Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus: die Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext

Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus: die Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext

Organisatoren
Collegium Carolinum
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.11.2007 - 25.11.2007
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Von
Christiane Brenner, Collegium Carolinum

Ende der 1960er-Jahre besuchte Fritz Beer, der im März 1939 vor den Nationalsozialisten aus der Tschechoslowakei geflohen war, sein Heimatland zum ersten Mal wieder. Er kam als britischer Journalist, voller interessierter Anteilnahme an dem reformsozialistischen Experiment und zugleich, wie er selbst schrieb, mit dem Blick eines Beobachters, der das Land „und seine Gesellschaft noch oder wieder mit den Augen betrachten“ konnte, „mit denen seine heutigen Herrscher und ich sie vor dem Krieg als Vision gesehen hatten.“1 Die Bilanz mehrerer Aufenthalte in Prag und zahlreicher Gespräche mit Funktionären, Künstlern und einfachen Bürgern führte Beer zu dem Schluss: „Die Zukunft funktioniert noch nicht“. Ein niederschmetterndes Urteil, schließlich leitete kein anderes säkular begründetes politisches System seine Legitimation in einem so hohen Maß von dem Versprechen auf eine bessere Zukunft ab wie der Staatssozialismus. Die tiefe Krise, in die die Tschechoslowakei in den 1960er-Jahren geriet und auf die die Reformer zu reagieren suchten, war folglich auch eine Krise der Zukunftsantizipation. Vor allem aber stellte sie die Mechanismen in Frage, die seit 1945 geschaffen worden waren, um das Land Schritt für Schritt zum Sozialismus und schließlich zum Kommunismus zu führen: die wissenschaftlich fundierte Planung für alle Bereiche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens.

Mit Zukunftsvorstellungen und staatlicher Planung in der Tschechoslowakei befasste sich die diesjährige Bad Wiesseer Konferenz des Collegium Carolinum. Vor einem breiten zeitlichen Horizont, der vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Staatssozialismus reichte, wurde der Frage nachgegangen, welche Zukunfts- und Zeitvorstellungen mit dem sozialistischen Projekt verknüpft waren, wie diese in Planungsdiskussionen reflektiert und in Planungsszenarien übersetzt wurden. Es ging also nicht nur um konkrete Produktionsziffern, wie sie in Plänen unterschiedlicher zeitlicher Reichweite vorgelegt wurden, sondern auch um die propagandistische Funktion und mitunter mythische Wirkung des Plans im Sozialismus. Gerade in Hinblick auf die Zeit nach 1968 und die „Mühen der Ebenen“, die die 1970er- und 1980er-Jahre bestimmten, rückten neben Reformdiskussionen aber auch neue, ex negativo formulierte Zukunftsszenarien in das Blickfeld; denn auf die Erosion des Utopischen folgte neben den kleinen Glücksversprechen des modernen sozialistischen Konsumismus auch eine zunehmende Verarbeitung von Bedrohungspotentialen in der Folge von Ressourcenknappheit, Umweltzerstörung und atomarer Hochrüstung.

In der einführenden Sektion steckten GEREON UERZ (Essen), STEFAN PLAGGENBORG (Bochum) und MARTIN SCHULZE WESSEL (München) das Untersuchungsfeld ab und schufen damit den weiteren Referenz- und Vergleichsrahmen für die sozialistische Tschechoslowakei: Uerz führte die Fähigkeit zur Vorstellung von Zukunft und das Verlangen, diese zu gestalten und zu planen, als anthropologische Konstante vor. Zu allen Zeiten, so Uerz, hätte die Vision einer „guten Zukunft“ Menschen mobilisiert und dazu gedient, schlechte Gegenwart zu kompensieren und gesellschaftliche Inklusion und Exklusion zu organisieren. Doch erst in der Moderne, im Zuge der allmählichen Emanzipation des Zukunftsdiskurses von seinen religiösen Wurzeln, habe sich ein konstruktivistisches Zukunftsverständnis etablieren können. Seit der Französischen Revolution lägen die „Orte der Zukunft“ nicht länger in utopischen Endzuständen, sondern gewissermaßen in der Hand der Menschen selbst. Marx’ Kritik am Utopismus der frühen Sozialisten habe diese Wende zum aktiven Kampf um eine Zukunft, die als unmittelbar bevorstehende verstanden wurde, zugleich bestätigt und forciert.

