An der Grenze: Historische Mensch-Umwelt-Beziehungen als transdisziplinäres Forschungsfeld. Workshop zur Entwicklung transdisziplinärer Wissenschaftsstrategien

An der Grenze: Historische Mensch-Umwelt-Beziehungen als transdisziplinäres Forschungsfeld. Workshop zur Entwicklung transdisziplinärer Wissenschaftsstrategien

Organisatoren
Projekt „Ökosystem, Sozialstruktur und Wirtschaftsweise im mittelalterlichen Altbaiern“ (Thomas Meier/Petra Tillessen) am Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie und Provinzialrömische Archäologie der Ludwig-Maximilians-Universität München; gefördert von der Volkswagen-Stiftung
Ort
Frauenchiemsee
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.11.2006 - 20.11.2006
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Von
Doris Gutsmiedl, Hamburg

In der malerischen Kulisse des Konvents Frauenchiemsee fand der Workshop „An der Grenze: Historische Mensch-Umwelt-Beziehnungen als transdisziplinäres Forschungsfeld“ statt. Die gesteckten Ziele waren dabei, bisherige Erfahrungen über inter- und transdisziplinäre Forschungen auszutauschen und aus diesen Ansätze für weitere Forschungen zu entwickeln. Dabei sollten nicht in erster Linie Leistungsschauen erfolgen, vielmehr sollten aufgetretene Schwierigkeiten aufgezeigt, deren Entstehung hinterfragt und Strategien zu deren Vermeidung entwickelt werden.
Die Vortragenden und Teilnehmer kamen aus den unterschiedlichsten Disziplinen: Neben Forschenden aus den Fächern Archäologie, Archäozoologie, Paläobotanik und Anthropologie waren auch Vertreter aus den Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Religionswissenschaft anwesend.

Der Workshop war in mehrere Blöcke gegliedert: Nach einigen Vorträgen, die sich aus theoretischer Sicht mit Mensch-Umwelt-Beziehungen und transdisziplinärer Zusammenarbeit zu deren Erforschung befassten, wurde an einigen Fallbeispielen und Projekten aus der historischen Umweltforschung die Umsetzung fächerübergeifender Zusammenarbeit dargestellt. Jeweils nach zwei oder drei thematisch ähnlichen Vorträgen wurden die wichtigsten Punkte dieses Vortragsblocks in einem Comment zusammengefasst, ehe die Teilnehmer aufgerufen waren, zu diskutieren. Dabei kam es den Veranstaltern vor allem auf diese Diskussionen an, denen viel Zeit zur Verfügung gestellt wurde, die hier wiederzugeben aber kaum möglich ist. Zwischen diesen beiden großen Vortragsblöcken zu Theorie und Fallbeispielen fand einen Tag lang eine Geländeexkursion statt, in deren Verlauf wichtige und interessante Orte, die mit dem Projekt des Veranstalters in Beziehung stehen, besucht und den Teilnehmern von Mitarbeitern des Projekts nahe gebracht wurden.

Die Tagung wurde eröffnet von Max Martin (Vor- und Frühgeschichte, Universität München), der in seinen einführenden Worten den Teilnehmern auch den historischen Tagungsort ein wenig näher brachte.
Thomas Meier (Vor- und Frühgeschichte, Universität München) ging in seinem einführenden Vortrag zunächst auf die Unterschiede von Geistes- und Naturwissenschaften ein und beleuchtete deren unterschiedliche erkenntnistheoretische Entwicklungen im Laufe der Zeit. Dabei arbeitete er heraus, wie sich diese Unterschiede auf eine fächerübergreifende oder interdisziplinäre Zusammenarbeit auswirken bzw. auswirken können. Im Vergleich zur Interdisziplinarität stellte Thomas Meier die transdisziplinäre Zusammenarbeit als „dichtere“ Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Fächern dar, bei der die Fächergrenzen weitestgehend aufgehoben sind. Daraus ergeben sich weit reichende Möglichkeiten, aber auch Probleme. Diese lägen vor allem darin begründet, dass Argumentationsstrukturen in den einzelnen Fächern beheimatet sind und außerhalb der Disziplinen nicht oder nur eingeschränkt und behaftet mit Missverständnissen funktionieren.

