Zeugnis und Zeugenschaft

Zeugnis und Zeugenschaft

Organisatoren
Wolfram Drews; Heike Schlie; Arbeitsgebiet Geschichte des Mittelalters, Universität Bremen (Cordula Nolte, Jan Ulrich Büttner, Klaus-Peter Horn)
Ort
Bremen
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2006 - 25.11.2006
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Von
Heike Schlie

Die 13. Tagung des Brackweder Arbeitskreises für Mittelalterforschung widmete sich den vielschichtigen Konzepten des Zeugnisses und der Zeugenschaft im Mittelalter. Konzipiert wurde die Tagung von Heike Schlie (Köln) und Wolfram Drews (Bonn), Veranstalter war das Arbeitsgebiet Geschichte des Mittelalters der Universität Bremen.

Zeugnisse und Zeugenschaft machen bereits vergangene oder aus anderen Gründen nicht rezipierbare Erfahrungssituationen und Erfahrungswerte für Mitglieder einer Gesellschaft verfügbar, die nicht an der Erfahrungssituation selbst beteiligt sind oder waren. In dieser Eigenschaft sind sie eine grundlegende Voraussetzung für Prozesse der Manifestation und Tradierung im Kontext von Historiografie, Memoria oder Wissenstransfer. Ausgehend von der Arbeitshypothese, dass sich in den mittelalterlichen Kulturen auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und in zahlreichen Kontexten strukturverwandte Konzepte von Zeugenschaft finden lassen, die sich zwischen den Polen „Sichtbarmachen“ und „Überliefern“ bewegen, kamen elf Vertreter der Geschichtswissenschaft, Theologie, Islamwissenschaft, Literaturgeschichte und Kunstgeschichte zusammen, um diese Konzepte fächerübergreifend vorzustellen und zu diskutieren.

Weltliches Recht im religiösen Kontext
Dass die Legitimität des Rechtssystems und seiner Verfahren auch in darüber hinausgehenden Kontexten aufgerufen wird und diese Bereiche durchdringt, wies Henrike Manuwald (Germanistik, Köln) in ihrem Beitrag “Zeugen der Anklage? Konzepte von Zeugenschaft in mittelhochdeutschen Dichtungen über den Prozess Jesu" nach. Sie ging Konzepten juristischer Zeugenschaft nach, wie sie sich in drei literarischen Texten des 13. Jahrhunderts präsentieren: in der Urstende Konrads von Heimesfurt, im Christi Hort Gundackers von Judenburg und im Evangelium Nicodemi Heinrichs von Hesler. Es ließ sich zeigen, dass die Elemente des zeitgenössischen deutschen Rechts, die in die Schilderung des Prozesses jeweils eingearbeitet sind, dazu dienen, das Rechtssystem zu affirmieren. Kennzeichen aktueller Rechtssprechung werden eingefügt, aber es wird nur denjenigen, die zugunsten Jesu aussagen und damit für die heilsgeschichtliche Wahrheit eintreten, Zeugenstatus zuerkannt, nicht jedoch den Anklägern. Dieser Befund wurde in seiner narratologischen Funktionalisierung gedeutet und zu Rechtsquellen in Beziehung gesetzt. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Applizierung aktuellen Rechts auf den Prozess Jesu innerhalb des religiösen Diskurses wiederum fruchtbar gemacht werden konnte, die Gültigkeit des Heilsereignisses auch in ihrem Gegenwartsbezug deutlich zu machen.

Zeugenketten
Aleksandra Prica (Germanistik, Zürich) untersuchte in ihrem Beitrag „Non verum quod variat. Zeugnis und Zeugenschaft in der 'Erlösung'“ die literarischen Techniken eines Authentizitätsanspruches des spätmittelalterlichen heilsgeschichtlichen Epos, in dem unter den Bedingungen neuer Kontexte Heilsgeschichte erzählt und aktualisiert wird. Im Spannungsfeld zwischen dem Bestreben, sich an die biblischen Texte anzuschließen und an deren Autorität zu partizipieren, entwirft das heilsgeschichtliche Epos ‚Die Erlösung’ nach Prica ein Konzept von Zeugnis und Zeugenschaft, das den Erhalt heilsgeschichtlicher Substanz als solcher garantiert und dem Epos selbst einen mehr als kontingenten Status im Ganzen der Heilsgeschichte erlaubt. Der Kontingenz des Kommentars und des Wiedererzählens, deren Problematik bereits im Kontext der Bibelübersetzungen thematisiert worden war, entgeht das Epos Prica zufolge ganz bewusst durch die Setzung einer Kette von Propheten und Aposteln, in die sich der Autor selbst einschreibt.