An diese Beobachtung eines neuen Zeitverständnisses knüpfte Plaggenborg mit seinen Ausführungen über den allmählichen Verlust der Zukunft in der Sowjetunion direkt an. Hätten die Bolschewiki während der ersten Fünfjahrespläne in dem Gefühl extremer Beschleunigung gelebt, getrieben von dem Wunsch, die einzelnen Etappen auf dem Weg zur sozialistischen Zukunft möglichst abzukürzen und die Gegenwart im Zeitraffer zu überwinden, lasse sich seit Mitte der 1930er-Jahre ein Prozess der „Verstetigung der Gegenwart“ beobachten. Das dynamische Zeitverständnis sei von einem zyklischen abgelöst worden; immer neue Wortkreationen für die Beschreibung des Erreichten und seiner Standortbestimmung in Bezug auf das Ziel hätten dieses Phänomen einer „vergangenen Zukunft“ ebenso angezeigt wie die Wiederkehr der Vergangenheit, die sich in allen späten sozialistischen Gesellschaften in Form eines gewachsenen Geschichtsbewusstseins niedergeschlagen habe.

Schulze Wessel warf die Frage auf, was der Transfer des sowjetischen Zeitverständnisses auf ostmitteleuropäische und speziell tschechoslowakische Zukunfts- und Planungsvorstellungen nach 1945 bedeutete. Er warb dafür, bei allen Ähnlichkeiten der Mechanismen wie auch der Inszenierung und Semantik des sozialistischen Planwesens nicht vorschnell „Sowjetisierung“ zu diagnostizieren und von monolithischen Gesellschaften, Herrschaftsapparaten und Wissenschaftslandschaften auszugehen. Vielmehr gelte es neben den Unterschieden, die Schulze Wessel unter anderem in einer auffallend starken Präsenz von Vergangenheit in den Legitimationsfiguren wie Zukunftsdiskursen der ČSR verortete, auch die endogenen Wurzeln und nationalen Kodeterminanten des Transformationsprozesses seit 1945 zu berücksichtigen. Charakteristisch für die Tschechoslowakei seien neben der Rezeption der Futurologie und einer empirisch gestützten Diagnostik auch eine frühe Infragestellung von Planung und die skeptische Abwendung von der Utopie und ihren Machbarkeitsvisionen gewesen.

Der Anspruch auf radikale Veränderung schlug sich, so ULF BRUNNBAUER (Berlin) in seinem Kommentar zur folgenden Sektion „Der neue Mensch“, in einem dezidiert interventionistischen Ansatz in der Gesellschafts- und Sozialpolitik nieder. „Homogenisierung“ fungierte dabei als Leitvorstellung. CELIA DONERT (Florenz) zeichnete am Beispiel der tschechoslowakischen Politik gegenüber den Roma von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren das geplante Verschwinden dieser ethnischen Gruppen nach, das – je nach Klassifikation in entsprechende Kategorien der angenommenen Integrationsfähigkeit – durch Assimilation, „Verbesserung über Erziehung“ und repressiv-eugenische Maßnahmen herbeigeführt werden sollte. Auch in der Grenzlandpolitik galt die Überwindung von Differenz, wie MATĚJ SPURNÝ (Prag) aufzeigte, als Grundbedingung für die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft. Das Argument, mit dem die Politik der de facto multinationalen Grenzlandgesellschaft begegnete, war dabei nicht unbedingt nationalistisch, vielmehr galt das Nationale als Residuum einer überkommenen Zeit und als gegenläufig zur sozialen Transformation. Ging es in den ersten beiden Beiträgen um die Beseitigung von als abweichend Verstandenem, präsentierte MARTIN FRANC (Prag) in seinem Vortrag über den Biologen Ivan Málek, eines glühenden Anhängers der Theorien Lysenkos und Mičurins, biomedizinische und -politische Visionen für eine Zukunft, in der alle Menschen einer Gesellschaft durch optimale Lebensbedingungen die bestmöglichen Entfaltungsmöglichkeiten erhalten sollten.

