2. Medieval History Seminar

2. Medieval History Seminar

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut, Washington D.C.
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.10.2002 - 27.10.2002
Von
Benjamin Scheller, Berlin

Vom 24. bis zum 27. Oktober 2002 fand an der Humboldt-Universität zu Berlin das zweite transatlantische "Medieval History Seminar" (MHS) statt http://www.ghi-dc.org/conferences/mhs2002prog.html. Veranstalter des Seminars, das im Jahr zuvor erstmals in Washington, D.C. stattgefunden hatte, war das dortige DHI. Unter der Ägide der Mentoren Michael Borgolte (Humboldt Universität zu Berlin), Caroline W. Bynum (Columbia University), Johannes Fried (Frankfurt/Main) und Patrick J. Geary (UCLA) stellten dabei 16 Doktoranden bzw. unlängst Promovierte aus den USA und Deutschland ihre Projekte vor. Diese stammten aus den Feldern mittelalterliche Geschichte (13), Kunstgeschichte (2) und Literaturwissenschaft (1).

Das MHS verband eine denkbar große Pluralität der Themen und Ansätze mit Kohärenz in der Problemstellung. Denn 10 der 16 vorgestellten Arbeiten widmeten sich der Frage nach den Wechselbeziehungen von Wissen und Wirklichkeit, also der Frage, wie Wissen im Mittelalter Wirklichkeit abbildete und hervorbrachte. So zeigten Jochen Johrendt (München) und John Eldevik (Toronto) Ansätze für einen neuen Zugang zur Epoche des Investiturstreits, indem sie die Konflikte dieser Epoche als Konflikte zwischen lokalem Wissen und Konzepten spezifischer Wirklichkeiten und neuen Ansprüchen auf eine verbindliche Definition der Wirklichkeit durch zentrale Instanzen deuteten, die letztere seit der Mitte des 11. Jahrhunderts erhoben. Johrendt konnte zeigen, daß der Papstschutz für Klöster vor 1046 keinesfalls ein "konzis durchdachtes Rechtsinstitut" gewesen ist, das der apostolische Stuhl verbindlich für die gesamte Christenheit definiert gehabt hätte. Vielmehr wiesen in unterschiedlichen Regionen Europas die Empfänger von Schutzprivilegien dem Papsttum unterschiedliche Funktionen zu. Im Reich nördlich der Alpen etwa sah man den Papstschutz als "geistliche Befestigung" königlicher Schutzbestimmungen. "Der Papst erfüllte diesen Schutzauftrag in seiner Stellvertreterfunktion für den Apostelfürsten." In Frankreich dagegen konzipierten die Empfänger den Papstschutz nicht als Ergänzung zum Königsschutz, sondern als eine Alternative zu ihm, die von lokalen Gewalten erbeten wurde, "um sich gegen fremde Eingriffe zu schützen." Nach 1046 begann das Papsttum jedoch, den regionalen Auffassungen eine einheitliche Interpretation entgegenzusetzen, die überall Geltung beanspruchte und deshalb mit dem lokalen Wissen kollidieren mußte. Einen zwar anders gelagerten aber strukturell ähnlichen Konflikt zwischen "local knowledge" und dem Anspruch auf ein zentrales Deutungsmonopol untersuchte John Eldevik am Beispiel des Zehntstreits zwischen dem Erzbistum Mainz, dem Kloster Hersfeld und Thüringer Regionalgewalten, der entstand, als Erzbischof Siegfried von Mainz (1060-1083) versuchte, eine "kanonische" Interpretation der Rechte der Mainzer Kirche an den Thüringischen Zehnten gegen die abweichenden lokalen Interpretation durchzusetzen. Denn während Versuche, "to determine which party actually possessed what rights under which circumstances, or whose claims were more legitimate", unweigerlich aporetisch seien, ließe sich den Quellen entnehmen, "how the opposing parties wished to represent their cases in the charters and narratives, and how the meaning and significance of immunities, privileges and rights changed over time."

Dmtri Starostine (Ann Arbor) interpretierte die sogenannte Kalenderreform Karls des Großen als Versuch, Zeit einerseits in einer Weise zu repräsentieren, die zwischen populären Konzepten von Zeit und denen der Eliten vermittelte, und andererseits das karolingische Großreich vereinheitlichen sollte, indem sie eine einheitliche Zeit erst hervorbrachte. Als symbolische Handlungen, die Wirklichkeit abbildeten und gleichzeitig erzeugen sollten und an denen Handelnde und Zuschauende gleichermaßen teilhatten, stellte Jenny Oesterle (Münster) die Liturgie von Festkrönungen in ottonisch-salischer Zeit und ihre Funktion in der Repräsentation des Königtums vor.

