Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit

Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit (ZFN), Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.11.2002 - 08.11.2002
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Von
Frank Linhard, Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main

"Üblicherweise wird die Entwicklung des wissenschaftlichen Wissens als eine kontinuierliche Anreicherung oder als eine Folge von Diskontinuitäten nachzuzeichnen versucht. Das erstere Modell schreibt die Geschichte gewissermaßen von der Gegenwart aus zurück und sucht sich diejenigen Ereignisse aus, die in das Kontinuum hineinpassen. Das zweite Modell operiert mit epistemischen Brüchen oder Paradigmenwechseln und gerät nicht selten in die Verlegenheit zu erklären, warum verschiedene Elemente der alten Ordnung sich auch nach dem Bruch noch großer Beliebtheit erfreuen", erklärt Michael Hagner in seinen "Ansichten der Wissenschaftsgeschichte".

Die Tagung des Frankfurter ZFN zur Anatomie beleuchtete nicht nur die Entwicklung des anatomiebezogenen Teils dieses wissenschaftlichen Wissens, sondern auch den Einfluss auf Körperwahrnehmungen und Darstellungen vor allem in der bildenden Kunst. Das Spektrum zwischen den von Hagner dargestellten Zugangsmöglichkeiten wurde auch in Frankfurt dargestellt und beide Perspektiven wurden eröffnet. Als thematische Klammer, als zugrunde liegender Leitfaden diente Andreas Vesals "De humani corporis fabrica" von 1543. Die Geschichte von Werk und Wirkung bildete gleichsam den thematischen Nukleus. Klaus Reichert (ZFN, Frankfurt a.M.) ordnete in seiner Einführung Vesals Werk wissenschafts- und kulturgeschichtlich ein und zeigte auf, dass - angestoßen durch Vesals Arbeit - eine Neubewertung nicht nur des aus der Antike übernommenen wissenschaftlichen Werkes von Galen, sondern auch der schon seit dem 12. Jahrhundert praktizierten öffentlichen Sektionen erfolgte. Reichert wies darauf hin, dass von hier aus auch ein wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungsstrang einsetzte, der bis zu William Harveys Aufklärung des Blutkreislaufes im 17. Jahrhundert reichte.

Der interdisziplinäre Charakter der Tagungsthematik führte dazu, dass sich eine Gruppe junger Wissenschaftler aus dem Gebiet der Geschichts- und Kulturwissenschaften einfand, um die Thematiken nicht nur auf hohem Niveau zu präsentieren, sondern auch zu diskutieren. So erschlossen sich auch für Nicht-Fachleute Stellenwert und Bezüge von Anatomie in der universitären Medizinerausbildung, in der öffentlichen Inszenierung von Sektionen sowie in der bildenden Kunst.

Trotz dieser Homogenität des Teilnehmerkreises gelang es, die auch gewünschten Bezüge zu nicht unmittelbar in der Thematik repräsentierten Feldern deutlich zu machen. Historisch kompetent und inhaltlich analytisch wurden scheinbare Provokationen und Skandalisierungen, die in Vorträgen zu Physiognomie und Geschlechterperspektiven angedeutet wurden, im historischen Kontext gesehen und bezüglich einer wirkungsgeschichtlichen sozialen Relevanz untersucht. Der Beitrag von Sergius Kodera (Wien) thematisierte beispielsweise die Möglichkeiten von Manipulationen und - der Erreichung eines Schönheitsideales dienenden - Operationen am menschlichen Körper anhand von Giambattista della Portas "Metoscopia, Physiognomia und Magia naturalis". Damit zeichnete er eine interessante Parallelentwicklung zur frühneuzeitlichen Wahrnehmung des Körpers entsprechend der Rezeption des Vesalschen Anatomieatlasses nach, nämlich die Vermessung und Kartographie körperlicher Eigenschaften wie Schädelform, Proportion, aber auch Lage und Anordnung von Muttermalen, die magisch und symbolisch gedeutet wurden.