Die folgende Sektion war „Großprojekten des Sozialismus“ gewidmet. ANNA BISCHOF (München/Prag) diskutierte am Beispiel der Uranminen von Jáchymov, deren Nutzung sich die UdSSR bereits Ende 1945 in einem Vertrag mit der Tschechoslowakei gesichert hatte, die sich wandelnden Zukunftsvorstellungen und -hoffnungen der tschechoslowakischen politischen Eliten und gelangte zu der These, dass in der zeitgenössischen Perspektive wirtschaftliche Argumente eine vorrangige Rolle spielten. Dennoch war Jáchymov ein Tabuthema. Ganz anders die folgenden „Großprojekte“, die in ihrer Zeit mit gewaltigem propagandistischen Aufwand in Szene gesetzt wurden: STEFAN ALBRECHT (Mainz) stellte das ehrgeizige Luftfahrtprogramm der Tschechoslowakei vor, das seit den späten 1950er-Jahren von der ökonomischen und politischen Realität des Landes eingeholt wurde; IVAN JAKUBEC (Prag) sprach über die Planung der Verkehrsinfrastruktur seit 1945. ULRICH BEST (Chemnitz) schließlich konzentrierte sich mit dem grenzüberschreitenden „Sojus-Energieprojekt“ auf die 1970er- und 1980er-Jahre. In einer reich bebilderten Präsentation führte er die visuelle Umsetzung von Technik und Zähmung der Landschaft, Völkerfreundschaft und Zusammenarbeit im RGW, Arbeit und Männlichkeit vor, kam aber auch auf die Realität hinter diesen immer gleichen Bildern und die Konkurrenz von Visionen zu sprechen.

In seinem Kommentar hob MARTIN GEYER (München) zum einen darauf ab, dass die heutigen Narrative über den Sozialismus primär von dessen Ende und Scheitern her strukturiert seien, was den Blick auf die Perspektiven und Erwartungshorizonte der Zeitgenossen, nicht selten aber auch auf die reale Wirkung politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen in ihrer Zeit verstelle. Zum anderen regte er an, „Orte der Zukunft“ und „Orte der Moderne“ herauszuarbeiten, an denen die Brüche mit der Vergangenheit wie die Traditionslinien, aber auch ost-westliche Konvergenzen trennschärfer diskutiert werden könnten.

Den Samstagmorgen eröffneten JAROSLAV KUČERA (Prag) und JAROMÍR BALCAR (München) mit einem gemeinsamen Referat über die wirtschaftliche Umgestaltung, die die Tschechoslowakei zwischen Kriegsende und den frühen 1950er-Jahren durchlief. Der gängigen Anschauung, in der Volksdemokratie der Jahre 1945 bis 1948 sei intensiv nach einem eigenständigen Wirtschaftsmodell – so zu sagen einem „dritten Weg“ mit Elementen wirtschaftlicher Demokratie – gesucht worden, der unter sowjetischem Druck habe aufgegeben werden müssen, setzten sie die These von einer Entwicklungslogik hin zur Planwirtschaft entgegen: Bereits mit dem Entschluss zur umfassenden „Nationalisierung“, vor allem aber durch den 1946 verabschiedeten Zweijahresplan für die Wirtschaft und dem ab 1947 energisch vorangetriebenen Strukturwandel, argumentierten Kučera und Balcar, seien die Weichen in Richtung einer zentralistischen Planwirtschaft gestellt worden. Die Konzentration der Produktionsmittel und der Entscheidungsgewalt in den Händen des Staates habe einen „Dominoeffekt der Planung“ ausgelöst. Auch die Möglichkeiten, auf die Probleme zu reagieren, die sich etwa aus der Verschiebung der Prioritäten vom Wiederaufbau der Wirtschaft zum Aufbau einer Schwerindustrie und zu der Vernachlässigung der Konsumgüterindustrie ergeben hätten, seien in der Folge im Wesentlichen auf die aus der UdSSR bekannten Mittel reduziert gewesen. Allein von „Sowjetisierung“ oder „Selbstsowjetisierung“ zu sprechen, greife aber, so Kučera und Balcar, auch in diesem Fall zu kurz, vielmehr gelte es, die strukturellen Veränderungen während der deutschen Besatzung in die Betrachtung einzubeziehen. Erst in den 1950er-Jahren, in der Folge zahlreicher Rückschläge und dauerhaften Mangels, hätten kommunistische Wirtschaftspolitiker der Hoffnung angehangen, die Krise überwinden zu können, wenn man nur alles „wie die Sowjets“ mache.

