Volksaufklärung – eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts

Volksaufklärung – eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts

Organisatoren
Prof. Dr. Holger Böning, Universität Bremen; Prof. Dr. Hanno Schmitt, Universität Potsdam; Prof. Dr. Reinhart Siegert, Universität Freiburg; Rochow-Museum in Reckahn; Verein „Rochow-Museum und Akademie für bildungsgeschichtliche Forschung e.V. an der Universität Potsdam“; „Gesellschaft für Deutsche Presseforschung zu Bremen e.V.“
Ort
Kloster Lehnin
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.10.2006 - 07.10.2006
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Von
Holger Böning, Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat es intensive Forschungen zur Popularisierung aufklärerischen Gedankengutes und zur praktischen Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert gegeben, die zu einem neuen Bild der deutschen Aufklärung beigetragen und insbesondere gezeigt haben, dass die Aufklärung im deutschsprachigen Raum durchaus keine ausschließlich geistig-philosophische, auf die kleine Schicht der Gelehrten und Gebildeten begrenzte Bewegung war, sondern sie sich breiten Bevölkerungsschichten und allen Themen des Alltagslebens zuwandte. Ansprechpartner der Aufklärer waren alle jene Menschen, die über keine höhere Bildung verfügten, ein Schwerpunkt lag bei der bäuerlich-ländlichen Bevölkerung. Getragen wurde die Volksaufklärung zunächst von Kameralisten, Naturwissenschaftlern, Gutsbesitzern sowie von den ökonomischen und gemeinnützigen Gesellschaften; seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts traten als Hauptträger Geistliche beider Konfessionen sowie Ärzte, Schriftsteller, Publizisten und Wirtschaftsbeamte hinzu. Von einzelnen Regierungen zwar unterstützt, blieb die Volksaufklärung doch stets in erster Linie eine aufklärerische Privatinitiative, eine Art Bürgerinitiative, in der gemeinnützige Gesellschaften eine zentrale Rolle spielten.

Es konnten nahezu 20.000 Schriften von etwa 4.000 Autorinnen und Autoren dokumentiert werden, in denen Aufklärer sich an den „gemeinen Mann“ als Adressaten wandten oder in denen unter den Gebildeten über Ziele, Inhalte und Strategien der populären Aufklärung debattiert wurde. Wichtigstes Ziel der Aufklärer war, neben der Mentalitätsveränderung der Adressaten, die Vermittlung von neuen Erkenntnissen aus allen Wissenschaften zum Gebrauch im praktischen Leben, insbesondere in der Land- und Hauswirtschaft. Angestrebt wurde eine Wirtschafts- und Lebensweise, die auf von den Aufklärern als vernünftig erkannten Prinzipien basieren sollte, sodann die Vermittlung aufklärerischer Religionsvorstellungen und auf Vernunft gründender Sittengesetze, die Zurückdrängung von Aberglauben, „Vorurteilen“ und bäuerlichem Traditionalismus. Intensiv wurde auch die medizinische Volksaufklärung betrieben, und weiter spielte die Vermittlung naturkundlicher, historischer, juristischer, pädagogischer und politischer Kenntnisse eine Rolle.

Der neue Stand der Quellendokumentation und -erschließung hat in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten zu einer Vielzahl von Forschungen in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen geführt. Vor allem zu nennen sind hier die Literaturgeschichte, Agrargeschichte, Kirchengeschichte und Theologie, Kulturgeschichte, Volkskunde, Pädagogik-, Schul-, Politik- und Philosophiegeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Medizingeschichte, Presse- und Mediengeschichte sowie mentalitätsgeschichtliche, leser- und lesegeschichtliche Fragestellungen und alphabetisierungsgeschichtliche Forschungen.