Im zweiten Vortrag versuchte Verena Maier (Philosophie, Universität München), eine mögliche Basis für eine Zusammenarbeit von Natur- und Geisteswissenschaften aufzuzeigen. Hierzu müssten die „Fakten“ der Naturwissenschaften zu den „Konstrukten“ der Geisteswissenschaften in Beziehung gesetzt werden. Als Lösung bzw. als Gemeinsamkeit aller Fächer stellte sie eine universelle „Moral“ oder „Tugend“ dar, die den gemeinsamen Nenner bei inter- bzw. transdisziplinärer Arbeit bilden sollte.

Hagen Hof (Volkswagen-Stiftung, Hannover) zeigte die Perspektive des Forschungsförderers auf. Er betonte vor allem, dass inter- oder transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fächern auf Augenhöhe passieren muss, was sich unter anderem darin zeige, dass die Antragsteller aus den beteiligten Fächern bereits gemeinsam einen Antrag auf Förderung stellten. An diese ersten drei Vorträge schloß sich der erste Comment an, gehalten von Petra Tillessen (Religionswissenschaft, Universität München). Sie begriff die in diesen Vorträgen dargestellten Probleme als Herausforderungen und betonte, dass es in großen und fächerübergreifenden Projekten immer zur Station des „kreativen Chaos“ komme. Um solche Reibungsverluste zu vermeiden, schlug sie die Einrichtung einer Mediatorenstelle in großen interdisziplinären Projekten vor.

Joachim Weimann (Volkswirtschaftslehre, Universität Magdeburg) stellte dem Auditorium die durch eine formales, mathematisch abbildbares Menschenbild geprägte Sicht der Wirtschaftswissenschaften auf Mensch-Umwelt-Beziehungen vor. Zugleich zeigte er die Probleme auf, die aus einem Abweichen der Wirtschaftswissenschaften von dem ökonomischen Menschenmodell und seinen streng rationalen Entscheidungen entstehen können.

Daran anschließend legte Thomas Bargatzky (Ethnologie, Universität Bayreuth) dar, wie die sog. "Naturvölker" in der Wahrnehmung der Europäer seit der Frühromantik – und somit seit es in der abendländischen Kultur den Gegensatz Zivilisation/Kultur versus Natur gibt – den gleichen Merkmalsraum besetzt halten wie "Myth-Wesen", und ihnen damit kindliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Dabei, so Bargatzky, haben diese sog. Naturvölker oft einen ganz anderen Naturbegriff als die Europäer, zudem würde das Zuschreiben kindlicher Eigenschaften an diese Menschen die Erforschung von Mensch-Umwelt-Beziehungen erschweren. Bargatzky plädierte daher stark für das Arbeiten mit Modellen.

Der anschließende Comment wurde von Thomas Potthast (Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, Universität Tübingen) gehalten.

Die ersten Vorträge des zweiten Tages drehten sich zunächst um die Frage nach der Kommunikation zwischen den Fächern. Im ersten Beitrag stellte Jens Jetzkowitz (Soziologie, Forschungszentrum für Gesellschaft und Ökologie) vor, wie er mit einem Kollegen aus der Biologie durch eine für beide überraschende Entdeckung zunächst zu Indizien und zu einer Fragestellung sowie schließlich zu einem gemeinsamen Forschungsprojekt gekommen war und erläuterte an diesem Beispiel das Indizienwissenschaftliche Paradigma.

Alexandra Grieser (Religionswissenschaft, Universität München) beschäftigte sich in ihrem Beitrag mit Plausibilitätsmustern in Wissenschaft und Religion, und zeigte an verschiedenen Beispielen, wie die mit diesen Plausibilitäten zusammenhängenden Argumentationsstrukturen und Überzeugungsmuster funktionieren bzw. funktionieren können.
Tom Bloemers (Archäologie, Universität Amsterdam) unterstrich in seinem Comment die Bedeutung der Kommunikation zwischen den Fächern, und betonte in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit von Metaphern, die oftmals dem Brückenschlag von Fach zu Fach erleichtern würden und als „unifying concepts“ dienen könnten.

Thomas Knopf (Ur- und Frühgeschichte, Universität Tübingen) legte seine Gedanken zu Interkulturellen Vergleichen und Analogien in der historischen Umweltforschung dar. Anschließend zeigten Petra Tillessen (Religionswissenschaft, Universität München) und Doris Gutsmiedl (Vor- und Frühgeschichte, Universität Bonn) am Beispiel der Datenbanken aus dem veranstaltenden Projekt, welche Probleme beide Nutzung von Datenbanken in interdisziplinären Projekten auftreten können und leiteten daraus Anforderungen an die Forschung bei der Arbeit mit Datenbanken ab.

