Religiöse Kulturen und Weltlichkeit in Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert

Religiöse Kulturen und Weltlichkeit in Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Deutsch-französisches Historikerkomitee
Ort
Nancy
Land
France
Vom - Bis
28.09.2006 - 30.09.2006
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Von
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Das deutsch-französische Historikerkomitee veranstaltete vom 28.-30. September 2006 sein neuntes Kolloquium, das sich mit dem Thema „Religiöse Kulturen und Weltlichkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert“ (Religions et laïcité en France et en Allemagne aux XIX et XX siècles) befasste. Das Ziel der Tagung, auf der vor allem Mitglieder des Komitees vortrugen, war ein dreifaches: Die Tagung sollte sich erstens mit einem der grundlegenden und dauerhaften Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland beschäftigen, dem Unterschied in der Religiosität, in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche, in dem weit stärkeren Gewicht des politischen und sozialen Laizismus in Frankreich und in der weit engeren Verbindung von Kirchen und Staat in Deutschland, freilich primär im westlichen Deutschland. Dabei sollte es nicht nur um Vergleiche, sondern auch um die Transfers und die Rolle von Religion im Bild vom jeweils Anderen gehen. Die Tagung sollte sich zweitens mit der Frage befassen, ob die Säkularisierung weiterhin ein tragfähiges Konzept für historische Untersuchungen sein kann oder ob die Religiosität, die Kirchenbindung, die öffentliche Rolle der Kirchen und die Debatten über Religion im 19. und 20. Jahrhundert doch auch Gegentendenzen aufwiesen. Überall ist in letzter Zeit das Säkularisierungskonzept in der Diskussion. Die Tagung war auch inspiriert von der Aktualität der Debatten über Religion, religiöse Minderheiten und über religiöse Konflikte, von der sich freilich ein geschichtswissenschaftliches Kolloquium nur anregen, nicht leiten lassen kann. Das Kolloquium behandelte diese Fragen in drei Epochen, dem langen 19. Jahrhundert, der Zwischenkriegszeit und der Zeit seit 1945.

Das lange 19. Jahrhundert

Das Kolloquium begann mit einem Vortrag von Françoise Knopper über den deutschen Blick auf den französischen Laizismus und die Kirchen in Frankreich, mit dem Reisebericht eines deutschen Demokraten und 1848er, Moritz Hartmann, 1853 über Südfrankreich. Sie befasste sich mit dem Antiklerikalismus Hartmanns, mit seinen Verbindungen zu französischen Demokraten in Avignon und mit seiner Sicht der französischen Protestanten. Sie machte deutlich, wie wichtig für Hartmann Frankreich als laizistisches Land in Europa war. Das Referat von Philippe Alexandre (Nancy 2) setzte diesen Blick von Deutschland auf Frankreich fort. Er schilderte die Reaktion der deutschen Zeitungen auf die Durchsetzung einer laizistischen Schule in Frankreich durch Jules Ferry. Er stellte den scharfen Gegensatz zwischen der konservativen deutschen Presse heraus, die die Schule Ferrys als antikirchlich, gottlos, als Zwangsschule, als Niedergang Frankreichs beschrieb und der liberalen deutschen Presse, die diese Schulreform als positiv, neutral, unabhängig, modern, als Spitze des Fortschritts ansah. Jean Philippon (St. Sernin du Plain) zog den Vergleich zwischen beiden Ländern und behandelte den Kampf für die Laizität in einem burgundischen Dorf (1870-1914) im Vergleich zum deutschen Kulturkampf. Er argumentierte, dass der Antiklerikalismus und die Forderung nach Durchsetzung der Laizität in Frankreich oft auch im Innern der Kirche geführt wurde und viel weniger idealisiert war als oft angenommen wird. Die Opposition gegen die katholische Kirche unter deutschen Katholiken war in seinen Augen dagegen weit schwächer. Allerdings hat der französische Kampf um die Laizität und der deutsche Kulturkampf in beiden Ländern in gleicher Weise das Gewicht des Staates verstärkt.