Der Abbildung und Erzeugung von Wirklichkeit im Text widmeten sich gleich vier Beiträge. Kerstin Schulmeyer (Frankfurt am Main) beobachtete am Beispiel der Chronik des Thietmar von Merseburg die Entstehung eines neuen Geschichtsbildes in einer Umbruchssituation. "Die Chronik ist gleichermaßen Quelle für ein sich teilweise manifestierendes Bedürfnis nach einem dynastischen Neubeginn wie für die parallel hierzu einsetzende Entstehung eines gerade gegenwärtigen Verformungsprozesses ... ." Dabei identifizierte sie ersteres auf der Ebene "bewußter, reflektierter Darstellung", letztere dagegen auf einer "unbewußten Sub-ebene" der historiographischen Formung. Markus Schürer (Dresden) konnte zeigen, wie der Dominikanerorden nach der Mitte des 13. Jahrhunderts durch gezielt angefertigte Exemplasammlungen das entscheidende Wissen um die Funktionszuweisungen innerhalb des Ordens und um dessen Abgrenzung nach außen sowie um dessen Stellung in der göttlichen Ordnung aggregierte, dessen Weitergabe ermöglichte, so daß dieses die "Etablierung und interne(...) Stabilisierung" des Ordens entscheidend begünstigte. So entstanden das bonum universale de apibus des Thomas von Cantimpré und die Vitas fratrum des Gerardus de Frachetto als Resultat einer Sammelaktion, die das dominikanische Generalkapitel 1256 initiiert hatte, und damit zu einem Zeitpunkt, "an dem innerhalb des Predigerordens der erste Generationswechsel nahezu zum Ende gekommen sein dürfte." An diesem "kritischen Punkt", als "mit dem Aussterben der Gründergeneration auch die Gefahr des Verlusts von wichtigem, weil identitätsstiftendem Wissen verbunden war, das bislang nur mündlich weitergegeben wurde, ist die Aggregierung solchen Wissens in Exemplasammlungen "als ein Versuch der institutionellen Stabilisierung und Sicherung der Gemeinschaft zu verstehen." Am Beispiel eines literarischen Textes, des 1396 entstandenen Romans le livre du Chevalier errant des piemontesischen Markgrafen Thomas III. von Saluzzo, machte Robert Fajen (Würzburg) deutlich, wie der Verfasser des Romans durch diesen sich selbst als, wie Patrick J. Geary in der Diskussion bemerkte, "conjunction point of intertextual references" gleichsam neu schuf, und so die biographische Krise der Gefangenschaft ebenso bewältigte wie eine drohende Sukzessionskrise im markgräflichen Haus. Der Chevalier errant ist der erste Roman überhaupt, der einen Fürsten zum Autor hat und thematisiert explizit das "Verhältnis von Wirklichkeit und Vorstellungswelt". Dabei "wird das historische ‚Ich' des Verfassers durch die literarisch kodierte Figur des fahrenden Ritters und durch das allegorische Schreibverfahren in die Welt der Fiktionen überführt" Gleichzeitig wies sich der Autor selbst "durch die Fiktion eine neue Rolle und ein neues Selbstbild" zu. Todd P. Upton (Boulder) fragte nach der Wahrnehmung des Heiligen Landes und der Stadt Jerusalem in Predigten Richards von St. Viktor. Hierbei stellte sich vor allem die Frage, inwieweit der exegetische Topos Jerusalem die Wahrnehmung des realen Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge beeinflußte oder gar präfigurierte.

Der Abbildung und Erzeugung von Wirklichkeit durch Architektur widmeten sich Martina Schilling (Warwick) und der Verfasser dieses Konferenzberichts. Schilling untersuchte am Beispiel von St. Viktor in Paris und S. Andrea in Vercelli, inwieweit die Architektur der Stiftskomplexe die Identität der Regularkanoniker widerspiegelte und prägte. Am Beispiel der Augsburger Fuggerei zeigte der Berichterstatter, wie eine spätmittelalterliche Armensiedlung durch ihre räumliche Struktur städtische Hausarme nicht nur mit Wohnraum versorgte, sondern auch repräsentierte, in dem Sinne, daß sie den Hausarmen als ehrbaren, arbeitenden Armen gleichzeitig abbildete und hervorbrachte.

Neben solchen "konstruktivistischen", so Caroline Bynum in der Diskussion, wurden auch klassische mediävistische Ansätze verfolgt. Jennifer Davis (Harvard) untersuchte die Integration des regnum italiae in das Reich Karls des Großen auf der Basis der Urkunden des Frankenkönigs für italienische Empfänger. Harold Siegels (Notre Dame) Analyse der "cultural patronage" Kaiser Lothars I. versuchte, dessen Hof als intellektuelles Zentrum zu profilieren, dessen Anziehungskraft über die Grenzen des Mittelreichs hinaus reichten. Der Militärgeschichte widmeten sich die Beiträge von Holger Berwinkel (Marburg) und David Bachrach (St. Paul). Während Berwinkel die Strategie Friedrich Barbarossas bei seinem Feldzug gegen Mailand 1158 untersuchte, profilierte Bachrach die Militäradministration des Plantagenetkönigs Heinrichs III. als bürokratischen Apparat von erstaunlicher Rationalität und Effizienz. Amy Morris' (Wittenberg, Ohio) Projekt zum Magdalenenaltar Lukas Mosers widmete sich Fragen der Ikonographie und der Kontextualisierung, wobei diese aufgrund einer schwierigen Quellengrundlage weniger durch die Untersuchung des Verhältnisses von Patron und Künstler erreicht werden kann, als durch eine Analyse der dynamischen Wechselbeziehung der Tiefenbronner Kirche und der sie umgebenden Region. Pavel Blazek (Jena) schließlich beleuchtete die Rezeption aristotelischer Gedanken über die Ehe bei Autoren des 13. und 14. Jahrhunderts.

Die Konferenz wurde von allen Beteiligten als großer Erfolg betrachtet. Hierbei spielte die hervorragenden Organisation der Veranstaltung durch das DHI Washington, das durch den Direktor, Christoph Mauch, und durch Christoph Strupp vertreten war, nicht die geringste Rolle. Auch nächstes Jahr soll das MHS wieder stattfinden, dann wieder in Washington, D.C.

http://www.ghi-dc.org/conferences/mhs2002prog.html
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