Das andere Osteuropa – die 1960er bis 1980er Jahre. Dissens in Politik und Gesellschaft, Alternativen in der Kultur

Das andere Osteuropa – die 1960er bis 1980er Jahre. Dissens in Politik und Gesellschaft, Alternativen in der Kultur

Organisatoren
Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen
Ort
Bremen
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.06.2007 - 16.06.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Heidrun Hamersky, Universität Bremen; Ann-Kathrin Reichardt, Universität Bremen

Die komparative Erforschung des politischen Dissens und alternativer Kulturen in den Ländern Ost- und Ostmitteleuropas in der Zeit von Stalins Tod 1953 bis zu den „samtenen“ Revolutionen der Jahre 1989/91 rückt immer mehr in den Blickpunkt der Wissenschaft. Dissens und parallele Kulturwelten werden nicht mehr als Phänomene an sich und in den Grenzen eines Landes betrachtet, sondern die Korrelation von Gesellschaft und Dissens und die länderübergreifende Analyse treten in den Vordergrund. In diesen wissenschaftlichen Zusammenhang ordnete sich die von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen vom 15. bis 16. Juni 2007 veranstaltete internationale Konferenz über „Das andere Osteuropa – die 1960er bis 1980er Jahre. Dissens in Politik und Gesellschaft, Alternativen in der Kultur“ ein, deren Anspruch es war, die Geschichte des Dissens, der Bürgerrechtsbewegungen und der alternativen Kulturen in einen übergreifenden historischen Kontext einzuordnen und nach den Möglichkeiten einer vergleichenden kulturgeschichtlichen Forschung zu fragen.

Entsprechend formulierte WOLFGANG EICHWEDE (Bremen) als Direktor der veranstaltenden Institution seinen Eröffnungsvortrag. Von einer kurzen Betrachtung der Hauptrichtungen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Gesellschaften sowjetischen Typs in der westlichen politikwissenschaftlichen Forschung lenkte Eichwede den Blick auf die Gesellschaften selbst und ging besonders auf das konfliktreiche Verhältnis zwischen dem Anspruch der Dissidenten, die Bereiche von Subjektivität auszubauen und dem Rückzug der Bevölkerung in die Privatsphäre als einem systemstabilisierenden Faktor ein. An diesem Punkt müsse die Frage des Dissens diskutiert werden. Die Systemkritiker befänden sich in einer doppelten Frontstellung, nämlich in einer Auseinandersetzung mit den Systemen und mit den Gesellschaften und sie sähen in den Systemen wie in den Gesellschaften Anknüpfungspunkte für das, was sie programmatisch formulieren. Aus dieser Sichtweise resultierte die Aufforderung Eichwedes an die Konferenz, nicht über den Dissens und über die Systeme per se zu diskutieren, sondern einen Bezug zwischen systemischen Entwicklungen und der Kritik daran herzustellen. Fragestellungen nach den kulturellen Profilen, den Handlungsräumen in den einzelnen Gesellschaften sowie den Funktionsweisen der politischen Ordnungen sollten in den Vordergrund gerückt werden. Auf dieser Basis war die Konferenz in vier Panel gegliedert.

Das 1. Panel „Politische Systeme: Funktionsdefizite, Reformfragmente und Repressionsmuster“ widmete sich dem Versuch, die sowjetischen Ordnungen in ihrer Realität jenseits des Totalitarismusmodells zu beschreiben. Als Ausgangspunkt für die Behandlung dieser Thematik nahm KLAUS VON BEYME (Heidelberg) das sowjetische System in den Blick und referierte über dessen „Modernisierungszwänge und Modernisierungsblockaden“. Nach der Darstellung der Reformpolitik bis zur Perestrojka analysierte er die komplexen systembedingten Widersprüche und Defizite als Ursache dafür, dass die Reformen unter Gorbačev nicht zu einem reformierten System, sondern zu dessen Zerfall führten.