Ein weiteres Konzept einer Zeugenkette präsentierte der Vortrag „Zeugenschaft und Überlieferung in der post-formativen Periode des Islam“ von Konrad Hirschler (Islamwissenschaft, Kiel), der die Bedeutung der Zeugenschaft in den religiösen Wissenschaften in Ägypten und Syrien zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert behandelte. Zeugenschaft war zentral für die Wissensvermittlung, da sich diese in signifikantem Maße interpersonell vollzog. Hörervermerke dokumentierten die Teilnahme an Lehrsitzungen, und waren Voraussetzung für eine eigene Tätigkeit als Vorsitzender in solchen Sitzungen im weiteren Verlauf der Gelehrtenkarriere. Hörervermerke belegten nicht etwa den Wissenserwerb an sich, der auch später erfolgen konnte, da in dem behandelten Zeitraum auch Kinder in dieser Form das Recht zur späteren Wissensüberlieferung erlangen konnten. Die Kette der Überlieferer war vielmehr eine Abfolge von Zeugenschaften, die in symbolischer Art und Weise die Kontinuität der Wissensvermittlung belegte. Diese Zentralität der Zeugenschaft in Wissenserwerb und Wissensvermittlung spielte eine Rolle in spezifischen Entwicklungslinien der untersuchten Gesellschaften, so zum Beispiel auch für die geringfügige Institutionalisierung des Lehrbetriebs.

Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Vertrauen
In ihrem Beitrag "Das Wort des Königs. Wahrhaftigkeit als Herrschaftsideal im französischen Spätmittelalter" skizzierte Petra Schulte (Mittlere und Neuere Geschichte, Köln) das Wechselspiel von Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Vertrauen, dessen Aufrechterhaltung sich die Intellektuellen dieser Zeit zum Ziel setzten und das als das ideelle Fundament der gesellschaftlichen sowie der – von ihr kaum zu trennenden – politischen Ordnung angesehen wurde. Petra Schulte zeigte Richtlinien sittlich-ethischen Handelns auf, die auch für das Zeugnis in seiner engeren rechtlichen ebenso wie in der weiteren epistemischen Bedeutung galten und insofern für das Rahmenthema von Interesse waren, von ihr aber allgemein auf jede Form der politischen Kommunikation bezogen wurden.

Um das Erzeugen von Wahrhaftigkeit ging es auch in dem Beitrag „Zeugenschaften in Mirakelberichten“ von Klaus-Peter Horn (Geschichte des Mittelalters, Bremen), der sich der Frage widmete, warum in der überwiegenden Mehrheit der Heilungswunder des 9. Jahrhunderts die literarische Zeugenschaft der Geheilten selbst keine Rolle spielte. Eine Untersuchung der Entwicklung ausgehend von der schriftlosen Erzählung bis zur lateinischen Mirakel machte deutlich, dass die Techniken des Autors von Mirakelberichten sich der medialen Argumentation an den Kultstätten selbst angleichen. Zum Zeugnis werden dort vorhandene schriftliche Notizen über das Wunder, Vertrauenspersonen an der Kultstätte selbst und Relikte des Wunders wie zurückgelassene Krücken oder Knochensplitter aufgerufen. Die Autorität der medialen Struktur der Kultstätte, nicht das literarische Zeugnis des Geheilten selbst, wird für die Wahrhaftigkeit der Mirakelerzählung fruchtbar gemacht.

Zeugenschaft in der Historiografie
In einem Doppelvortrag behandelten Sabine Schmolinsky (Geschichte, Hamburg) und Jan Marco Sawilla (Geschichte, Hamburg) die Bedeutung der Augenzeugenschaft für die Historiografie im Mittelalter und in der Frühneuzeit und verwiesen darüber hinaus auf methodische und erkenntnistheoretische Perspektiven der Moderne und Gegenwart, die ihrer Ansicht nach mit diesem Konzept und seiner Problematik in Zusammenhang stehen. Schmolinsky zeigte anhand ihrer „Überlegungen zum 'verschleierten' Gedächtnis in mittelalterlicher Historiographie“ an historio-/hagiographischen Beispielen seit der Spätantike die Wertschätzung von Augenzeugenschaft in den argumentativen Korrelierungen mündlich und schriftlich überlieferter Quellen. Dabei erscheint in einer Linie von Aulus Gellius (Noctes Atticae, um 170) über Isidor von Sevilla (Etymologiae, 625/632) “historia” zunächst als das Werk eines, der dabei gewesen ist. Bei der historiografischen Verwendung der Augenzeugenberichte anderer galt dementsprechend die Glaub- und Vertrauenswürdigkeit der Zeugen im Sinne einer personalen Qualität als Kriterium. Dieser Formierung des mittelalterlichen Problembewusstseins über die Fehleranfälligkeit des menschlichen Erinnerungsvermögens stellte Schmolinsky kritisch Johannes Frieds Konzept einer neurokulturellen Geschichtswissenschaft gegenüber, deren Kern, eine Quellenkritik als “Gedächtniskritik” auf kognitionswissenschaftlicher Basis, dem vorhandenen methodischen Repertoire nur Verzerrungen klassifizierende Termini hinzuzufügen vermöge.

