Glaubensflüchtlinge. Ursachen und Auswirkungen konfessioneller Migration im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa

Glaubensflüchtlinge. Ursachen und Auswirkungen konfessioneller Migration im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa

Organisatoren
Universität Erfurt (Prof. Dr. Joachim Bahlcke)
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.11.2002 - 24.11.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexander Schunka, München

Vom 21. bis zum 24. November 2002 fand in Erfurt eine internationale Tagung zum Thema Glaubensflüchtlinge und konfessionelle Migration im Ostmitteleuropa der Frühen Neuzeit statt. In Anbetracht der tagespolitischen Relevanz von Fragen der Migration und Integration überrascht die Tatsache nicht, daß sich auch die deutsche historische Forschung in den letzten Jahren stärker als zuvor mit Wanderungsbewegungen beschäftigt. Auch wenn man neuerdings Migration nicht mehr als Ausnahmeerscheinung, sondern geradezu als „Normalfall“ in Geschichte und Gegenwart betrachtet (Klaus J. Bade), so zeichnet sich doch schwerpunktmäßig das frühneuzeitliche Europa durch einen distinkten Typus von Bevölkerungsverschiebungen aus, die mehr oder weniger stark mit religiösen Ursachen verknüpft werden und die in ihrer Quantität und Qualität ein zuvor kaum gekanntes Phänomen darzustellen scheinen. Nicht alle dieser konfessionell bedingten oder beeinflußten Migrationsvorgänge sind ähnlich stark im kollektiven Gedächtnis haften geblieben wie die Wanderungsbewegungen der Hugenotten oder der Zug der Salzburger Emigranten nach Preußen. Die Teilnehmer der Tagung setzten sich daher zum Ziel, Ursachen und Auswirkungen frühneuzeitlicher (Glaubens-) Migrationen gerade für den ostmitteleuropäischen Raum auszuleuchten und Fragen von konfessionellen, administrativen oder mentalen Grenzüberschreitungen nachzugehen. Dies versprach spannend zu werden, handelt es sich doch, je weiter östlich man in Europa blickt, mitunter um Gebiete mit schwer vorstellbaren konfessionellen, ethnischen und verfassungsrechtlichen Gemengelagen, in denen möglicherweise andere Formen von Koexistenz Bedeutung erlangten als in einigen monokonfessionell orientierten Flächenstaaten Mittel- und Westeuropas.

Die Tagung, die von Joachim Bahlcke, dem Inhaber der Professur für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Erfurt und Vorsitzenden der Fachkommission für Religions- und Kirchengeschichte des Herder-Forschungsrates organisiert wurde, spiegelte diese ostmitteleuropäische Pluralität auch in der internationalen Zusammensetzung des Teilnehmerfeldes wider (u. a. Slowakei, Ungarn, Kroatien, Tschechien und Polen). Die einzelnen Vorträge beschäftigten sich meist weniger mit übergreifenden Aspekten religiös motivierter Migrationen, sondern oft mit einzelnen Migrantengruppen. Dadurch sollten Typologien erschließbar, Migrationsursachen gewichtet und nicht zuletzt am konkreten Einzelfall Glaube bzw. Konfession als Movens für Wanderungsbewegungen hinterfragt werden. Bei näherem Hinsehen blieb freilich in manchen Fällen von religiöser Verfolgung, von Standhaftigkeit und Opferrolle der Migranten und vom Betroffenheitsduktus der älteren, konfessionell geprägten Historiographie wenig übrig.

Deutlich wurde dies bei Hans-Jürgen Bömelburg (Warschau), der die Instrumentalisierung von Glaubensflucht und –vertreibung zwischen Preußen und Polen thematisierte. Gegenseitige politische Einflußnahmen für die jeweils eigene Konfession über politische Grenzen hinweg führten zur mehrfachen Ausweisung von Minderheiten und mitunter zu einem regelrechten Bevölkerungsaustausch. Dabei stilisierte dann etwa die brandenburgisch-preußische Seite auch Kriegsflüchtlinge und Wirtschaftsimmigranten zu Religionsvertriebenen. Von Glaubensflucht könne daher allenfalls in Einzelfällen gesprochen werden. Ähnliches ergab die Diskussion im Anschluß an die Betrachtungen Bernhart Jähnigs (Berlin) über den Werdegang der letzten Deutschordensbrüder nach der Säkularisierung des Deutschordensstaats 1525. Manche Ordensmitglieder blieben am gewohnten Ort und behielten ihre Nahrungsgrundlagen, einer wurde rasch erfolgreicher protestantischer Kirchenlieddichter, andere verließen das Deutschordensgebiet, wobei offenbar von (Glaubens-) Flucht keine Rede sein konnte.