Anschließend fokussierte PETER REDDAWAY (Washington) in seinem Vortrag die sowjetische Politik gegenüber dem sowjetischen politischen Dissens und sprach über „Patterns in Soviet Policies towards Dissent: 1953-1988“. Die in den Jahren nach Stalins Tod etablierten politischen Parameter gegen den Dissens wurden im Wesentlichen bis in die späten 1980er Jahre angewendet, wobei es in Abhängigkeit von innen- und außenpolitischen sowie ökonomischen Faktoren immer wieder zu Erleichterungen bzw. Verschärfungen kam. Als Fazit einer kurzen Analyse dieser Faktoren kam Reddaway zu der Feststellung, dass die radikalen Veränderungen in der Politik gegenüber dem Dissens ab 1986 durch die Entwicklung ab Mitte der 1970er Jahre vorbereitet wurden, als eine relative Lockerung der Repressionspolitik die Hoffnung in der Gesellschaft weckte, dass einige grundlegende bürgerliche Freiheiten wenn schon nicht de jure, so doch wenigstens schrittweise de facto eingeführt werden könnten. Gorbačev musste, wollte er die sowjetische Wirtschaft und das kommunistische System erneuern und stärken, eine liberalere Politik gegenüber dem Dissens einschlagen. Die bemerkenswerteste Veränderung dabei war die Übernahme der Menschenrechtspolitik der Dissidenten in die offizielle Politik.

Exemplarisch für die unterschiedlichen Repressionsmuster, deren Wandel und ihren Einfluss auf die Herausbildung einer parallelen Kultur standen die Ausführungen von IVO BOCK (Bremen) zum „Institutionellen Wandel der Zensur: die UdSSR und die ČSSR in den 1960er bis 1980er Jahren“. Im Mittelpunkt standen die Veränderungen in den Kompetenzen und Kooperationsformen der verschiedenen Zensurinstanzen im Untersuchungszeitraum, in deren Ergebnis es zu einer immer stärkeren Dezentralisierung und Multiplizierung der Zensurinstanzen kam. Dies hatte zur Folge, dass vor allem in der Sowjetunion ein Kontrollsystem entstand, das für den Außenstehenden weitgehend undurchschaubar war, aber ungewollt Freiräume schuf, welche die Kunstschaffenden zu nutzen wussten. Diese Tatsache habe, so Bocks These, in Verbindung mit anderen außerhalb des kulturellen Bereichs zu suchenden Faktoren zur Pluralisierung der Kultur beigetragen.

Mit dem Vortrag von JIŘÍ PŘIBÁŇ (Cardiff) wurde der Blick schließlich direkt auf den politischen Dissens gelenkt, auf sein Vermächtnis in den ehemals kommunistischen Ländern und seinen Einfluss auf die postkommunistische Transformation des Politik- und Rechtssystems in den 1990er Jahren. Die Kombination von legalistischen Argumenten und der Einforderung der Menschenrechte bildete eine fundamentale Kritik des kommunistischen Systems und wurde zur strukturellen Voraussetzung der postkommunistischen Transformation des Verfassungs- und Rechtswesens, außerdem symbolisierte sie die Tugenden der Zivilgesellschaft und einer liberalen demokratischen und auf Rechtsstaatlichkeit gegründeten Politik. Dabei wäre wichtig zu erkennen, dass die Strategie des politischen Dissens trotz seines Rekurses auf gesetzlich verankerte Rechte und Freiheiten nicht vorrangig normativ, sondern eher performativ war, indem Alternativen zum kommunistischen System aufgezeigt werden sollten.

Der Frage nach der Bindungskraft der sozialen Ordnungen, nach den vielfachen Arrangements, den Ritualen und Vorzügen der Integration, aber auch nach den Bruchstellen, die zu Abweichungen von den vorgegebenen Mustern oder zu bewussten Widerstandshandlungen führten, wurde im 2. Panel unter der Überschrift „Anpassung und Widerspruch in sozialistischen Gesellschaften“ nachgegangen. Mit dem Phänomen der Anpassung als Schlüsselkategorie für das Verständnis der Regime sowjetischen Typs befasste sich BORIS DUBIN (Moskau) in seinem Referat „V semidesjatye i potom: sovetskaja Rossija kak adaptirujuščijsja sozium“. Im Zuge grundlegender theoretischer Überlegungen machte Dubin deutlich, dass Anpassung im Alltag der sozialistischen Systeme zum Maßstab der Bewertung des eigenen Handelns und der Handlungen anderer wurde. Er charakterisierte die 1970er Jahre als einen Zeitraum, in dem Anpassung nicht von Angst vor massivem Terror, sondern angesichts relativ stabiler ökonomischer und sozialer Bedingungen von Angst vor einem Rückfall in Nachkriegsbedingungen gesteuert wurde. Diese Anpassung auf allen gesellschaftlichen Ebenen verhinderte nach Dubin die Herausbildung selbstständiger Eliten und Institute sowie universaler Rechtsnormen – ein Mangel, der bis heute wirkt – und versperrte damit den Weg für eine Weiterentwicklung des Soziums und für einen erfolgreichen Generationenwechsel. Dies habe zur Entstehung kompensatorischer bzw. „paralleler Realitäten“ geführt, zur Unterscheidung von öffentlichem und privatem Leben sowie zur Bildung des kulturellen und politischen Undergrounds.