Alexander Gramsch (Vor- und Frühgeschichte, Freiburg) fasste in seinem Comment die Ergebisse des Vormittags zusammen und stellte neben der Kommunikation auch die Wichtigkeit einer Datenreduktion bei interdisziplinärer Zusammenarbeit heraus.

Der Nachmittag des zweiten Tages stand ganz im Zeichen von Erfahrungsberichten aus interdisziplinär zusammengesetzten Graduiertenkollegs zur historischen Umweltforschung. Dabei lag es in der Natur dieser Vorträge, dass sie eine sehr persönlichen Sicht des Referenten bzw. der Referentin zeigten. Vorgestellt wurden das bereits abgeschlossene Kolleg „Paläoökosystemforschung und Geschichte“ der Universität Regensburg (Oliver Nelle, Botanik, Universität Kiel), die erste, ebenfalls bereits abgeschlossene Phase des Graduiertenkollegs „Gegenwartsbezogene Landschaftsgenese“ der Universität Freiburg (Kim Phillip Schumacher, Geographie, Universität Hildesheim) und das noch laufende Graduiertenkolleg „Interdisziplinäre Umweltgeschichte – Naturale Umwelt und gesellschaftliches Handeln in Mitteleuropa“ der Universität Göttingen (Anne Klammt, Ur- und Frühgeschichte, Universität Göttingen). In allen drei Vorträgen zeigte sich, dass zwar das Kolleg den Rahmen für fächerübergreifende Zusammenarbeit bieten konnte, dass es aber vor allem auf Grund von Eigeninitiativen der Stipendiaten dann tatsächlich zu Annäherung und Zusammenarbeit zwischen den Fächern kam. Der anschließende Comment wurde gehalten von Sabine Früchtl (Vor- und Frühgeschichte, Universität München) und Doris Gutsmiedl (Vor- und Frühgeschichte, Universität Bonn).

lm letzten Vortrag an diesem Tag stellte Thomas Meier den Teilnehmen als Einstimmung und Vorbereitung auf die am nächsten Tag folgende Exkursion das Projekt „Ökosystem, Sozialstruktur und Wirtschaftsweise im mittelalterlichen Altbaiern“ näher vor.

Am dritten Tag des Workshops wurden den Teilnehmern im Rahmen einer Exkursion verschiedene Aspekte der fächerübergreifenden Zusammenarbeit und Ergebnisse des veranstaltenden Projekts nahe gebracht.

Die Tagesexkursion führte von Frauenchiemsee zunächst nach Erpfendorf in den Kitzbühler Alpen, Tirol, Österreich, wo das Kloster Frauenwörth u.a. auch Ländereien besaß. Gertrud Thoma (Mittelalterliche Geschichte, Universität München) erläuterte an diesem Beispiel die Struktur des Besitzes des Klosters. Weiter ging es dann zum Brannenberg bei Brannenburg, Lkr. Rosenheim, Oberbayern, von wo man einen guten Blick auf den Petersberg bei Flintsbach, einer der im Projekt „Ökosystem, Sozialstruktur und Wirtschaftsweise im mittelalterlichen Altbaiern“ bearbeiteten Fundstellen, und dessen Umland hat. Hier wiederholte Thomas Meier noch einmal einige Aspekte seines Vortrags vom Vortag - wobei vieles sich vor Ort besser und leichter nachvollziehen und verstehen ließ. Zudem erläuterte Felix Schmitt (HS&Z / Universität München) seine Forschungen zur Rekonstruktion von Ackerflächen und Flursystemen am Alpenrand.

Nur wenig weiter südwestlich gelegen befindet sich das Arzmoos, eine Hochmoor, aus dem ein von Michael Peters (Vegetationsgeschichte, Universität München) untersuchtes und ausgewertetes Pollenprofil stammt. Neben einigen Anmerkungen zur Vegetationsgeschichte der Region von Michael Peters stellte hier auch Susanne Bischler (Paläoanatomie, Universität München) einige Ergebnisse ihrer Auswertungen der bei archäologischen Untersuchungen auf dem Petersberg gefundenen Tierknochen vor.

Die letzte Station auf dieser gelungenen Tagesexkursion war Reischenhart, Lkr. Rosenheim, Oberbayern, wo Sabine Früchtl (Vor- und Frühgeschichte, Universität München) zunächst die Methodik, und dann ausgewählte Ergebnisse der von ihr durchgeführten archäologischen Prospektion erläuterte.

Am vierten Tag der Tagung wurden die Vorträge zu Fallbeispielen fortgesetzt.

