden" und Territorium) können so an die politischen Umbrüche 1991 und 1998 gebunden werden.

Wilfried Jilge (Leipzig/Kiew) machte in seinem Vortrag "'National im Inhalt - sowjetisch in der Form?' Ukrainische Geschichtspolitik und nationalstaatliche Symbolik seit 1991" deutlich, daß die Schaffung einer neuen nationalstaatlichen Symbolik in der Ukraine eine der umstrittensten Fragen sowohl in den öffentlichen Debatten Anfang der 90er Jahre als auch in den Verfassungsdiskussionen in den Jahren 1995/1996 war. Bis heute, so seine These, ist das Problem der Staatssymbolik noch nicht gelöst. So ist beispielsweise das Konzept für ein Großes Staatswappen zwar von der Staatlichen Kommission verabschiedet und vom Präsidenten bestätigt worden, aber die laut Verfassung notwendige Zustimmung des Parlaments liegt noch nicht vor. Die Konflikte um die Symbolik in der Ukraine sind nur vor dem Hintergrund der regional unterschiedlichen Erinnerungskulturen zu verstehen. Die Territorien der heutigen Ukraine gehörten über lange Perioden zu unterschiedlichen Großreichen und Staatsgebilden wie dem Russischen Reich, Österreich-Ungarn, Polen-Litauen, dem Osmanischen Reich, dem Khanat der Krimtataren und der Sowjetunion. Das Kleine Wappen der Ukraine, der der Periode der mittelalterlichen Kiever Rus' entlehnte Tryzub (Dreizack), sowie die blau-gelbe Flagge waren die ersten Staatssymbole der Ukraine. Der Dreizack sollte die heutige Ukraine an die als, in nationaler Optik, ersten ukrainischen Staat interpretierte ostslavische Kiever Rus' zurückbinden und den jungen Nationalstaat so historisch legitimieren. Beide Symbole standen zunächst vor allem für ein ethnokulturelles Bild von der Nation, das neben antisowjetischen Konnotationen bisweilen auch antirussische Akzente enthalten hat und vor allem in der Westukraine sowie in Teilen der Zentralukraine populär gewesen ist. In den anderen, insbesondere den russophonen Regionen der Süd- und Ostukraine stießen diese Symbole nicht zuletzt wegen ihrer Assoziation mit der in der Ukraine umstrittenen Tätigkeit der Organisation der Ukrainischen Nationalisten im Zweiten Weltkrieg auf Skepsis und Ablehnung. Im Zentrum dieses Beitrags stand daher die Frage, ob und wie in den letzten Jahren versucht wurde, russophone und andere kulturelle Identitäten und verschiedene regionale Traditionen in die geschichtsträchtigen Identitätskonstruktionen der nationalstaatlichen Symbolik zu integrieren. Von besonderem Interesse waren dabei vor allem solche jüngeren Tendenzen in der offiziösen Geschichtspolitik, die laut Jilge mit Hilfe von Symbolen (z.B. staatliche Feier- und Gedenktage) Elemente des sowjetukrainischen Geschichtsbildes und Formen der sowjetischen Geschichtskultur in das offiziöse nationale Geschichtsbild zu integrieren sucht und sowjetukrainische Akzente als überregionales Bindemittel bei der Konzeptualisierung der ukrainischen Nation einsetzten.