Besonders fruchtbar erschienen Überblendungen aus verschiedenen Perspektiven immer dann, wenn es unmittelbare thematische Verbindungsstücke gab, wie z.B. die Haut in den Vorträgen von Ulrike Zeuch (Wolfenbüttel) und Daniela Bohde (Frankfurt a. M.), oder die Frage nach nicht-medizinischen Implikationen im Vorgang der öffentlichen Sektion bei Stefanie Stockhorst (Augsburg) und Sven Lembke (Freiburg). Lembke versuchte eine Insichtnahme von Vesals Stellenwert als Revolutionär, der nachgewiesen hatte, dass die seit der Antike bestehende Autorität Galens auf der Sektion von Tieren (statt Menschen) basierte. Hierzu wurde anhand von Quellenmaterial zur Situation an süddeutschen Universitäten im 16. Jahrhundert zu zeigen versucht, dass der von da an gleichsam quellenkritisch korrigierte Galen seine Autorität behielt und das medizinische Lehrgebäude der Zeit unangetastet blieb. Vesals Rolle basierte dann für ihn vor allem auf dessen Selbstinszenierung. Lembke berichtete, wie Vesal Lehrsektionen propagierte, in denen die von ihm zerlegte Leiche zum vorzüglichsten pädagogischen Instrument in der Ausbildung der Mediziner erklärt wurde. "Zum Entzücken der modernen Wissenschaftsgeschichte ersetzt dann eine Praktik, nämlich die Technik der anatomischen Zergliederung, die Reproduktion des Buchwissens", so Lembke. Offenbar wurde aber das Vesalsche Bildmaterial als adäquater Ersatz für nicht zustande gekommene Sektionen akzeptiert. Lembke zeigte, dass in Freiburg und Basel nur alle 3-5 Jahre öffentliche Sektionen stattfanden, so dass der gewöhnliche Mediziner bestenfalls einmal während seiner Ausbildung in den Genuss einer solchen Vorführung kam. Auf dieser Basis wurde dann die Frage diskutiert, ob die Naturwissenschaft nicht literarisch blieb. Obendrein blieb zu bedenken, daß die Chirurgie in der Frühen Neuzeit keine medizinische Disziplin war, sondern den Barbieren oblag. In der Diskussion wurde dann aber doch klar gestellt, dass - im Sinne des obigen Zitates - das Vorgehen auf zwei wissenschaftshistorischen Wegen und damit auch ein Herausarbeiten der Brüche sinnvoll sein kann: Vesal hatte teilweise heftig gegen Galen polemisiert und sich wohl auch als wirklicher Revolutionär im Sinne einer Modernisierung der Wissenschaft gefühlt, wenn er konkret nachwies (z.B. an der Leber), wo Galen tierisches Anschauungsmaterial verwendet hatte. Der Umstand, dass Vesals Bildmaterial an den Universitäten als Ersatzmaterial für echte Sektionen zum Einsatz kam, war sicher nicht nur durch Probleme bei der Beschaffung von Körpern, Aufwandsvermeidung und Unbehagen bei der anatomischen Tätigkeit zu erklären. Viel eher verwies er in Richtung einer Hauptthematik der Tagung, nämlich der Frage, ob die visuelle Darstellung ein Mittel der Erkenntnis sei.

Das Verhältnis von Visualisierung des Wissens durch Bilddarstellungen zur textlichen Darstellung war auch Thema der Vorträge von Markus Buschhaus (Karlsruhe/Düsseldorf) und Claus Zittel (Frankfurt a. M.). Während Buschhaus den anatomischen Körper zwischen Sektionstisch und Bildfläche thematisierte und so nah an der Thematik der Tagung blieb, versuchte Zittel eine allgemeine Typologisierung von Abbildungen in wissenschaftlichen Werken. Möglichkeiten einer ´´Begriffsklärung´´ zeigte Buschhaus gleich im Anschluss, indem er den Stellenwert der Bilder in der Anatomie der Neuzeit folgender Maßen charakterisierte: "Das Bild wird seit dem 16. Jahrhundert in der Anatomie mit der Funktion versehen, eine Sachautorität zu repräsentieren, auf der anderen Seite wird das derart praktizierte Bild vom professionellen Anatomen autorisiert und repräsentiert damit diese Wissenschaft. Insofern verschränkt der Begriff der anatomischen Operationen die Frage nach Bildern der Anatomie mit derjenigen nach der Anatomie des Bildes". Damit stellte Buschhaus auch den Status des Bildes in der Anatomie als methodisches Instrumentarium heraus.

Dieser wichtige Aspekt wurde auch in Alessandro Novas (Frankfurt a. M.) Vortrag zu den anatomischen Zeichnungen Leonardos deutlich. Nova sprach von der bildlichen Darstellung als von einem Erkenntnismittel und zeigte, auf welche Weise Leonardo bewusst Abweichungen von einer voll-naturalistischen Abbildung nicht nur realisiert, sondern auch in entsprechenden Textpassagen empfohlen hatte, um bestimmte Aspekte deutlicher zur Darstellung zu bringen. Somit war die anatomische Zeichnung dann tatsächlich nicht der Versuch einer naturalistischen "Abbildung", sondern eben ein Vehikel der Erkenntnis. Dieser Sachverhalt machte den Bezug zur Wahrnehmungsthematik sehr deutlich.