Parallelen, Wechselwirkungen und Unterschiede in der sowjetischen und tschechoslowakischen Reformdiskussion der Spätphase des Sozialismus arbeitete MICHAL PULLMANN (Prag) in seinem Beitrag heraus. Pullmann spitzte das Ergebnis dieses Vergleichs auf die Feststellung zu, in den frühen 1980er-Jahren hätte die unter Schlagwörtern wie „Intensivierung“ geführte Reformdebatte systemstabilisierend gewirkt, weil die ideologische Figur des „entwickelten Sozialismus“ noch ausreichende integrative Kraft gehabt habe. Als diese ab Mitte der 1980er-Jahre verloren ging, habe die Reformdebatte – ohne dass sie einen Paradigmenwechsel gebracht hätte – die zentrifugalen Tendenzen unterstützt.

In seinem Kommentar fragte MICHAL KOPEČEK (Prag), ob es zielführend sei, von der Existenz zweier Modelle – eines planwirtschaftlich-sowjetischen und eines marktwirtschaftlichen nach westlichem Muster – auszugehen, oder ob nicht bereits über personelle Kontinuitäten aus der Zeit der Ersten Republik Hybride vorgezeichnet gewesen seien, schließlich seien auch im Westen ganz unterschiedliche Ausprägungen des Kapitalismus entstanden. Die Diskussion konzentrierte sich in der Folge sehr stark auf die Faktoren, die in der Transformationsphase nach 1945 in Richtung des sowjetischen Typs von Planung gedrängt und die in der Spätphase das Spektrum an Problemlösungen beschränkte hatten – und damit insbesondere auf die politischen Rahmenbedingungen. Aufgenommen wurde aber auch Stefan Plaggenborgs Anregung, das Ziel der Homogenisierung, das eingangs als wichtige Zielvorstellung der Gesellschaftsplaner charakterisiert worden war, als Leitmotiv von sozialistischer Planung generell zu diskutieren.

Die folgenden vier Beiträge galten Zukunftsvorstellungen und Planungen im Bereich von Wissenschaft, Kunst und Kultur. XAVIER GALMICHE (Paris) illustrierte die literarische Umsetzung der Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft und konstatierte am Beispiel verschiedener Aufbauromane eine starke „Angst vor dem Erbe“, las die von ihm vorgestellte sozialistisch-realistische Literatur aber auch als „existentielle Planung“ für die Regeneration der Gesellschaft nach der Katastrophe der Besatzung und des Zweiten Weltkriegs. JIŘÍ KNAPÍK (Opava) berichtete über die Kulturhausbewegung nach 1945, ein Programm zur „kulturellen Verbesserung“ des Landes, bei dem Formen des industriellen Produktionismus auf die Kultur übertragen wurden, das aber letztlich am Primat der Ökonomie und der politischen Kontrolle scheiterte. Auch BLANKA KOFFER (Berlin), die die Fünfjahrespläne für die gesellschaftswissenschaftliche Forschung der Akademien der Wissenschaften der DDR und der Tschechoslowakei verglich, fragte nach den verbleibenden Handlungsspielräumen, nachdem die Ziele und Rahmenbedingungen der Forschung an höchster Stelle definiert worden waren. Von dem zeitraubenden bürokratischen Aufwand, der den Wissenschaftlern auferlegt wurde, fühlte sich nicht nur der Kommentator der Sektion, PETER BUGGE (Århus) an die eigene Arbeit im Zeichen der geforderten Ökonomisierung und Praxisrelevanz von Forschung und Lehre erinnert. CHRISTIAN DOMNITZ (Potsdam/Mainz) schließlich ging der geplanten Europa-Publizistik in den 1980er-Jahren nach, in der sich Blätter wie die Kulturzeitschrift der KPTsch „Tvorba“ aufgefordert sahen, auf den westeuropäischen Einigungsprozess und die Schlussakte von Helsinki zu reagieren. Eine zentrale Frage der Diskussion war, inwiefern Kultur und Wissenschaft wirklich mobilisierende Wirkung entfalten konnten, indem sie attraktive Zukunftsvisionen vermittelten; welche Segmente der Gesellschaft erreicht werden sollten und auch erreicht wurden und welche Diskurse innerhalb eines kleinen Kreises der Parteielite selbstreferentiell waren, ohne dass das von der Partei als Defizit empfunden worden wäre.