Einen nicht weniger komplizierten, partiell gar bizarr anmutenden Fall von Symbolpolitik und Nation-Building behandelte Stefan Troebst (Leipzig) in seinem Vortrag "'Alle Attribute eines normalen Staates'? Staatssymbolik und Geschichtspolitik in den Landesteilen Transnistrien und Gagausien der Republik Moldau". Gemäß dem "Puppe in der Puppe"-Prinzip sind in der Perestrojkaperiode in der Sowjetrepublik Moldawien neben einer moldauischen nationalen Volksfrontbewegung pro-rumänischer Orientierung zwei separatistische Bewegungen von Nicht-Moldauern entstanden. Zum einen handelte es sich um die stark russifizierten wie sowjetisierten Gagausen, eine türksprachige christlich-orthodoxe Bevölkerungsgruppe im Süden des Landes, zum anderen um die multiethnische russophone Wirtschafts-, Militär-, Staats- und Parteielite im hochindustrialisierten Tal des Flusses Nistru (russ. Dnestr, ukr. Dnister) an der Ostgrenze. Während die 1990 proklamierte "Gagausische Sowjetrepublik" mittels Verhandlungslösung 1994 als "Autonomes Gebiet ‚Gagauz Yeri' (Gagausenland)" in den Gesamtstaat reintegriert werden konnte, ist es 1992 zu einem kurzen, aber folgenreichen Krieg zwischen der Zentralregierung der Republik Moldau und der abtrünnigen "Transnistrisch-Moldauischen Republik" auf dem linken Dnestr-Ufer gekommen. Durch die Vermittlung der "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE), der Rußländischen Föderation und der Ukraine ist dieser Konflikt seitdem zwar eingefroren worden, eine dauerhafte Lösung zeichnet sich indes noch immer nicht ab. Die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe in Gagausien und Transnistrien spiegeln sich deutlich in der Symbolik beider Bewegungen: Während die Gagausen nach anfänglichen Anleihen beim Panturanismus, so in Gestalt des "Grauen Wolfes" der türkischen Mythologie, zu einer regionalbezogenen, "agrarischen", ja bukolischen Symbolik übergingen, hält die transnistrische Führung zum einen an der Symbolsprache der Sowjetunion fest (Lenin-Denkmale, Hammer und Sichel, Roter Stern u. a.), konstruiert aber zum anderen eine neue transnistrische Mikronationalgeschichte. In inhaltlicher wie symbolischer Hinsicht kommt die tragende Rolle dabei dem zarischen General Aleksandr V. Suvorov zu, der am Ende des 18. Jahrhunderts die osmanische Region eroberte und als Gründer Tiraspols, der "Hauptstadt" Transnistriens, gilt. Andere Traditionsanker sind die politischen Organisationsformen der Schwarzmeerkosaken sowie das sowjetische nation-building-Projekt einer separaten moldauischen Nation - in Abgrenzung zur rumänischen Nation.

Dem externen Betrachter mögen die in den Vorträgen geschilderten Beispiele aus den postsozialistischen Vergangenheitsdebatten wie eine pathologische Fixierung auf fernste mittelalterliche oder gar antike Zeiten und damit bisweilen unverständlich erscheinen, was sich auch in der Diskussion bei manchen Fragen zu einzelnen Symbolelementen zeigte. Es mutet zweifelos anachronistisch an, wenn selbst die russischsprachige regionale Elite der Transnistrischen Moldauischen Republik, deren Angehörige "typische ‚Allunions'-Biographien" (Stefan Troebst) aufweisen und die mit dem militärisch-industriellen Komplex der ehemaligen Sowjetunion eng verbunden sind, ebenfalls ohne eine ausreichende Traditionsbildung nicht auszukommen scheint und die Besondersheit des "Staates" durch eine mit Rückgriffen auf die Skythen konstruierte "Mittellage" historisch untermauert.

Aber der Eindruck der "Geschichtsbesessenheit" im "neuen" Osteuropa wird doch deutlich relativiert, wenn man sich klarmacht, daß die in den Fallbeispielen beschriebenen Geschichtsdebatten Teil eines "Diskurses des Nationalen" (Péter Niedermüller) sind, in dem die (nationale) Vergangenheit mit den Ansprüchen der Gegenwart und den politischen Optionen für die Zukunft symbolisch verknüpft werden. Dieser Hintergrund wurde in der Sektion ebenfalls angedeutet. Sämtliche Vorträge lieferten eindrückliche Beispiele für diese Annahme: hinter fast allen angeführten symbolischen Konstruktionen, die die Nation an älteste vorchristliche Zeiten zurückbinden sollen, stehen meist aktuelle politische Anlässe und Konflikte. So zeigte Christian Voss beispielsweise, daß sich hinter der Einführung des goldenen sechzehnzackigen Sterns auf rotem Grund als Staatsflagge Makedoniens nicht nur die heutige griechische-makedonische Rivalität im allgemeinen (Griechenland sah in der Einführung dieser Staatsflagge einen Angriff auf sein antikes Erbe), sondern auch die offene Frage der Repatriierung und Entschädigung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland verbirgt. Ähnliche aktuelle politische Auseinandersetzungen lagen und liegen der ukrainisch-russischen Geschichtsdebatte um die Kiever Rus' zugrunde, die die Ukraine mittels des Dreizacks im Kleinen Staatswappen als ersten ukrainischen Staat exklusiv für die eigene Nationalgeschichte beansprucht und somit russischen Ansprüchen streitig macht. Belege liefert auch der Fall der Slowakei, wo man mittels einer bis ins Mittelalter zurückreichenden Nationalgeschichte aus dem Schatten des tschechischen "großen Bruders" heraustreten will und offensichtlich nicht nur die Existenz des jungen Staates, sondern vor dem Hintergrund der Osterweiterungsdebatte der Europäischen Union auch seine "Europazugehörigkeit" auf eine kulturelle Dauer stellen und so legitimieren will. So wurde in der Slowakei die Nation als ethnische Gemeinschaft konzipiert und ein ein romantisches, auf das frühe Mittelalter zurückgehendes Geschichtsbild konstruiert. So wird die Geschichte der slowakischen Nation mit Hilfe des Staatswappens an das Großmährische Reich im 9. Jh. angebunden. Das Staatswappen bildet laut Verfassung vom 1. September 1992 "ein auf einem roten frühgotischen Schild angebrachtes doppelarmiges silbernes Kreuz, das sich auf dem mittleren erhöhten Gipfel eines blauen dreizackigen Berges erhebt" (in Anlehnung an die drei wichtigsten Berge der Slowakei Fatra, Tatra und Matra). In der nationalen Optik wurde den Slowaken das Doppelkreuz von den Slavenaposteln Kyrill und Method gebracht und symbolisiert die Einführung des Christentums im Großmährischen Reich und im übertragenen Sinne die frühe Zugehörigkeit der Slowakei zur europäisch-christlichen Kultur.

