Geocode der Medien. Eine Standortbestimmung des spatial turn

Geocode der Medien. Eine Standortbestimmung des spatial turn

Organisatoren
Jörg Döring; Tristan Thielmann; SFB „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen
Ort
Siegen
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.10.2006 - 14.10.2006
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Von
Andy Hahnemann, Berlin

Kein Zweifel, die zunehmende Rede vom Raum unter dem Label des ‚spatial turn’ hat eine Art Aufmerksamkeitskaskade erzeugt, die immer weitere Arbeiten und Konferenzen nach sich zieht. Fächer übergreifend hat der Raumbegriff Konjunktur und wird derzeit in eine Unzahl divergenter Forschungsprojekte umgemünzt, die unter dem Begriff des ‚spatial turn’ zu versammeln wahlweise als wissenschaftsinternes Marketingkonzept, als breitenwirksamer Paradigmenwechsel oder fahrlässige Begriffsverunklarung zu bezeichnen ist.

Dass die Veranstalter JÖRG DÖRING UND TRISTAN THIELMANN (Siegen) bewusst darauf verzichtet haben, Herkunft und Wesen eines wissenschaftlichen ‚turns’ zu bestimmen, um sich darauf zu beschränken möglichst sachbezogen dem möglichen Nutzen des Raum-Paradigmas in den verschiedenen Disziplinen nachzuspüren, war daher sicher eine kluge Entscheidung. Auch, dass die Tagung unter maßgeblicher Beteiligung von geographischer Seite stattfand, trug zur gelungenen Tagungskonstellation bei, denn wie JÖRG DÖRING in seinem einleitenden Statement feststellte, ist der spannungsgeladene Ausgangspunkt des ‚spatial turn’ ja gerade, dass die Kultur- und Sozialwissenschaften die Geographie als ihre neue Leitwissenschaft entdecken, während die Geographie sich auf eine Raumdebatte zurückgeworfen fühlt, die sie seit geraumer Zeit glücklich hinter sich gelassen zu haben glaubte. Für gegenseitige Irritation war also gesorgt, aber auch für einen breiten Spielraum an Verständigungsmöglichkeiten, denn gerade die Beschäftigung mit zwei notorisch unscharfen Begrifflichkeiten wie ‚Raum’ und ‚Medien’ zwingt wohl jede Disziplin zur möglichst weit gehenden Öffnung ihrer Fächergrenzen. Genau genommen war der Transgressionen kein Ende; quer durch die Sektionen wurde interdisziplinär vorgetragen und diskutiert.

Die erste Sektion stand unter dem Titel „Karten in den Medien – Karte als Medium“ und beschäftigte sich mit dem medial inszenierten Orientierungswissen. JÖRG DÜNNE (München) fragte nach der Kartografie als einer jeweils historisch und kulturell bestimmten ‚Weise der Welterzeugung’. Kognitive Prozesse der Raumerfassung, so der medienanthropologische Ausgangspunkt, benötigen mediale Exterritorialisierungen, von denen die Karte seit dem 16. Jahrhundert eine der wichtigsten ist. Die Operationalität der Karten liege in ihrer Funktion als Zeichensystem mit indexikalischer Funktion. Der durchgängige Bezug zwischen Karte und geographischem Raum, der in den Atlanten der frühen Neuzeit hergestellt wird, löse ein oral geprägtes Toposwissen ab, animiere zu und korrespondiere mit gesellschaftlichen Praktiken, die auf eine Territorialisierung der Staatsmacht setzen.

Während Dünne damit die medialen Begleiterscheinungen des Aufstiegs territorial-hegemonialer Staatsformen in den Blick nahm, wandten sich PAUL REUBER und ANKE STRÜVER (Münster) den Verfallserscheinungen territorialer Ordnungsmuster zu. In einer Analyse der Berichterstattung deutscher Printmedien im Anschluss an die Terrorattacken vom 9.11.2001 versuchten sie die Generierung und Proliferation geopolitischer Leitbilder nachzuzeichnen. Insbesondere Huntingtons große Erzählung vom ‚Kampf der Kulturen’ hatte als hegemoniales Deutungsmuster seinen Weg durch alle Sparten der Berichterstattung genommen und sei als grundlegende Folie, auf der die verschiedenen Territorialisierungen und binären Oppositionen konstruiert wurden, in der Regel unhinterfragt übernommen worden.

JUDITH MIGGELBRINK (Leipzig) und ROLF NOHR (Braunschweig) wandten sich den vielfältigen Kartierungs- und Positionierungsleistungen zu, die ein anderes Leitmedium, das Fernsehen, vornimmt. Während sich Miggelbrink mit der Herstellung von Raumbildern beschäftigte und betonte, dass die grundlegende Differenz zwischen Bild und Wirklichkeit in der Darstellungstechnik des Mediums oft genug kassiert werde, fragte Rolf Nohr, im Anschluss an Harold J. Innis’ medien- und infrastrukturgeschichtliche Untersuchungen, nach den verschiedenen und verschiedenartigen Topographien des Fernsehens. Die Positionierungsleistungen des Mediums betreffen demnach nicht nur den Zuschauer und die vom Medium angestoßene Strukturierung der unmittelbaren Rezeptionsräume wie das Wohnzimmer. Auch verorte sich in seinem Programm der Sender selbst im geographischen Raum, würden Ereignisse an bestimmte Orte gekoppelt und diverse Relationierungen der verschiedenen Positionierungen vorgenommen.