Marie-Emmanuelle Reytier (Lyon 3) kam auf den deutschen Blick nach Frankreich zurück. Sie trug über das katholische deutsche Echo auf die Trennung von Staat und Kirche 1905 in Frankreich vor und stellte die These auf, dass sie keine starke Reaktion unter den deutschen Katholiken hervorrief. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg schlug die allgemeine wachsende Entfremdung zwischen Deutschland und Frankreich stärker durch als die katholischen Gemeinsamkeiten. Aus diesem Grund verschlechterten sich auch die Beziehungen zwischen französischen und deutschen Katholiken. Stephanie Schlesier (Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas, Berlin) zog ebenfalls einen Vergleich und kam zu ganz anderen französisch-deutschen Unterschieden als die Vorträge zuvor. Sie verglich jüdische Gemeinden in Lothringen und in der preußischen Rheinprovinz im 19. Jahrhundert. Anders als die anderen Beiträge stellte sie keine stärkere Säkularisierung in Frankreich heraus. Hauptunterschiede sind für sie, dass in Lothringen die jüdischen Gemeinden durch Konsistorien stärker integriert wurden, in der Rheinprovinz dagegen die Konsistorien abgeschafft wurden. In Lothringen erhielten die jüdischen Gemeinden anders als in der Rheinprovinz von Seiten des Staates finanzielle Zuschüsse. Die traditionelle Religiosität und der traditionelle Kult der jüdischen Gemeinden hielten sich daher länger als in der Rheinprovinz. Auch der Vortrag von Dominique Trimbur (Paris) kam zu anderen Schlüssen als die vorhergehenden Vorträge. Er behandelte die außenpolitische Rivalität zwischen dem republikanischen Frankreich und dem monarchischen Deutschland im Nahen Osten um die Gründung von internationalen, offiziellen und offiziösen, kirchlichen Institutionen während der Jahrhundertwende. Er zeigte, dass sich Frankreich trotz des starken Laizismus in der außenpolitischen Rolle als katholische Vormacht sah und mit seinen rund hundert religiösen Institutionen weit mehr Einfluss und Präsenz besaß als Deutschland.

Heidrun Homburg (Basel) führte ihr Forschungsprojekt zu einem vom französischen Laizismus besonders weit entfernten deutschen Thema, zur Herrenhuter Brüdergemeinde, vor. Sie schilderte die weltweite Missionierung dieser Gemeinde in Amerika, Afrika und Südostasien, gleichzeitig ihre Wirtschaftsexpansion, dabei auch die schwierige Umsetzung von christlichen Glaubenssätzen in wirtschaftliche Managementprinzipien und in wirtschaftsrechtliche Organisationsformen einer offenen Handelsgesellschaft. Catherine Maurer (Strasbourg II) zeigte ebenfalls Grenzen der Unterschiede zwischen laizistischem Frankreich und religiösem Deutschland auf. Sie behandelte die Wohltätigkeitspolitik in französischen und deutschen Städten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Sie wurden in Frankreich vor der Gründung der III. Republik meist an plurikonfessionelle Komitees delegiert. Seit der III. Republik nahmen die Spannungen zwischen kirchlichen Organisationen und liberaler laizistischer Politik zu. In Deutschland stützte sich die städtische Wohlfahrt damals allerdings ebenfalls nicht auf konfessionelle Organisationen, sondern primär auf die städtische Verwaltung und zwar auch in rein katholischen Städten wie Köln und München. Auf dieser Ebene entwickelte sich daher der für die Zeit nach 1945 kennzeichnende Gegensatz von laizistischer Ablehnung kirchlicher Organisationen in Frankreich und enger Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Behörden und Kirchen noch nicht.