Anders im Vortrag von Werner Korthaase (Berlin), der für die Geschichte der Böhmischen Brüderunität vor allem Aspekte von Martyrium und Vertreibung hervorhob. Jirí Mikulec (Prag) behandelte das Umfeld der Emigrationen nach der Schlacht am Weißen Berg, vor allem aus Sicht der habsburgischen Verwaltung Böhmens. Im Rahmen der zunehmenden administrativen Erschwerungen des Lebens nach 1620 für die nichtkatholische Bevölkerung lassen sich daher Emigrationsbewegungen ebenso wie die (Zwangs-) Konversionen der Bleibenden erklären. „Katholik zu sein“, so der Referent, bedeutete primär, „sich dem Kaiser zu unterwerfen." Den Behörden, deren Rekatholisierungspolitik sich nicht zuletzt durch den Verlauf des Dreißigjährigen Krieges verschärfte, ging es daher nicht um die Entleerung des Staates, sondern um den Erhalt ihrer katholisierten, kaisertreuen Bevölkerung. Daher ließen sich die zahlreichen Rückkehrer verschiedentlich zum Bleiben motivieren.

Das Beispiel Böhmen zeigt, daß man selten von unilinearen, regional begrenzten Wanderungsvorgängen sprechen kann, auch wenn die ältere Literatur dies oft so sehen wollte, um die Standhaftigkeit der Migranten zu betonen. Selbst die Salzburger Emigranten von 1732 erwarben ihren Ruf als Märtyrer zu einem Gutteil aus der medialen Stilisierung ihres Zuges, die ihrerseits auf die Religion im Reich zurückstrahlte. Rudolf Leeb (Wien) verwies daneben auf die politische Seite der Salzburger Emigration, den hohen Organisationsgrad der Geheimprotestanten und das Ausschöpfen der reichsrechtlichen Möglichkeiten im Vorfeld. Er bettete das Phänomen in eine größere Migrationsbewegung aus dem Alpenraum ein und betonte die Schwierigkeiten bei der Integration der Zuwanderer in Ostpreußen.

Die rechtliche Ebene von Ansiedlung und Integration am Beispiel der Hugenotten behandelte Barbara Dölemeyer (Frankfurt). Während die Zuwanderer etwa in Brandenburg-Preußen zwar besondere Privilegierungen vorweisen konnten und sie damit einen doppelten Status als refugiés und zugleich preußische Untertanen besaßen, galt die spezielle Privilegierung auch für Einheimische, die in die Hugenottenkolonien zogen. Die Möglichkeit, eigene kirchliche Strukturen im Sinne eines reformierten Synodalsystems zu errichten, erhielten sie freilich nicht. Auf kirchliche Verfaßtheit jeder Art verzichtete dagegen eine andere Minderheit - die Mennoniten, worauf ihr Dauerstatus als Sondergruppe gründete. In Danzig stand dieses bewußte Randgruppendasein in einem Spannungsverhältnis zum wirtschaftlichen Erfolg dieser Zuwanderergruppe, was sie nicht zuletzt für den Danziger Rat interessant machte. Stefan Samerski (Leipzig/München) verwies auf die Rolle von Mennoniten bei der Bewirtschaftung des Landes am Unterlauf der Weichsel, auf politisch-soziale Separation und auf zunehmende religiöse Duldung, was im 17. Jahrhundert zur kuriosen Situation führte, daß der katholische Bischof Danzigs de facto als ihr Schutzherr fungierte.

Politisches Organisationspotential emigrierter Adeliger stand im Mittelpunkt des Referats von Arno Strohmeyer (Bonn). Niederösterreichische Exulanten setzten sich beim Westfälischen Friedenskongreß für ihre Rückkehr in die Erblande ein und entwickelten dabei ein Programm politischen Widerstands, das das ständische Recht der Auflösung des Herrschaftsvertrags postulierte. Es drückte die Bereitschaft von Lutheranern zum ständischen Widerstand ebenso aus wie das Bewußtsein der Niederösterreicher, Ständepolitik für konfessionelle Ziele zu instrumentalisieren.

Überhaupt waren viele Migrationen zunächst nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt: Rückkehr in das Ausgangsland war nicht nur Verhandlungsgegenstand, sondern passierte ganz real, z. B. bei den habsburgischen Deportationen seit den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts – euphemistisch im zeitgenössischen Verwaltungsjargon als „Transmigrationen“ bezeichnet. Eine solche Transmigration nach Siebenbürgen mit anschließender Rückkehr thematisierte auf einer Mikroebene Stephan Steiner (Wien) anhand der Kärntner Herrschaft Paternion. Emigration und Remigration beobachtete Jörg Deventer (Leipzig) entlang der schlesisch-polnischen Grenze im 17. Jahrhundert, wobei auch hier nach der Emigration, ähnlich etwa wie im Falle Paternions, die sozialen Kontakte zur alten Heimat nicht abbrachen.