An die Überlegungen Dubins knüpfte MALTE ROLF (Berlin) mit seinem Vortrag „Weiße Hemden zum Ersten Mai! Kulturelle Konventionen und unkonventionelle Kulturen in der Nachkriegssowjetunion“ an und ging der Frage nach, inwieweit innerhalb der starren Grenzen der geltenden kulturellen Konventionen Freiräume für abweichende Kulturpraktiken blieben. Er tat dies anhand des Beispiels des sowjetischen Massenfestes und illustrierte seine Ausführungen mit Fotos aus der Stalin-Ära und den 1970er Jahren. Hieran zeigte er eine Entwicklung auf, die sich von der starren Annahme der durch die Partei sanktionierten Symbole und Praktiken bis zu Formen der individuellen Aneignung kultureller Konventionen in der Zeit nach 1953 vollzog und gelangte so zu der These, dass innerhalb der sowjetischen Standardkultur, die Herrschaftsmittel und Propagandamedium war, in der kulturellen Praxis Räume für eigensinnige und subjektive Aneignung entstanden.

Mit dem Widerspruch in den sozialistischen Gesellschaften befassten sich die Beiträge der zweiten Hälfte des Panels. Zunächst sprach DETLEF POLLACK (Frankfurt/Oder) über „Oppositionelle und politisch alternative Gruppierungen in der DDR“ und untersuchte deren Verhältnis zu Parteireformern, Ausreisewilligen, zur Kirche und zur Bevölkerung insgesamt. Als politische Opposition definierte er die Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre unter dem Dach der evangelischen Kirche entstandenen Friedens-, Umwelt, Menschenrechts-, Frauen- und Dritte-Welt-Gruppen. Pollack beschrieb die jeweils spezifischen Faktoren, welche die Beziehungen dieser oppositionellen Gruppierungen zu den Reformern in der SED, zu den Ausreisewilligen und zur Kirche prägten, arbeitete Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der oppositionellen Praxis und Zielsetzung heraus. Das Verhältnis der oppositionellen Gruppierungen zur Bevölkerung insgesamt wurde als besonders distanziert beschrieben. Zwischen den politischen Bestrebungen der oppositionellen Gruppierungen und den privatistischen Anliegen der Bevölkerungsmehrheit habe es eine große Kluft gegeben, die bis zum Ende der DDR nicht überwunden werden konnte. Dies sei einer der Gründe gewesen, weshalb die DDR-Opposition nach dem Umbruch so schnell an gesellschaftlicher Relevanz verlor.

Einen komparativen Ansatz in der Untersuchung widerständigen Verhaltens verfolgte TOMÁŠ VILÍMEK (Prag), indem er über „Wege in die Konfrontation mit den Regimen: ČSSR und DDR-Dissens im Vergleich“ referierte. Er stützte sich dabei auf Ergebnisse der biographischen Forschung. Neben den Einflüssen aus Familie und Erziehung sowie den Folgen und Erfahrungen wichtiger Ereignisse der Welt- und der Landesgeschichte hätten dabei die Beeinflussung durch Freunde und das Gesetz von Aktion und Reaktion – das Regime kriminalisierte jeden Versuch einer kritischen und unabhängigen Meinungsäußerung, was wiederum auf das Verhalten der Oppositionellen zurückwirkte – im Vordergrund gestanden. Außerdem ging Vilímek auf subjektive Motivationen für widerständiges Verhalten ein. Auf der Grundlage bisheriger Forschungsergebnisse könnten viele Ähnlichkeiten in den untersuchten Bereichen, die als ursächlich für den Weg in den Dissens in beiden Ländern gelten, konstatiert werden. Wesentliche Unterschiede beständen vor allem in den Formen widerständigen Verhaltens und seien durch unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse und historische Voraussetzungen bestimmt.