Ziel der Tagung war es, die Forschungen in einem ersten Überblick zu resümieren und zu diskutieren sowie Forschungsdesiderate zu orten. Eine einleitende Begrüßung durch Reinhart Siegert (Freiburg) bot eine knappe Forschungsgeschichte seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts, wobei als charakteristisch für die deutsche Aufklärungsforschung hervorgehoben wurde, dass es dieser lange als unzweifelhaft galt, dass die deutsche Aufklärung vorwiegend Selbstaufklärung der Eliten gewesen sei und den Weg zu breiteren Bevölkerungskreisen weder gesucht noch gefunden habe. Erst in jüngster Zeit drang die philosophie- und kulturgeschichtlich bedeutsame, unser Bild von der Aufklärung vollständig verändernde Tatsache in ein breiteres Bewusstsein, dass den Gebildeten des 18. Jahrhunderts das Prinzip allgemeiner und universaler Aufklärung durchaus nicht gleichgültig war, sondern dieses in einer breiten, auch mit nichtliterarischen Mitteln agierenden Bürgerinitiative, die sich selbst seit den 1780er Jahren als Volksaufklärung bezeichnete, während des Zeitraumes von etwa 1750 bis 1850 praktisch umgesetzt wurde.

In seinem einleitenden Beitrag diskutierte Holger Böning (Bremen) die während der gesamten Tagung im Mittelpunkt stehende Frage, ob in der Volksaufklärung emanzipative Momente zu entdecken seien. Bereits der Titel des Vortrages – „Entgrenzte Aufklärung – die Entwicklung der Volksaufklärung von der ökonomischen Reform- zur Emanzipationsbewegung“ – enthielt die zentrale These, dass anfängliche Begrenzungen in der Entwicklung bis zum Ende des aufgeklärten Säkulums in der praktischen aufklärerischen Tätigkeit durchweg aufgegeben worden seien. Während Christian Kohfeldt (Bremen) zeigte, dass und wie aus den neuen naturkundlich-naturwissenschaftlichen Interessen vieler Gebildeter die gemeinnützig-ökonomische Aufklärung mit ihrer weitgehenden Konzentration auf ökonomisch-landwirtschaftliche Themen als Wegbereiterin der Volksaufklärung entstand, zeichnete Böning den Weg einer ständigen Erweiterung des Themenspektrums in der populären Aufklärung nach, bis Grenzen nicht mehr zu erkennen sind.

Die beiden folgenden Vorträge von Götz Warnke (Hamburg) „Pfarrer als weltliche ‚Volkslehrer’ – Motive und praktische Projekte“ und Thomas K. Kuhn (Basel) „Praktische Religion. Der vernünftige Dorfpfarrer als Volksaufklärer“ nahmen unter religions- und kirchengeschichtlicher Perspektive mit den Geistlichen beider Konfessionen die wichtigsten Träger der Volksaufklärung ins Visier. Mit der populären Aufklärung war eine vollständige Wandlung des geistlichen und religiösen Weltverständnisses, die Abwendung von der traditionellen Jammertal-Theologie hin zu einem auf weltliche Bewährung gerichteten Religionsverständnis verbunden. In der Diskussion der Beiträge wurde darauf hingewiesen, dass ein entsprechendes Engagement nicht nur von protestantischer, sondern in breitem, noch zu wenig erforschtem Ausmaß auch auf katholischer Seite zu verfolgen sei.

Der Behandlung solcher grundsätzlicher Themen folgte die Darstellung von Einzelpersönlichkeiten und Einzelwerken, wobei der Gutsbesitzer Friedrich Eberhard von Rochow mit seiner Schulreform und dem von ihm verfassten ersten weltlichen Lesebuch für die Volksschule sowie Rudolph Zacharias Becker im Mittelpunkt standen.

Hanno Schmitt untersuchte die „Volksaufklärung in der Rochowschen Musterschule in Reckahn“ und zeigte mit Hilfe unpublizierter Quellen wie der Schülerlisten und Besucherberichte, wie in einem kleinen Dorf volksaufklärerische Konzeptionen in die Praxis des niederen Schulwesens umgesetzt wurden. Ergänzt wurde der Vortrag durch eine Führung durch die Dauerausstellung auf Schloss Reckahn „Vernunft für das Volk“, die das Lebenswerk eines ganz ungewöhnlichen preußischen Gutsbesitzers und der von ihm für seine Schulen gewonnenen Lehrer dokumentiert.