Die Zwischenkriegszeit

Die beiden nächsten Referate behandelten die französisch-deutschen Unterschiede vorwiegend in der Zwischenkriegszeit. Michel Fabréguet (Strasbourg III) zog einen Vergleich der Protestanten im NS-Regime und im Vichy-Regime in Frankreich. Er zeigte, dass schon vorher tiefe Unterschiede zwischen der Bindung der französischen Protestanten an die Republik und ihrer mehrheitlichen Unterstützung für die Volksfront und der stärkeren Bindung der deutschen Protestanten an den Konservatismus bestanden. Im NS-Deutschland unterstützten die protestantischen Regionen überdurchschnittlich stark das NS-Regime, während sich umgekehrt die französischen Protestanten besonders im Süden Frankreichs gegenüber dem Vichy-Regime abschlossen und auch viele Juden versteckten. Fabréguet führte dies vor allem auf die lange französische Tradition der protestantischen Resistenz gegenüber dem Staat in Frankreich zurück. Ergänzend dazu verglich Adolf Kimmel (St. Ingbert) das Wahlverhalten von Katholiken und Protestanten in Deutschland. Er argumentierte, dass sich das Wahlverhalten der deutschen Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert in einer ungewöhnlichen longue durée mehrheitlich auf eine Partei, zuerst auf das Zentrum, später auf die CDU/CSU konzentrierte. Die protestantischen Wähler verteilten sich dagegen immer auf mehrere Parteien. Die Abschwächung der konfessionellen Trennlinien und der Bindung an das katholische Sozialmilieu wirkte sich auf dieses unterschiedliche Wahlverhalten nur begrenzt aus.

Die Zeit seit 1945

Adolf Kimmel leitete damit zur dritten Periode über, zur Zeit seit 1945. Die Schwierigkeiten des Transfers des französischen Laizismus nach Deutschland zeigte der Beitrag von Caroline Doublier, die den Religionsunterricht in den Schulen der französischen Besatzungszone 1945-1949 behandelte. Die französische Besatzungsverwaltung gab die Einrichtung einer laizistischen Schule nach dem französischen Modell rasch auf, da die laizistische Schule durch das NS-Regime desavouiert war und da der Schulstreit in Elsaß-Lothringen als Warnung angesehen wurde. Sie bevorzugte daher die Simultanschule, konnte sich aber gegen die massiv opponierenden katholischen Bischöfe und gegen die katholischen Eltern nicht durchsetzen, die die Konfessionsschulen bevorzugten. Eine zur selben Zeit in Deutschland rigoros durchgesetzte Säkularisierung behandelte Frédéric Hartweg (Strasbourg). Er verfolgte in seinem Vortrag über den Kirchenkampf in der DDR die Frage, ob der tiefe heutige Unterschied zwischen einem überwiegend kirchenfernen östlichen Deutschland und einem konfessionellen westlichen Deutschland erst nach 1945 durch die DDR entstand oder ob er eine länger zurückliegende Divergenz darstellt. Er argumentierte, dass schon vor dem Zweiten Weltkrieg in dieser Region eine starke Säkularisierung stattfand, aber die antikirchliche Ausrichtung der SED nach dem sowjetischen Modell einen entscheidenden weiteren Schritt darstellte, dem die protestantische Kirche im Kirchenkampf allerdings keine so starken Gegenkräfte entgegenzustellen vermochte wie die katholische Kirche in der französischen Besatzungszone. Pascal Eitler (Universität Bielefeld) schlug in seinem Vortrag vor, die Säkularisierung nicht an Kirchenbesuchen und Milieus, sondern an Deutungsmustern, Semantiken und Akteurkonstellationen, an Kommunikation und Konflikten zu untersuchen. Er argumentierte, dass in der Bundesrepublik zwischen 1965 und 1975 die Religion in beiden Konfessionen grundlegend politisiert wurde, die traditionelle Trennung von Staat und Kirche abgebaut, die Dritte Welt stärker wahrgenommen, das Verhältnis von Eschatologie und Praxis intensiver Auseinandersetzung in den allgemeinen Medien umdefiniert wurde. Anne Salles-Lestrade befasste sich mit dem Familiendiskurs und der Familienpolitik der katholischen und protestantischen Kirche in Frankreich und Deutschland in der jüngeren Geschichte. Sie argumentierte, dass die katholische wie die protestantische Kirche in Deutschland ein weit ausgearbeitetes Konzept der Familienpolitik entwickelten, sich mit dem Verhältnis von erwerbstätigen Frauen und Familien, mit Familienarmut, mit Ausbildung und Familienkonzepten befassten, sich viel stärker als in Frankreich in den öffentlichen Diskurs einschalteten und sowohl mit sozialdemokratischen als auch mit christdemokratischen Regierungen eng zusammenarbeiteten und als Gesprächspartner angesehen wurden, während im laizistischen Frankreich Regierung und Kirchen viel stärker voneinander getrennt blieben. Am Ende behandelte Gilles Leroux (Besançon) die aktuelle Geschichte des Kopftuchstreits in Frankreich und Deutschland seit den 1990er Jahren, das Verbot des Kopftuchs bei Schülerinnen in Frankreich und die eingeschränkte verfassungsgerichtliche Freigabe des Kopftuchs bei Lehrerinnen in Deutschland, allerdings danach das Verbot in acht Bundesländern. Er sieht eine gewisse Konvergenz beider Länder in der Einstellung gegenüber religiösen Symbolen, auch in der begrenzten Öffnung gegenüber dem Islam. Er sieht aber auch große Unterschiede zwischen Frankreich, das wegen seines laizistischen Staates eher integrationistisch war, und Deutschland, das nicht konzeptionell, aber in seinen Augen de facto eher eine multikulturelle Gesellschaft wurde.