Einen anderen kunsthistorisch interessanten Wahrnehmungsaspekt thematisierte Matteo Burioni (Frankfurt a. M.), der Vesals Werk mit dem Architekturtraktat von Serlio verglich. Er stieß dabei auf erstaunliche Strukturäquivalenzen, die sich nicht nur unmittelbar in der Metaphorik der architekturtheoretischen Traktatliteratur der Frühen Neuzeit spiegeln, sondern auch in Details des formalen Aufbaus der beiden verglichenen Werke. Sehr interessant waren auch die Implikationen der Analogie der Darstellung des Körpers in Vesals Fabrica zur antiken Ruine, auf die Burioni schon in seinem Titel "Corpus quod est ipsa ruina docet" verwies. Ob es sich bei den Invarianten um eine Parallele oder einen echten Wirkungszusammenhang handelte, konnte Burioni (noch) nicht klären, aber hier kann man auf seine zu diesem Thema entstehende Dissertation gespannt sein.

Den Schwerpunkt auf den Wahrnehmungsaspekt legte auch Peter Mitchell (University of Wales, Lampeter) in seinem Beitrag "Anatomy, Reason and Sense-Perception in Early Seventeenth-Century English Poetry and Natural Philosophy". Mitchell vertrat die These, dass das Wiederaufleben der anatomischen Sektion in der Frühen Neuzeit nichts daran geändert hatte, dass es der Renaissance-Anatomie um Gott und die Seele ging und dass so ein Bruch zwischen dieser und der modernen Anatomie bestehen bleibe. Sein Hauptargument war, dass die Sektion die sensorischen Funktionen, die dem animalischen Teil der Seele zugeschrieben waren, angesprochen hatte und so traditionell in der christlichen Naturphilosophie und Theologie als mit Sünde und Täuschungsanfälligkeit verbunden gedacht worden war. Dieser Sinnesskeptizismus, den Mitchell aus Stellen in der Poesie des 17.Jh. belegte, führte zum Zweifel an der Korrespondenz der Sinneswahrnehmung mit ihren Objekten. Laut Mitchell wurde die rekursive Logik der Anatomie dadurch unter den Verdacht gestellt, sich in einem selbstkonfirmatorischen Kreis zu bewegen.

Cindy Klestinec (Harvard) untersuchte in ihrem Vortrag die Implikationen von Autorschaft, Mitarbeit und Plagiat anhand von Raubdrucken und Übersetzungen in Volkssprachen von Vesals Werk durch Juan Valverde de Hamusco. Damit zeichnete sie gleichsam eine Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Werkes nach, indem sie anhand dieses Fallbeispiels die Entstehungsgeschichte moderner Begriffe wie Urheberrecht oder geistiges Eigentum beleuchtete. Ein Fallbeispiel stellte auch Anna Märker (Cornell) ins Zentrum ihrer Ausführungen. Anatomische Modelle im Florenzer Naturkundemuseum La Specola im späten 18. Jahrhundert waren das Thema, anhand dessen sie die soziale Struktur dieses Museums als Einrichtung des absolutistischen Staates darstellte. Marlen Bidwell-Steiner (Wien) ging in ihrem Beitrag mit dem Titel "Gesellschaftskörper/Geschlechtskörper: Zum Zusammenhang von Selbstwahrnehmung und Welt(be)deutung in der frühneuzeitlichen Romania" auf zwei spanische Texte ein, nämlich auf Huarte de San Juans "Examen de ingenios para las ciencias" von 1575 und Olivia Sabuco de Nantes Barreras "Nueva filosofía de la naturaleza del hombre" von 1586. Anhand dieser beiden Quellen versuchte sie jeweils die Charakteristika eines one- und two-sex-model herauszuarbeiten.

Zum Abschluss der sehr gelungenen Frankfurter Tagung, die von den Mitarbeitern des Zentrums zur Erforschung der Frühen Neuzeit (Gisela Engel, Mathias Pozsgai und Albert Schirrmeister) in professioneller Weise gestaltet wurde, schlug Nicole Karafyllis (Frankfurt a. M.) die Brücke zu modernen Diskussionen. Unter dem Titel "Der therapeutische Blick ins Körperinnere" stellte sie die Frage, ob auf der Grundlage von Erkenntnissen am toten Körper Therapiekonzepte für lebende Patienten entwickelt werden könnten. Dazu untersuchte sie die Arbeiten des französischen Arztes und Pharmazeuten Claude Bernard (1813-1878). Im Hinblick auf mögliche Implikationen moderner bildgebender Verfahren für die Körperwahrnehmung in der Gesellschaft stellte sie auch Verfahren wie Röntgenfotografie, Ultraschall, Computertomographie, Kernspintomographie und Magnet-Resonanz-Spektroskopie technisch vor. Der Vortrag führte in eine Abschlussdiskussion, die auch der Formulierung von Ergebnissen diente.

Die Ergebnisse der Tagung werden als Buch publiziert.

Kontakt

Frank Linhard - F.Linhard@em.uni-frankfurt.de
Albert Schirrmeister - Aschirrm@geschichte.uni-bielefeld.de
Zentrum zur Erforschung d. Frühen Neuzeit
Robert Mayer-Str 1
60054 Frenkfurt
069/ 798-23282
069/798-25122

http://www.uni-frankfurt.de/ZFN/
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