ROBERT STOCKHAMMER (Berlin) wandte sich der fiktionalen Literatur zu und verortete Stifters Beschreibungspoetik, seine Simulation des kartografischen Blicks, im Kontext der Entstehung topographischer Büros, deren umfassende Sammlungs- und Kartierungstätigkeit auf die je eigentümliche Erdgestaltung gerichtet war. Die Affinität Stifters zur Sammlung von Daten und Tabellen folge einem wissenspoetischen Programm, nach dem aus dem Einzelnen das Wissen übers Allgemeine zusammengetragen werden müsse.

In der zweiten Sektion zu „Mega-, Media-, Cyberlocalities“ fragte SCOTT MCQUIRE (Melbourne) nach den neuen Möglichkeiten der öffentlichen Interaktion, die durch elektronische Medien geschaffen werden, und kontrastierte die verstärkte Tendenz zur medialen Kontrolle urbaner Räume mit dem durch diverse Kunstprojekte inszenierten ‚Ludic Space’. In der medialen Konstruktion sozialer Erlebnisse lassen sich, so McQuire, nicht nur die affektive Dimension urbaner Sozialität gezielt erfahrbar machen, es könne auch ein Bewusstsein für die Möglichkeiten der Partizipation und kollektiven Kreativität stimuliert werden. Während er sich damit für die mediale Inszenierung des Sozialen ‚von Unten’ interessierte, befasste sich MIKE CRANG (Durham, GB) mit den hohen Erwartungen und Utopien, die Ende der neunziger Jahre jene Studien begleiteten, die der Auswirkung des Internets auf den Stadtraum und das Soziale prognostizierten. In einer Analyse der medialen Selbstpositionierung Singapurs als multidimensionaler ‚global city’ wies Crang zudem nach, wie diese Erwartungen im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Internets als übersteigerte Fantasien in die werbewirksame Inszenierung konkreter Kulturgeographien eingingen.

MANFRED FAßLER (Frankfurt/M.) wollte mit Blick auf die infografischen Räume des Internet die Reproduktion von Räumlichkeitsmustern als ‚key virtue’ des Menschen verstehen, als Schlüsselmöglichkeit menschlichen Verhaltens. Im Wesentlichen konkretisiere sich in räumlichen Visualisierungen eine ‚Zusammenhangsoption’ der Dinge; Raum könne mithin am besten als ‚Interkategorie’ gefasst werden, in der die Relationierung des Verschiedenartigen vorgenommen wird. Gerade topographische Karten sind aber, folgt man SASKIA SASSENS (Chicago) Vortrag über „New Centralities of Media Cities“, denkbar ungeeignet, um die vielfältigen Verbindungen urbaner Ballungsräume zu visualisieren. Ihr Interesse galt deshalb nicht zuletzt der Frage, wie wir digitale Technologien konzipieren und nutzen können, mit denen die komplexe Interaktion im städtischen Raum einzufangen ist.

Ein dritter Themenbereich widmete sich den „Geographien des Sozialen“ und nahm zentrale Probleme der Globalisierungsdebatte auf. RUDOLF STICHWEH (Luzern) erklärte, dass die Funktionssysteme der Weltgesellschaft jeweils spezifische Tendenzen der Raumorganisation freisetzen. Auffällig am Raum der Weltgesellschaft sei, dass dieser nicht als homogen beschrieben werden könne, da jedes Funktionssystem eigene Mechanismen der Organisation und Kontrolle des Raumes entwickele. Die Konvergenz der Raumentwürfe innerhalb der nicht mehr eingrenzbaren Funktionssysteme sei, so Stichweh, ein hervorragender Indikator für die Existenz einer Weltgesellschaft. TOM HOLERT (Berlin) stellte die gesellschaftliche Raumproduktion in Verbindung mit bildungs- und migrationspolitischen Maßnahmen und Diskursen ins Zentrum seines Vortrags. Holert sprach eingehender über die Geschichte und Figur des ‚brain drain’ und machte die Tendenz aus, geographische und soziale Mobilität eng an die kognitiven Fähigkeiten der Menschen zu binden. Die Folge sei nicht nur eine ganz wesentliche Konzentration des ‚Humankapitals’, sondern auch eine Quasi-ethnisierung der ‚Leistungsträger’.