Renate Ebersbach (Prähistorische Archäologie, Universität Basel) stellte das von ihr entwickelte Ökosystem-Modell vor. Um dieses Modell bzw. einzelne Parameter hieraus zu testen, wandte sie ihre Ergebnisse auf real exsistierende Dörfer, die möglichst viele Ähnlichkeiten mit den von ihr untersuchten Seeufersiedlungen haben sollten, an. Wie sie hierbei aufzeigte, stammten sowohl Daten zur Erstellung des Modells als auch Beispiele, auf die sie das Modell anwandte, aus Nachbardisziplinen der Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie.

Kerstin Pasda (Archäozoologie, Jena) untersuchte die Tierknochenfunde von mehreren mittelalterlichen Fundstellen und interpretierte ihre archäozoologischen Ergebnisse mit Hilfe von historischen Quellen. Dabei arbeitete sie heraus, welche Tiere welchen sozialen Schichten als Fleischlieferanten dienten.

Im anschließenden Comment bezeichnete Matthias Untermann (Kunstgeschichte, Universität Heidelberg) das Vorgehen in diesen beiden Fällen als „prä-interdisziplinär“ oder „multimethodisch“.

Weitere Fallbeispiele wurden von Matthias Hardt (Geschichte, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Osteuropas, Leipzig) zur Getreideproduktion in der hochmittelalterlichen Germania Slavica und von Joachim Henning (Vor- und Frühgeschichte, Universität Frankfurt) zum Staffelsee-Urbar vorgestellt. Den Comment hierzu hielt Joachim Radkau (Geschichte, Universität Bielefeld).

Zwei weitere Bereiche, aus denen einzelne Arbeiten zu Mensch-Umwelt-Beziehungen vorgestellt wurden, waren zum einen die Hochalpen, zum anderen Nordeuropa. Dieter Schäfer (Hochgebirgsarchäologie am Institut für Geologie und Paläontologie, Universität Innsbruck) beschäftigte sich mit Hochgebirgsarchäologie im Waldgrenzenbereich Tirols und Benno Furrer (Volkskunde, Schweizerische Bauhausforschung Zug) stellte seine Ergebnisse zur Alpinen Stufenwirtschaft vor. Kommentiert wurden diese Vorträge von Hans-Rudolf Egli (Geographie, Universität Bern). Mit Nordeuropa beschäftigten sich Niels Lynnerup (Anthropologie, Universität Kopenhagen) in seinem Vortrag über die Normannen Grönlands, und Helge Salvesen (Geschichte, Universität Tromsö) mit seinen Studien zur Siedlungsentwicklung aus soziologischer, ökonomischer und ökologischer Sicht am Beispiel von Dörfern aus Jämtland, Norwegen, vom Hochmittelalter bis zur Moderne. Kommentiert wurden diese Vorträge von Felix Schmitt (HS&Z / Universität München).

In abschließenden Referaten hatten Vertreter verschiedener an historischer Umweltforschung beteiligter Fächer Gelegenheit, die Perspektiven und Möglichkeiten der eigenen Disziplin in diesem Forschungsfeld vorzustellen. Zu Wort kamen Winfried Schenk (Geographie, Universität Bonn) für die historische Geographie, Sebastian Brather (Ur- und Frühgeschichte, Universität Freiburg) für die Archäologie, Heide Hüster Plogmann (Archäozoologie, Universität Basel) für die Archäozoologie, Bernd Herrmann (Anthropologie, Universität Göttingen) für die Anthropologie und Hansjörg Küster (Botanik, Universität Hannover) für die Botanik. Dabei haben die Referenten durchaus die Ergebnisse der Diskussionen der vorangegangenen Tage aufgegriffen und die in dem Workshop entwickelten Möglichkeiten im Hinblick auf ihre Fächer beurteilt.
Den Abschluß des Workshops bildete eine ausführliche und intensive Schlussdiskussion unter der Leitung von Tom Bloemers (Archäologie, Universität Amsterdam).

Die sehr gelungene Tagung stand ganz in Zeichen eines Austausches zwischen verschiedensten Fächern und bot neben den im Programm vorgesehenen Diskussionen genügend zusätzlichen Raum für Gespräche. Besonders angenehm war das konstruktive Klima, das während des Workshops herrschte, und das es auch jüngeren Wissenschaftlern und Doktoranden ermöglichte, ihre Ideen und Meinungen in die Diskussionen einzubringen.

Die Publikation der Tagungsbeiträge und Comments ist in Vorbereitung.


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