In Schlesien, noch mehr aber in anderen Gebieten Ostmitteleuropas wie Mähren oder Siebenbürgen fällt eine eindeutige Klassifikation des Territoriums als Einwanderungs- oder Auswanderungsland nicht leicht. Die Rolle Mährens als politisch-religiöses Aufnahmebecken für Mitglieder heterodoxer Strömungen wie der Hutterer, bei deren Ansiedlung sich konfessionelle Gesichtspunkte zugunsten des wirtschaftlichen Vorteils für den lokalen Adel relativierten, zeigte Thomas Winkelbauer (Wien). Die Rekatholisierungsmaßnahmen führten nach 1620 auch hier zu Konversionen und Emigrationen. Viele Hutterer wandten sich nach Siebenbürgen, wo sie sich, so Harald Roth (Gundelsheim), vor allem gegenüber den dortigen Sachsen abschotteten. Chaotische Deportationen weiterer habsburgischer Untertanen in theresianischer Zeit und miserable Ansiedlungsbedingungen verbreiteten das Täufertum dagegen rasch unter neusiedelnden Kärntnern, was zu einer religiös-kulturellen Verschmelzung einerseits, andererseits zum Einschreiten der Habsburger Verwaltung und zur Vertreibung der Hutterer führte.

Mehrere Referenten machten deutlich, daß trotz der Betrachtung einzelner Migrantengruppen auch ihre Einbindung in internationale (Migranten-)Netzwerke nicht vernachlässigt werden darf. So bestanden, wie Eva Kowalská (Bratislava) zeigte, zwischen den im späten 17. Jahrhundert aus Oberungarn vertriebenen Exulanten vielfältige publizistische und persönliche Verbindungen, die die hohe Gruppenkohärenz der vertriebenen Ungarn auch über räumliche Distanz unterstreichen. Der emigrierte Pfarrer Matej Bahil rezipierte, so Joachim Bahlcke (Erfurt), im 18. Jahrhundert die ältere Exulantenliteratur und instrumentalisierte sein persönliches Schicksal, um reichsweit auf die habsburgische Rekatholisierungspolitik aufmerksam zu machen, was Bahil den Vorwurf preußischer Spionage einbrachte.

Einige Vorträge thematisierten die Ebene von Migrationserfahrung und –rezeption. Am Beispiel von Exulantenbittschriften beschäftigte sich Alexander Schunka (München) mit der Konstruktion exulantischer Identität im Aufnahmeland Kursachsen im 17. Jahrhundert und mit dem zunehmend funktionalisierten, pragmatischen Einsatz konfessioneller Argumente zwischen kurfürstlichen Behörden und Zuwanderern. Der Verarbeitung des Migrantenschicksals im Aufnahmeland widmete sich am Beispiel historiographischer Werke Norbert Kersken (Marburg). Die Exilsituation, die die Autoren oft ganz physisch vom Darstellungsbereich abgelöst hatte, sorgte für eine historiographische Perspektivität, die mit einem zunehmenden Verlangen des Marktes nach Geschichten fremder Länder korrespondierte. Juliane Brandt (Berlin) wies am Beispiel der Protestanten in Ungarn nach, wie sich noch im 19. Jahrhundert eine konfessionelle Gemeinschaft als Schicksalsgemeinschaft verstand und Migrations- wie Minderheitserfahrungen politisch-konfessionell einsetzte.

Die Tagung brachte vielfältige Einblicke, auch wenn bestimmte Aspekte naturgemäß etwas kurz oder gar nicht angesprochen wurden. In ihrem Vortrag über die Migrationen entlang der habsburgisch-osmanischen Militärgrenze in der Frühen Neuzeit verwies denn etwa Krista Zach (München) auf die unausgeschöpften Forschungsmöglichkeiten bezüglich der Wanderungsbewegungen südslawischer Katholiken, was in der Abschlußdiskussion die Frage nach katholischen Glaubensflüchtlingen überhaupt aufwarf. Ebenso wurde angeregt, bei zukünftigen Forschungen auch frühneuzeitliche jüdische Migrationen in Ostmitteleuropa einzubeziehen. Darüber hinaus scheint eine zu stark monokausal, konfessionelle gegenüber wirtschaftlichen Migrationsmotiven abwägende Forschung möglicherweise weniger fruchtbar als eine multikausal orientierte Herangehensweise, die der Komplexität frühneuzeitlichen Wanderungsgeschehens stärker Rechnung trüge als die ältere, konfessionell geprägte und zwischen Tätern und Opfern strikt trennende Forschung. Bedenkenswert wäre außerdem, neben der zweifellos wichtigen Betrachtung des Phänomens im Rahmen des eher makrostrukturell orientierten Modells der „Konfessionsmigration“ vielleicht stärker zwischen sichtbarer und unsichtbarer Religion (Thomas Luckmann) oder zwischen Konfession und Glauben zu trennen, wodurch sich dann manche Migrationsphänomene und die Aktionen und Reaktionen der beteiligten Individuen möglicherweise adäquater erklären ließen als dies lange Zeit geschah.

Die Beiträge der Tagung werden in einem Band der Reihe „Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa“ im Lit-Verlag erscheinen.