Das 3. Panel „Pluralisierung öffentlicher Räume“ untersuchte vor dem Hintergrund eines sich auflösenden einheitlichen öffentlichen Raums und des Zerfalls einer verpflichtenden Ideologie die Strukturen und Kommunikationsformen in den offiziellen und inoffiziellen Sphären. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Pluralisierungsbestrebungen innerhalb der politischen Eliten sowie den unabhängigen Teilöffentlichkeiten und Grauzonen im Bereich der Samizdat-Kulturen. Ausgehend von der These einer „Vorsichtigen Pluralisierung der politischen Meinung in der Sowjetunion seit den 1960er Jahren“ skizzierte EGBERT JAHN (Mannheim) verschiedene Phasen der Differenzierungen der politischen Meinungsbildung innerhalb der Eliten. Anhand von empirischen Untersuchungen der veröffentlichten Meinung kam Jahn zu der Feststellung, dass eine kritische Selbstreflexion der Gesellschaft in politischer Hinsicht nicht stattgefunden habe. Lediglich über kontroverse Bewertungen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung habe eine Differenzierung des politischen Meinungsspektrums stattgefunden mit unterschiedlichen Haltungen zur sowjetischen Außenpolitik. Die mit der Perestrojka einsetzende Differenzierung der offiziellen Meinung in einen konservativ kommunistischen Zweig, in Zentristen und Radikalreformer brachte zwar, so Jahn, eine individuelle Meinungspluralität, das Fraktionsverbot in der Partei aber blieb bestehen. Im historischen Kontext der Entpluralisierung der kommunistischen Gesellschaften in den 1920/30er Jahren bewertete Jahn den Prozess seit den 1960er Jahren als eine schrittweise Re-Legalisierung von politischer Pluralität und die Perestrojka als einen gescheiterten Versuch einer konstitutionellen kommunistischen Einparteienherrschaft.

Die bei Jahn ausgeklammerte Frage nach der Relevanz der Dissidenten für die Herausbildung einer unabhängigen Öffentlichkeit bildete dagegen im Vortrag von JAN PAUER (Bremen) „Dissens als Öffentlichkeit in der DDR und Tschechoslowakei in den 1960er und 1980er Jahren“ das Hauptargument. Pauer hob das Ringen um Öffentlichkeit als eine der zentralen Rahmen- und Handlungsbedingungen der Dissidenten hervor und setzte sich kritisch mit der Frage nach der Anwendbarkeit des von Habermas geprägten Begriffs der Öffentlichkeit auseinander. Politische Öffentlichkeit in Diktaturen diene primär der Herrschaftssicherung, wesentliche Merkmale der liberal-bürgerlichen Öffentlichkeit wie die allgemeine Zugänglichkeit, ihr Laiencharakter und die Existenz eines kritischen Publikums fehlten dort. Die Symbiose von Geheimhaltung und öffentlicher Inszenierung gelte als weiteres Strukturmerkmal der sowjetisierten Öffentlichkeiten. Ebenso sei die für eine bürgerliche Öffentlichkeit konstitutive Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre in den kommunistischen Diktaturen ideologisch aufgehoben. Es waren die Dissidenten, so Pauer, die aus dieser politischen Schizophrenie zwischen privater Überzeugung und öffentlicher Anpassung heraustraten. Im zweiten Teil seines Vortrags zeigte Pauer an zahlreichen Beispielen die Unterschiede der sowjetisierten Öffentlichkeit in der DDR und in der ČSSR, wobei er auf die unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu unabhängigen Informationen und die gesellschaftliche Stellung der Kirchen in beiden Ländern verwies. Im Ergebnis schloss Pauer damit, dass eine bloß normative und dichotomische Auffassung von offizieller und unabhängiger Öffentlichkeit weder die Wandlungsprozesse in der totalitären Öffentlichkeit noch die wechselseitigen Abhängigkeiten zu erfassen vermag.