Am letzten Konferenztag ging es von den Fallstudien noch einmal zurück zu den Ausgangsfragen. Zunächst charakterisierte BEDŘICH LOEWENSTEIN (Berlin) in großen Linien die entscheidenden Triebkräfte der Russischen Revolution und der Entwicklung der frühen Sowjetunion, wobei er den großen Unterschied dieser Situation zum „Jahr null der tschechoslowakischen Geschichte“ betonte. Doch konstatierte er eine merkliche Schwäche der tschechoslowakischen Nachkriegsgesellschaft und vor allem ihrer politischen Elite bei der Abwehr von entdifferenzierenden Gesellschaftsvorstellungen, die er als das Utopiesurrogat der Jahre zwischen 1945 und 1948 interpretierte.

Die Schlussdiskussion leiteten CLAUDIA KRAFT (Erfurt), PAVEL KOLÁŘ (Potsdam) und CHRISTOPH BOYER (Salzburg) mit Impulsstatements ein, in denen unterschiedliche Aspekte des Tagungsthemas, aber auch Leerstellen der Diskussionen der vergangenen zwei Tage zur Sprache kamen. Claudia Kraft fragte noch einmal nach dem sich wandelnden Zeitverständnis und den Orten, an denen im Sozialismus „Zukunft gemacht“ wurde. Das verlangsamte Lebensgefühl der 1970er-Jahre in einem für alles zuständigen Staat – mitnichten Phänomene allein der realsozialistischen Gesellschaften – sei nicht zuletzt auch eine Reaktion auf die wachsende Komplexität der Gesellschaft gewesen. Krafts Hinweis auf die Punk- und „No future“-Bewegung, die sich auch im Osten verbreitet habe, nahm Pavel Kolář auf und verwies auf die parallel existierenden Zeitmodi im Sozialismus: Die zyklische Temporalität der späten Jahre habe die lineare der Aufbauzeit nicht einfach abgelöst; selbst während der bleiernen Zeit der Normalisierung habe der große Plan von einst weitergewirkt, auch wenn seine Versprechungen in einer auf Konsum ausgerichteten Meistererzählung aufgegangen seien. Kolář regte zudem an, die Weiterentwicklung von Narrativen über das Jahr 1989 hinweg zu verfolgen, und zeigte am Diskurs über „Privatisierung“ seit den 1990er-Jahren, wie sich Argumentationslogiken und Muster nahtlos fort- und über greifbare Realitäten hinwegsetzten. Christoph Boyer bot am Schluss eine furiose Gesamtinterpretation der Entwicklungspfade und des Scheiterns der sozialistischen Planwirtschaften: Er skizzierte die Zyklen von Reform und Rückfall ins klassische Paradigma als Folge eines Fehlers im „genetischen Programm“ (J. Kornai) des sozialistischen Wirtschaftssystems und die verschiedenen internen und externen, „harten“ und „weichen“ Faktoren, die den Zusammenbruch des Systems letztlich unausweichlich machten. Damit ordnete Boyer auch die Reformversuche der späten 1960er-Jahre, in denen Fritz Beer und andere undogmatische Linke eine Chance sahen, den Sozialismus doch noch zukunftsfähig zu machen, in die Geschichte eines vorhersehbaren Scheiterns ein. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache, dass die hochfliegenden Hoffnungen bei den Diskussionen der Tagung kaum eine Rolle spielten, vielleicht doch kein Zufall, sondern vielmehr eine Aussage über derzeit herrschende Forschungsinteressen und die dahinter stehenden Deutungsmuster.