Jan Marco Sawilla (Geschichte, Hamburg) befasste sich in seinem Vortrag „Historiographiegeschichtliche Überlegungen zu primärer und sekundärer Evidenz seit der frühen Neuzeit“ mit dem im 16. Jahrhundert in den Traktaten der ars historica aktualisiertem, antiken Ideal eines Historiografen, der das in seiner Gegenwart Vorgefallene für die Nachwelt zu beschreiben und zu deuten hatte. Dieser Begriff des Historiografen als einem Zeit- und Augenzeugen mündete auf der einen Seite in die bevorzugte Behandlung von Aspekten der Anschauung in der historiografischen Theorie und erleichterte damit Sawilla zufolge den Brückenschlag zur philosophischen Erkenntnistheorie (J. M. Chladenius). Auf der anderen Seite entwickelte er sich in solchen Milieus, die sich längst vergangenen Sachverhalten zuwandten, zu einem Kriterium der Evaluation historiografischer Texte insbesondere der Spätantike und des Mittelalters, indem jenen Autoren die größte Glaubwürdigkeit zugebilligt wurde, die bei den von ihnen verschriftlichten Vorfällen selbst zugegen gewesen seien. Die daraus erwachsenden Modelle abgestufter Plausibilität (M. Cano; J. Bolland) lagen der modernen Differenzierung zwischen “ursprünglichen” und “abgeleiteten” Zeugnissen zugrunde. In der Überzeichnung ihrer Relevanz fixierten sich an ihr wiederholt Debatten (O. Lorenz; E. Bernheim/ K. Jenkins; R. J. Evans), die das Fundament der historisch-kritischen Methode insgesamt zu verhandeln beanspruchten.

Relative Wertigkeiten von Augenzeugenschaft
Vier weitere Beiträge widmeten sich dezidiert der Augenzeugenschaft und den ihr zugeschriebenen Wertigkeiten. Andreas Matena (Katholische Theologie, Koblenz) untersuchte in seinem Beitrag "Tastende Blicke“ die divergierenden Konzepte von Zeugenschaft in der Exegese der Thomasperikope. Im Zentrum stand hierbei das Motiv sinnlicher Erfahrung in ihrem Wert für eine authentische Vermittlung durch den (Augen-)Zeugen. Reichte dem Johannesevangelisten noch ein „Sehen“ des auferstandenen Christus, um den Apostel Thomas als glaubwürdigen Zeugen zu präsentieren, findet sich in der Väterexegese weitgehend das Zeugnis durch Berührung. Die These lautete, dass dieser Umbruch durch den Kampf gegen "gnostische" und "doketische" Tendenzen, die bereits ihren Eingang in die orthodoxe Theologie gefunden hatten, bedingt war. Das Tasten besaß eine höhere Plausibilität und Sicherheit für das Bezeugen der tatsächlichen Körperlichkeit des auferstandenen Leibes durch Thomas und trat somit als Gegenzeugnis zum spirituellen Auferstehungsleib der Gnostik an. Durch diese Umdeutung stand der Apostel der orthodoxen Kirche weiterhin als Zeuge der Historizität des Christusereignisses sowie der Legitimität aller daran hängenden Phänomene (Reliquien, Institutionalisierung usw.) zur Verfügung.

Während die literaturwissenschaftliche Forschung in der Regel davon ausgeht, das Rheinische Marienlob zeuge von den visionär-mystischen Erfahrungen eines Autors, erprobte der Beitrag von Christine Stridde (Germanistik, München) mit dem Titel „Visionäre oder gespielte Zeugenschaft? Die Marienpassion im Rheinischen Marienlob“ eine überzeugende Deutungsalternative, indem er die argumentativen Brüche und Leerstellen, Zeitsprünge und Akkausalitäten des Augenzeugenberichts von der Passion Christi in den Kontext mittelalterlicher Aufführungspraxis stellte. Betrachtet man das Ich des Textes, welches als Augenzeuge beim Passionsdrama inszeniert wird, nicht als mystischen Autor, sondern als Adaption einer Schauspielerrolle, lassen sich nicht nur die darstellerischen Eigenarten des Texten und seine auffällig überspannte Relevanz visueller Wahrnehmung erklären, auch die prekäre mystische Augenzeugenschaft lässt sich zurück in das kommunikativ Verhandelbare und in den Kontext gemeinschaftlich ritueller Compassiofrömmigkeit rücken.