Anschließend übergaben Landrat Lothar Koch als Vertreter des Landkreises Potsdam-Mittelmark und Sabine Wolter als Vertreterin der Mittelbrandenburgischen Sparkasse Potsdam dem Rochow-Museum ein wertvolles Ölporträt Rudolph Zacharias Beckers, das mit Hilfe der Sparkassenstiftung angekauft werden konnte. Aus diesem Anlass hielt Reinhart Siegert einen Vortrag "Rudolph Zacharias Becker - der 'Erfinder der Publizität' und sein Einsatz für die Volksaufklärung", in dem er insbesondere auf die Öffentlichkeitsarbeit der Volksaufklärer und die Rolle von Autobiografien und Porträts dabei einging. Seine eigentlich als Vortrag für die Tagung vorgesehene Regionalstudie "Die Volksaufklärung in Oberschwaben. Zu einem verdrängten Kapitel Bildungsgeschichte" wird im Tagungsband erscheinen."

Der nächste Themenschwerpunkt befasste sich mit der medizinischen Volksaufklärung, die seit den 1760er Jahren eine erste Erweiterung der zunächst auf ökonomische Themen konzentrierten Volksaufklärung bildete. Der Genfer Arzt Simon André Tissot steht am Anfang jener Reihe von mehr als 2000 medizinischen Volksschriften, der noch einmal etwa 1000 Traktate zur Popularisierung der Pockenimpfung zur Seite stehen. Sie sind Ausdruck größerer Wertschätzung des einzelnen Menschenlebens. Die medizinische Volksaufklärung hatte gegenüber allen anderen Bemühungen der Aufklärer, den „gemeinen Mann“ zu vernunftgerechtem Denken, Leben und Wirtschaften anzuhalten, einen unschätzbaren Vorteil. Sie gab Informationen und Ratschläge, die zumindest in Zeiten von Krankheit freiwillig angenommen wurden. Noch heute fehlt in kaum einem ansonsten bücherlosen Haushalt ein „Praktischer Hausarzt“. Die Ratgeber zur Gesunderhaltung und zur Behandlung von Krankheiten durften zu allen Zeiten auf Interesse zählen.

Irmtraut Sahmland (Marburg) stellte in ihrem Vortrag „Der medizinische Katechismus von Bernhard Christoph Faust“ ein Hauptwerk der medizinischen Volksaufklärung vor, das in zahllosen Auflagen Eingang in Schulen und Privathaushalte fand. Das Programm der medizinischen Volksaufklärung, so wurde festgestellt, ist nicht ohne Aktualität, indem es in starkem Maße die vorbeugende Gesundheitspflege propagiert und so die Eigenverantwortung des noch Gesunden anspricht. Wesentliches Ziel – wichtig für die emanzipatorische Qualität der medizinischen Volksaufklärung – war ein höheres Maß an Selbstbestimmung und Entscheidungskompetenz in Fragen von Krankheit und Gesundheit. Die Forderung, der Laie habe in der Diskussion über Mittel und Ziele der Medizin ein gewichtiges Wort mitzureden – nach wie vor höchst aktuell und grundlegend für eine humane Ausgestaltung des Medizinbetriebes –, ist ihrem Grundgedanken nach bei vielen Aufklärern zu finden, die energisch dafür eintraten, medizinische Kenntnisse aus dem Ghetto des Geheimwissens in den Bereich der Öffentlichkeit zu überführen. In ihren besten Vertretern begriffen besonders Ärzte die medizinische Volksaufklärung als nichts anderes als den „Ausgang eines Menschen aus seiner Unmündigkeit in Sachen, welche sein physisches Wohl betreffen“.

Eine repressiv-hysterische Seite der Aufklärung zeigte Sabine Todt (Hamburg) mit ihrem Vortrag „‚Hier bekümmerte sich nun niemand um ihn’. Die Bedeutung des Anti-Onanie-Diskurses für die Volksaufklärung im 18. und frühen 19. Jahrhundert“. Es ist faszinierend, wie durchaus kluge Männer – von Tissot bis Campe – Krankheiten und Krankheitsursachen regelrecht konstruierten. Die in zahlreichen Schriften dargelegten Krankheitsbilder, Diagnosen und Indikationen machen darauf aufmerksam, wie zeitgebunden und ideologisch geprägt nicht nur medizinisches Wissen sein kann.