Am Schluss der lebendigen und kontroversen Debatte blieb nicht nur die Frage nach dem auslösenden Flügelschlag eines Schmetterlings offen, der das seit langem wackelige Gebäude der staatssozialistischen Planwirtschaft definitiv zum Einstürzen gebracht hätte. So steht zu hoffen, dass die Publikation der Beiträge der diesjährigen Bad Wiesseer Konferenz Auseinandersetzung zwischen Vertretern der verschiedenen Zugänge in der Sozialismusforschung ein weiteres Stück voran bringen wird.

Konferenzübersicht

Filmvorführung: Ikarie XB1 (Regie Jindřich Polák, Science Fiction, Tschechoslowakei 1963)

1. Eröffnungssektion: Gereon Uerz (Essen), Stefan Plaggenborg (Bochum), Martin Schulze Wessel (München)

2. „Der neue Mensch“
Kommentar: Martin Franc (Prag): Biologiediskurse über den „neuen Menschen“ in der sozialistischen Tschechoslowakei
Matěj Spurný (Prag): Das Grenzgebiet der Zukunft: alte und neue Minderheiten in der Aufbaugesellschaft
Celia Donert (Florenz): Creating “Citizens of Gypsy Origin” in Czechoslovakia 1948-1989: A Transnational Perspective
Ulf Brunnbauer (Berlin): Kommentar

3. Großprojekte des Sozialismus
Stefan Albrecht (Mainz): Take-off in die sozialistische Zukunft. Aviatische Zukunftsvorstellungen und Planungen in der Tschechoslowakei
Anna Bischof (München): Das Nationalunternehmen Jáchymov. Die Uranerzindustrie in den Zukunftsvorstellungen tschechoslowakischer Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg
Ulrich Best (Chemnitz): Internationalismus im Sojus-Energieprojekt
Ivan Jakubec (Prag): Die Verkehrsinfrastruktur und Planung in der Tschechoslowakei nach 1945
Martin Geyer (München): Kommentar

4. Mobilisierung durch Planung
Jaroslav Kučera (Prag)/Jaromír Balçar (München): Von der Verwaltung des Mangels zur Gestaltung der Zukunft. Ökono-mische Planungen in der Tschechoslowakei von der Befreiung bis in die frühen 1950er Jahre
Jiří Knapík (Opava): Kultureller Aufbau auf dem Land (1948-1950)
Xavier Galmiche (Paris): Die Kuh und der Mercedes. Sozialistische Adaptationen von Vergangenheitssymbolen in tschechischen Romanen der Nachkriegszeit
Michal Kopeček (Prag): Kommentar

5. Planung nach der utopischen Hochphase
Blanka Koffer (Berlin): Der Fünfjahresplan in den Gesellschaftswissen-schaften: Theorie und Praxis seit 1972 am Beispiel der ČSAV und der AdW
Michal Pullmann (Prag): Vervollkommnung, Intensivierung, Beschleunigung, Perestroika: Die Planung in den sowjetischen und tschechoslowakischen Wirtschaftsdebatten der 1980er Jahre
Christian Domnitz (Potsdam): Verspätete Zukunft: Europapublizistik im Staatssozialismus der 1980er Jahre
Peter Bugge (Århus): Kommentar

6. Schlusssektion
Bedřich Loewenstein (Berlin): Revolution und Utopie
Round table: Claudia Kraft (Erfurt), Pavel Kolář (Potsdam/Prag), Christoph Boyer (Salzburg)

Anmerkung:
1 Beer, Fritz, Die Zukunft funktioniert noch nicht. Ein Porträt der Tschechoslowakei 1948-1968, Frankfurt am Main 1969, S. 12.

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