Die Beiträge der Kunsthistorikerinnen Yvonne Yiu (Kunstgeschichte, Basel) und Beate Fricke (Kunstgeschichte, Zürich) widmeten sich der für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts symptomatische Thematisierung der Mehrschichtigkeit von visuellen Befunden, die mit einem Zuwachs der Bedeutung von Augenzeugenschaft einhergeht. Yvonne Yiu untersuchte „Strategien der Wahrheitsbezeugung in der Malerei des Spätmittelalters“ und verband die Augenzeugenschaft des Malers, die bereits in den Legenden um die authentischen Porträts Christi und Mariä eine zentrale Rolle spielt, mit einem visuellen Diskurs über den Wahrheitsgehalt des Gemäldes in Spätmittelalter und Frühneuzeit. Die Augenzeugenschaft des Malers, die im Bild durch die Einfügung seines Selbstbildnisses oder auch durch verschlüsselte auktoriale Insertionen inszeniert wird, kann sich einerseits auf das Dargestellte richten und somit dessen Wirklichkeitstreue verbürgen, andererseits kann die Augenzeugenschaft auf die mediale Grundbedingung des Dargestellten als Malerei verweisen, wie Yiu u.a. anhand einiger Werke Albrecht Dürers zeigte. Dem mimetischen Verständnis von Wahrheit steht nach Yiu damit ein poetisches Konzept gegenüber, das die Wahrheit des Gemäldes in seiner Gemachtheit ansiedelt.

Während für Yiu eher die „Wahrheit des Medialen“ im Vordergrund stand, untersuchte Beate Fricke in ihrem Beitrag „Augenzeugenschaft und Evidenz. Blickgefechte für und wider den Schein“ Aspekte der generellen Wahrhaftigkeit visueller Wahrnehmung im bildlichen Diskurs. Für die bisher wenig bearbeitete „Eremitentafel“ eines unbekannten flämischen Meisters im Brüsseler Musée des Beaux-Arts schlug sie eine Deutung als innovative Umsetzung des Hiobsthemas vor. Es wurde deutlich, dass hier weniger der Körper des bedrängten „Eremiten“ als Zeugnis seines Widerstandes gegen die unheiligen Kräfte betont wurde, sondern dass der lesende und beobachtende „Eremit“ in der Kleidung eines Humanisten zum unbeteiligten Augenzeugen und Kommentatoren eines subtil in der Landschaft verborgenen Bösen mutiert. Die Bedrängung des Hiob wird Fricke zufolge zur visuellen Bedrängung des Betrachters selbst. Die Wahrhaftigkeit der Wahrnehmung ersetzt - wie im neuen Rechtssystem des späteren Mittelalters - die Wahrhaftigkeit der Person. Die von Foucault beschriebene Entwicklung von der „épreuve“ zur „enquête“ im Rechtssystem übertrug Fricke somit auf die Funktion der Bilder.

Zwar konnten die elf Beiträge für eine die Relevanz des Zeugnisses betreffende Gesamtheit der mittelalterlichen kulturellen Bereiche nicht repräsentativ sein; es zeichnete sich aber ein facettenreiches und nicht unbedingt immer zu erwartendes Bild der Funktionen und Konzepte von Zeugenschaft ab. Darüber hinaus ermöglichten verwandte Strukturen und vergleichbare Muster in den verschiedenen Varianten der Zeugenschaft eine rege Diskussion zwischen den Fächern. Das Hauptaugenmerk richtete sich dabei auf den Aspekt der Zeugenkette als Überwindung von Kontingenz, auf die Techniken der Konstruktion von Autorität und Authentizität, auf die Strategien der Wissensvermittlung sowie auf die Rolle visueller Wahrnehmung im Mittelalter. Nahezu alle Beiträge erwiesen in diesem Zusammenhang – explizit oder auch unausgesprochen - eine ausgesprochen hohe Relevanz der Medialität und der Performanz des Zeugnisses, was für den geplanten Tagungsband im Anschluss in besonderer Weise fruchtbar gemacht werden soll.
(Heike Schlie)

Informationen zum Brackweder Arbeitskreis unter http://www.brackweder-ak.de

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