ANN KOMAROMI (Toronto) ging in ihrem Vortrag auf die funktionale Wechselbeziehung von „sowjetischen Samizdat-Zeitschriften und öffentlichem Raum“ (von 1956 bis 1986) ein. Wie zuvor Jan Pauer, setzte sie mit einer kritischen Betrachtung des Begriffs ‚öffentlich’ ein. Unter Zurückweisung der Habermas’schen Öffentlichkeitskategorien, die sie als abstrakt und universal bezeichnete, stellte sie die These auf, dass der Samizdat noch nicht als Manifestation einer kritischen Öffentlichkeit, sondern als deren Voraussetzung zu fassen sei, die sich zuerst im privaten Raum entwickeln müsse. Darauf aufbauend schlug Komaromi vor, sich für die Untersuchung des sozialen und textuellen Phänomens des Samizdat an Pierre Bourdieus Feld-Begriff zu orientieren. Dabei misst sie der spezifischen Materialiät der Samizdat-Texte große Bedeutung bei. Die Berücksichtigung der Kategorie der Materialität erlaube es, das Gemeinsame jenseits der Vielfalt an ideologischen Positionen im Samizdat zu bestimmen. Komaromis semiotische Analyse von Samizdat-Zeitschriften deckte zudem explizit konkurrierende und aufeinander bezogene Merkmale auf, wobei Bezugnahmen auf Samizdat-Ideologien der Feld-‚Spieler’ untereinander erkennbar sind. Zudem stellt sie fest, dass die Kommunikation primär mit dem westlichen, politischen oder ökonomischen, nicht aber mit dem offiziellen sowjetischen Feld stattfindet. Komaromi betrachtet daher den Samizdat in der Sowjetunion als ein im Wesentlichen privates Phänomen, das ohne Einflussmöglichkeiten auf die Staatspolitik blieb. Ein weitaus größeres Potential an öffentlicher Einflussnahme schreibt sie dagegen den Publikationen des Tamizdat zu.

Ausgehend von der These, dass die Ausbildung und Begründung eines Kanons stets mit Werturteilen einhergehe und in einem Zusammenspiel von soziokultureller, diskursiver und institutioneller Macht konsolidiert werde, untersuchte WOLFGANG KISSEL (Bremen) „Die Rolle des Samizdat bei der Auflösung des sozrealistischen Kanons“. Der in den 1930er Jahren gewaltsam auferlegte Kanon des Sozrealismus bedeute einen tiefen zerstörerischen Eingriff in das kulturelle Gedächtnis der russisch-sowjetischen Gesellschaft. Allerdings sei es den staatlichen Institutionen selbst auf dem Höhepunkt des Terrors (1936/38) nicht gelungen, die totale Kontrolle über das Literatursystem zu erlangen. Ein gewisses Potential an Heterodoxien habe die Stalinära überlebt und seit 1953 die Erosion des sozrealistischen Kanons eingeleitet. Die Gegenkanonbildung (1953-1970) sei von dem Prozess der Entstehung von Samizdat und Tamizdat begleitet gewesen. Dabei habe sich das Subsystem des Samizdat als komplementäre Größe des sowjetischen Literatursystems (Gosizdat) herausgebildet. In seinen folgenden Ausführungen definierte Kissel den Gegenkanon als Schlüsselbegriff, um die Evolution des Samizdat zu beschreiben. Zum Kern des Gegenkanons zählte Kissel Solženicyn, Šalamov, N. Mandel’štam, E. Ginzburg; hinzu kamen in den 1970er Jahren, unter Einwirkung des Tamizdat, auch andere, unter Stalin liquidierte Autoren, z.B. O. Mandel’štam.

Um die Fragen nach transkulturellen Vergleichsmöglichkeiten der ost- und ostmitteleuropäischen Widerstandsbewegungen und Gegenkulturen einerseits und um ihre Verortung und geschichtliche Wirkung in historischer Perspektive andererseits gruppierten sich die Vorträge des 4. Panels. In ihrem Beitrag „’Lernen’ durch Sozialbewegung? – Die Solidarność als ein ’symbolischer Durchbruch’ aus heutiger Perspektive“ fragte MELANIE TATUR (Frankfurt a.M.) , inwieweit der von der Bewegung der Solidarność getragene „symbolische Durchbruch“ als nachhaltig begriffen werden kann. Der Begriff des „symbolischen Durchbruchs“ impliziert die Herausbildung von Deutungsmustern und Identitäten, die eine neue Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nach 1980 auslösten. Differenziert nach mittelfristiger und langfristiger Nachhaltigkeit, unter Berücksichtigung von inhaltlichen und formalen Merkmalen der durch die Sozialbewegung geschaffenen Symboliken, untersuchte Tatur sich daraus ergebende Lernprozesse am Beispiel von Zielen und Diskursen der intellektuellen Führer der Sozialbewegung, der Massenmobilisierung der Arbeiter wie auch der Politisierung von Lebensstilen, die durch die Solidarność ausgelöst worden sei.