Darüber hinaus stellen die mittels der Symbole popularisierten Bilder der Nation und nationalen Geschichten Begriffe dar, die nach dem Systemwechsel und in der Zeit tiefgreifender Traditionsbrüche neue Kontinuitäten und Identitäten darstellen, die die postsozialistischen Gesellschaften neu organisieren und die Nationalstaatlichkeit legitimieren sollen. Deswegen werden ferne, freilich mythische Ursprünge mit wissenschaftlichem Aufwand förmlich ausgegraben. Diese Ursprünge bilden dann den Ausgangspunkt einer von Intellektuellen (häufig mit viel vermeintlich wissenschaftlichem Aufwand) konstruierten, "wahren" Nationalgeschichte, die meist in der Etablierung des unabhängigen Staates ihren Höhepunkt findet. Diese Nationalgeschichte und damit symbolisch die Nation wird von der "falschen" Geschichte der Sowjetzeit scharf abgegrenzt und aus der Sackgasse der vermeintlich "geschichtslosen" Periode des Sozialismus herausgeführt. Diese in der Publizistik und in manchen wissenschaftlichen Sammelbänden mit dem Bild von der "Rückkehr der Geschichte" gekennzeichnete Phänomen ist freilich nicht nur typisch für das östliche Europa seit Ende der achtziger Jahre (was manchmal behauptet wird). Auch in Westeuropa einschließlich der Bundesrepublik dient "Nationalgeschichte" als politische Ressource in gesellschaftspolitischen Debatten, eine Entwicklung, die gerade seit der "Wende" zu beobachten ist. Ein eindrückliches Beispiel gab Johannes Rau in seiner anregenden Rede zur Eröffnung des Historikertages in Halle. Er meinte, "Identität braucht Geschichte und Geschichte braucht Identität", was im Vortrag streckenweise mit bisweilen durchaus national-affirmativen Tendenzen einherging. Diese identitätsstiftende und gesellschaftspolitische Funktion von Geschichte muß aber gerade vor dem Hintergrund der Sektionsvorträge immer wieder kritisch hinterfragt werden. Der Versuch nationalistisch argumentierender Intellektueller in Osteuropa, kollektive Identitäten im Rückgriff auf Vergangenheit zu konstruieren, ging häufig mit der einseitigen Frage "Wer sind wir gewesen?" einher. Aus dieser auf eine "nationale" Vergangenheit fixierten Frage wurde dann häufig ein nationales Geschichtsbild für eine mehr oder weniger offene Gesellschaft gezimmert, das meist auf bestimmte politische Ansprüche und Ziele ausgerichtet war. Dabei wurde jedoch häufig vergessen zu fragen, wer man eigentlich in der Gegenwart sei und überging die Tatsache höchst verschiedener historischer Erfahrungen, Werte und Normen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Dies führte nur ausnahmsweise zur Findung eines nationalen Minimalkonsenses, der das Tragen der Kosten der Transformation ermöglichte, sondern in der Regel zur teilweise bis heute anhaltenden Politisierung der Gesellschaft - eine Politisierung, die von der Suche nach politischen Lösung konkreter Gegenwartsprobleme ablenkt.

www.historikertag.de