Für BENNO WERLEN (Jena) sind die raumhaften Beschreibungen von Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne vornehmlich als anachronistischer Versuch zu verstehen, den Menschen in seiner Umwelt zu verorten. Unter globalisierten Bedingungen sei eine räumliche Darstellung sozialer Verhältnisse stets problematisch und erzeuge, cum grano salis, ein ‚falsches geographisches Bewusstsein’ das den Raum als Erklärungsinstanz ins Spiel bringe, zu einer Zeit, in der die grundlegenden Lebensbereiche ihre räumliche Verankerung längst verloren hätten. ROLAND LIPPUNER (Jena) machte allerdings geltend, dass sozialwissenschaftliche Beobachtung, selbst wenn sie betont ‚unräumlich’ denke, stets ein Raumbild der Gesellschaft entwerfe. In seiner Lektüre der Systemtheorie versuchte Lippuner nachzuweisen, dass die Beobachtung der Sozialsysteme und ihrer Beziehungen untereinander nicht ohne räumliche Relationierungen auskomme. Wenn aber der systemtheoretische Normalbeobachter ein ‚räumelnder’ sei, so die pointierte Abschlussfrage, müsste dann Luhmanns Systemtheorie als eine Produktionsinstanz symbolischer Geographien nicht auch Objekt geographischer Forschungen werden?

Unter eher systematischen bzw. methodologischen Gesichtspunkten wurde die die „Zukunft des spatial turn“ diskutiert. MARKUS SCHROER (Darmstadt) argumentierte für die Notwendigkeit eines pluralen Raumbegriffs innerhalb der soziologischen Forschung. Abstrakte Konzeptionen des sozialen Raums seien ebenso brauchbar wie die Aufmerksamkeit für geographische Räume; eine Behälterraumvorstellung solle nicht von der Vorstellung eines Relationsraums pauschal abgelöst, sondern vielmehr von ihr ergänzt werden. Durch eine Vielfalt von Räumen und Raumvorstellungen, die Forschungsobjekt wie Methodik bestimmen und die durch keine Klammer mehr zusammenzubringen seien, ließe sich die Frage, über welche Art von Raum gerade geredet werde, allerdings kaum entgehen. Ebenso wie Schroer bemühte sich STEPHAN GÜNZEL (Jena) um eine begriffliche Präzisierung. Der ‚topographical turn’ sei vom ‚topological turn’ kategorisch zu unterscheiden, weil letzterer gerade nicht an historisch kontingenten Erscheinungen diverser Räumlichkeiten interessiert sei, sondern an der Bestimmung grundlegender und invarianter räumlicher Strukturen. Im Sinne eines ‚transzendentalen Empirismus’ ginge es der Topologie, beispielsweise bei der Analyse von Bildern und Karten, um die jeweils idealen und typischen Bedingungen räumlicher Wahrnehmungs- und Abbildungsmodi.

NIELS WERBER (Berlin) wies darauf hin, dass erst eine historisch orientierte Untersuchung zur Semantik bestimmter Medien erklären könne, welche Rolle ihnen in kulturhistorisch orientierten Selbstbeschreibungen der Gesellschaft zugeschrieben wird. Die Behauptung einer jeweils spezifischen raumformatierenden Funktion von Medien sei nicht zuletzt als Strategie der Evidenzerzeugung zu verstehen, die durch den Rekurs auf ein angebliches technisches Apriori gesellschaftlicher Vorgänge und spatialer Organisation Plausibilitäten erzeuge. ERHARD SCHÜTTPELZ (Siegen) stellte die Frage nach dem Zusammenhang von Raum und Medium in den Kontext zeitgenössischer Universalgeschichtsschreibung. Er kritisierte die Tendenz, Weltgeschichte ausschließlich als Geschichte der zunehmenden Verflechtung zu konzipieren. Die geographischen und demographischen Bedingungen der technischen und medialen Entwicklung seien in jedem Fall mitzudenken und müssten, zusammen mit Aspekten der Sprachentwicklung, Ritualistik usw., als ‚nicht kumulative Gegengeschichte’ die an Fortschritt oder Verdichtung orientierten Erzählungen grundieren.

In seiner eindringlichen Vortragsperformance versuchte EDWARD SOJA (Los Angeles) die Bedeutung einer Wiederkehr des Raum in den Sozialwissenschaften nicht nur als Paradigmenwechsel einiger Fachdisziplinen zu sehen („it’s not some innocent little turn“), sondern das neue Raumbewusstsein als grundlegende ontologische Restrukturierung des Gesellschafts-, Menschen- und Geschichtsbildes vorzustellen. Dabei eröffne heuristisch erst das synthetische Zusammenspiel von objektiven Räumen und ihren Repräsentationen die Möglichkeit, eine der Zeit äquivalente Totalkategorie zu bilden, um die grundlegende Asymmetrie des modernen Weltverständnisses auszubalancieren.

Der von Soja glänzend vorgetragene Versuch, dem ‚spatial turn’ eine große Erzählung unterzuschieben, wurde von den Anwesenden allerdings eher skeptisch aufgenommen. Man darf hoffen, dass dafür eine Zwischenbemerkung von Saskia Sassen auf fruchtbaren Boden gefallen ist: “You have got to go out there and do the field work“.