Die Politologin BARBARA FALK (Toronto) entwarf in ihrem Vortrag „Between Past and Future: Central European Dissent in Historical Perspective“ eine Agenda für eine multi- und interdisziplinäre Dissensforschung. Bis auf wenige Ausnahmen habe sich die politologische Forschung bislang auf die Frage konzentriert, wie es zu den plötzlichen Revolutionen 1989/91 in Ost- und Ostmitteleuropa kommen konnte. Die einfachen Deutungsmuster, die die Rolle der Dissidenten beim Fall der kommunistischen Regime herausstellen, gelte es jetzt durch neue komplexere Ansätze zu erweitern. Vor diesem Hintergrund schlug Falk drei Untersuchungsbereiche vor: Erstens die Verortung des Dissens der 1970/80er Jahre in der Tradition politischer bzw. philosophischer Theorien; dabei bieten sich im Hinblick auf die Frage von politischer Signifikanz privater Entscheidungen sowohl Feministische Theorien als auch die Queer-Theorie an. Zweitens die Situierung des Dissens im Kontext der Forschungen zu Gewaltlosigkeit und drittens - mit Blick auf die gewaltlosen Machtwechsels 1989/91- die Analyse des Phänomens im Rahmen von Revolutionstheorien.

Einen Überblick der neueren, meist anthropologischen oder auf der Methode der oral history basierenden Arbeiten russisch-amerikanischer Historiker gab BENJAMIN NATHANS (Philadelphia). Als Leitfrage formulierte er, wie man das Entstehen des Dissens in diesen Gesellschaften erklären und wie man die Dissidenten zeitlich und räumlich kontextualisieren könne. Die Beantwortung dieser Frage habe in der amerikanischen Dissensforschung zu einem Paradigmenwechsel geführt. Während die ältere Forschung auf einer binären Opposition von Dissens als Antipode staatlicher Ideologie und Praxis beruhe, zeigen die Arbeiten der jüngeren Wissenschaftlergeneration, dass die scharfe Trennung zwischen offiziell und inoffiziell nicht mehr zu halten sei. Vielmehr stellen sich nun Fragen nach der Dynamik und Reichweite von Veränderungsprozessen sowohl auf vertikaler als auch horizontaler gesellschaftlicher Ebene. Nathans besprach im Folgenden die Arbeiten von Vladimir Kozlov zum Phänomen der „kramola“ (dt: Rebellion, Empörung), Sergej Oushakins Studie zur rhetorische Praxis der Dissidenten als mimetischen Akt des sowjetischen Systems und Alexej Yurchaks kulturgeschichtliche Studie „Everything Was Forever, Until It Was No More“. Wie die neuen Forschungsansätze zeigen, so Nathans, komme man nicht umhin, die Dissidenten in der Geschichte der sowjetischen Gesellschaft zu kontextualisieren. Die wesentliche Frage dabei werde sein, ob die bisherige Ghettoisierung der Dissidenten aufgehoben werden könne oder ob es zu einer erneuten Marginalisierung und Ausgrenzung im historischen Kontext der sowjetischen Gesellschaft komme.

In seinem Fazit resümierte Wolfgang Eichwede (Bremen), dass es der Konferenz gelungen sei, Verbindungslinien zwischen den Erfahrungen im Dissens und den Entwicklungen aufzugreifen, die sich in den Systemen vollzogen haben. Wie die Vorträge belegten, vollziehe sich tatsächlich ein Paradigmenwechsel. Die Dichotomie sei aufgebrochen und durch komplexere, stark kulturell geprägte Sichtweisen auf die Geschichte der 1960er bis 1980er Jahre abgelöst worden. Dennoch müsse aber die Grundlagenforschung, insbesondere auf vergleichender Ebene intensiver vorangetrieben werden. Einen Impuls dafür soll der für 2008 geplante Konferenzband geben.