Ergebnisse

Das Kolloquium hatte insgesamt mehrere klar erkennbare, wichtige Ergebnisse. Es ließ erstens den tiefen Unterschied zwischen dem französischen Laizismus und der deutschen engen Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirchen erkennen. Dieser Langzeitunterschied wurde in fast allen Beiträgen angesprochen, zum frühen 19. Jahrhundert ebenso wie zur Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert, dauerte die ganze Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts an. Er schlug sich auch in den Präferenzen der beteiligten Historiker nieder. Französische Beiträge behandelten eher den Laizismus und interessierten sich für das Thema auch stärker. Deutsche Beiträge behandelten eher Religiosität und das Verhältnis von Kirche zu Staat oder zur Öffentlichkeit. Dieser französisch-deutsche Unterschied war recht resistent. Weder die Sympathien der deutschen Liberalen im 19. Jahrhundert für die französische laizistische Schule noch die Schulpolitik der französischen Besatzungsregierung nach 1945 haben diesen Unterschied merklich reduziert. Dieser Unterschied – das war ein zweites Ergebnis des Kolloquiums – hatte allerdings auch deutliche Grenzen. Vor 1918 unterschieden sich weder die jüdischen Gemeinden der beiden Länder noch die Lokalpolitik in französischen und deutschen Städten auf diese Weise. Die französischen Juden in Lothringen waren weniger säkularisiert als die deutschen Juden in der Rheinprovinz. Nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich die Geschichte der Einstellung zu den Kirchen in der DDR ebenfalls nicht in diesem Langzeitunterschied unterbringen. Die starke Säkularisierung in der DDR hatte nicht allein mit der Intervention von außen durch die sowjetische Besatzung und die sowjetisch inspirierte Kirchenpolitik der DDR zu tun, sondern auch mit längerfristigen Säkularisierungstendenzen in Sachsen, Brandenburg und Berlin schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Ein drittes Ergebnis des Kolloquiums schließlich war, dass der französische Laizismus eine andere Bedeutung besaß als üblicherweise angenommen. Er kann nicht einfach mit Atheismus oder mit Agnostizismus gleichgesetzt werden. Der Kampf für den Laizismus wurde in Frankreich auch von Katholiken geführt, die getauft waren und in die Kirche gingen. Es erschien deshalb nicht so überraschend, dass die laizistische französische Republik sich in ihrer Außenpolitik durchaus als katholische Vormacht betrachtete.

Das Kolloquium wurde finanziert von der Universität Nancy 2, vom Conseil régional Lothringens, von der Stadt Nancy, vom Le Grand Nancy, vom französischen Forschungsministerium, von der DFG und vom deutsch-französischen Jugendwerk.


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