In der letzten Sektion „Regionalstudien – Medien – Zielgruppen“ behandelten Jochen Krenz (Würzburg) am Beispiel Würzburgs den Beitrag der katholisch-theologischen Publizistik zur Volksaufklärung, Werner Greiling (Jena) die Presse für den „gemeinen Mann“ in Mitteldeutschland sowie Michael Niedermeier (Berlin) das Thema „Frauen- und Hausmütterliteratur in der Volksaufklärung“. Mehrere Teilnehmer betonten, dass die Behauptung der Nichtexistenz katholischer Aufklärung nur als Legende bezeichnet werden könne, die ihre Wurzeln in der Aufklärungsgegnerschaft des 19. Jahrhunderts und mangelnder Forschung habe. Als bemerkenswert wurde in der Diskussion die Vielfalt literarischer und publizistischer Mittel der Volksaufklärung empfunden, die in der Literatur von der umfangreicheren romanhaften Erzählung bis zu den kleineren Formen wie der Beispielerzählung, der Moralischen Erzählung, der Fabel, Gedichten, Liedern und Anekdoten reichte. Es entstand die Konzeption des „unterhaltsamen Volksbuches“, wie sie beispielhaft im „Noth- und Hülfsbüchlein“ verwirklicht wurde. Zur literarischen und publizistischen Volksaufklärung wurden daneben auch Predigten, Gesangbücher, Schulbücher, Flugblätter, Intelligenzblätter, Zeitungen und Zeitschriften genutzt. Eine weitere Leistung stellt die Verbindung von Zeitung und Zeitschrift zu aufklärerischen „Volksblättern“ dar, in denen besonders die Tradition der Moralischen Wochenschriften lebendig blieb und daneben aktuelle politische Informationen vermittelt wurden.

Mit dem im 18. Jahrhundert vieldiskutierten Ideal der Popularität, wie es auf der einen Seite von Garve und Greiling formuliert, andererseits in der volksaufklärerischen Literatur – beispielhaft in vielen Kalendern – realisiert wurde, setzte sich Guido Bee (Frankfurt am Main) auseinander. Im abschließenden Vortrag von Michael Nagel (Bremen) „Jüdische Aufklärung, Philantropie und Volksaufklärung“ wurde gezeigt, dass in der volksaufklärerischen Literatur Antisemismus abgelehnt und religiöse Toleranz propagiert wurde, vor allem aber auch in der jüdischen Bevölkerung publizistische Bemühungen wahrzunehmen sind, die große Ähnlichkeit mit denen der Volksaufklärung aufweisen. Hier ist aufschlussreich, dass die Debatten der Volksaufklärer und die Volksaufklärung besonders über den Philanthropismus auch bei der jüdischen Bevölkerung und speziell bei Moses Mendelssohn Niederschlag fanden.

Abschließend wurde der Blick noch einmal konzentriert auf die Adressaten der Volksaufklärung gerichtet. Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt (Hamburg) stellte Ergebnisse und Leistungen der bäuerlichen Schreibebuchforschung dar. In diesem Zusammenhang wurde intensiv die Frage nach Ausmaß und Verbreitung der Schriftlichkeit bei der bäuerlichen Bevölkerung und der Rezeption volksaufklärerischer Literatur diskutiert, der in der Zukunft eine eigene Tagung gewidmet werden soll. 2010 schließlich wird in Wolfenbüttel, veranstaltet vom Wolfenbütteler Arbeitskreis für Buchgeschichte, der literarische Niederschlag der Volksaufklärung thematisiert werden, wobei auch hier insbesondere lesergeschichtliche Fragestellungen diskutiert werden sollen.

Aus der Tagung wird ein Tagungsband entstehen, der vermehrt werden soll durch Beiträge zur Preisschrift über die Zulässigkeit der Volkstäuschung aus dem Jahre 1780, zur Schweizer Volksaufklärung und durch einen postum veröffentlichten Aufsatz von Dieter Narr unter dem Titel „Welches Bild und welche Vorstellung machte sich der (religiöse) ‚Volkslehrer’ von dem ihm anvertrauten Volke?“.

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