„Noctes hassicae“ – Wissenschaftliches Kolloquium zur Kunst und Architektur der Antike

„Noctes hassicae“ – Wissenschaftliches Kolloquium zur Kunst und Architektur der Antike

Organisatoren
Fachgebiet Klassische Archäologie, Technische Universität Darmstadt
Ort
Darmstadt
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.12.2007 - 08.12.2007
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Von
Frank Daubner, Institut für Klassische Archäologie, Freie Universität Berlin

Auf dem Kolloquium, das dem Darmstädter Archäologen Heiner Knell gewidmet war, zeigte sich das Fach in seiner ganzen Bandbreite. Freunde, Kollegen und Schüler des Geehrten waren eingeladen worden, aus ihren aktuellen Arbeiten zu berichten. Die thematische Vielfalt der Beiträge mit einem dennoch erkennbaren Schwerpunkt auf der antiken Architektur entsprach den vielfältigen Interessen Heiner Knells; die Veranstaltungsform eines Festkolloquiums mit Beiträgen aus diversen Forschungsfeldern stach erfrischend ab gegen den heute vorherrschenden Veranstaltungstypus, bei dem kleine Gruppen von Spezialisten über Spezialthemen debattieren und die Außenwirkung minimal bleibt. Vor einem beachtlichen Publikum begannen nach der sehr gelungenen Laudatio HELMUT BÖHMEs (Darmstadt) die Vorträge in annähernd chronologischer Reihenfolge.

Dass die Hausarchitektur und der Siedlungsbau der Kykladen in geometrischer Zeit noch keineswegs die Höhen späterer griechischer Baukunst erahnen lassen, zeigte NADIN BURKHARDT (Rom). Eher können die – im Gegensatz zu den meisten Siedlungen des Festlandes – auf unzugänglichen, dem Wind ausgesetzten, wasserarmen Höhen und Vorgebirgen mit mäßig guten kleinen Häfen angelegten Ortschaften und ihre Bauten als Schwundstufe der bronzezeitlichen Architektur gelten. Alles war klein, beengt, auf Sicherheit ausgerichtet; als einzige Gemeinschaftsleistungen sind Wehrmauern und Geländeterrassierungen zu erkennen. Von hier an konnte es für die Griechen nur aufwärts gehen. Die in spätarchaischer und klassischer, dann erst wieder in römischer Zeit geschaffenen Darstellungen von Handwerk, Land- und Hauswirtschaft sowie seltener von Bautätigkeiten untersuchte FRANZISKA LANG (Darmstadt) auf Funktion und Aussagekraft hinsichtlich der Produktionsprozesse. Handlungsanleitungen waren sie nicht, auch vermittelten sie keinen Gesamteindruck des dargestellten Handwerkszweigs. Sie konnten nur funktionieren, wenn dem Betrachter genügend Vorwissen zur Verfügung stand, sind also wohl Darstellungen eines technischen Habitus, die in nacharchaischer Zeit immer mehr typisiert werden. HERMANN KIENAST (München) riss eine Inkunabel der Baugeschichte nieder: Die Südhalle im Heraion von Samos, die früheste griechische Halle, hatte kein Pultdach mit einer dichten Reihe von Balken, wie es die eindrückliche und einflussreiche Rekonstruktionszeichnung von Gottfried Gruben fest in den Köpfen verankert hatte, sondern wohl ein Satteldach, und kann somit nicht als Ausgangspunkt für die Entwicklung des ionischen Zahnschnitts gedient haben. Kienast führte damit vor, wie zeitgebundene Rekonstruktionen unsere Sichtweise nachhaltig prägen können.

Die beiden folgenden Vorträge befassten sich mit den auf angewandter Mathematik basierenden Entwurfsmethoden griechischer Architekten. WOLF KOENIGS (München) erläuterte anhand eines erstmals vorgestellten Kapitellrohlings in Istanbul sowie einer Bauzeichnung auf einer Marmorplatte aus Nordafrika, wie die logarithmische Spirale einer ionischen Volute mittels eines Zirkels konstruiert werden konnte, während HELGE SVENSHON (Darmstadt) anhand des Theaters von Epidauros die durch Heron von Alexandreia beschriebene und wohl aus Babylon übernommene Methode darstellte, mit der die antiken Architekten und Landvermesser in der Lage waren, mit rationalen Zahlen zu arbeiten, die die exakte Geometrie unterliefen, aber besser handhabbar waren.

Einige der neuentdeckten Epigramme des Poseidippos von Pella, in denen er Realismus und Wahrhaftigkeit in der Kunst preist, erhellen den frühhellenistischen Diskurs über Kunstwerke, wie WULF RAECK (Frankfurt) ausführte. So sei Demosthenes, den Poseidippos nicht erwähnt und den Raeck benutzt, um die Anwendbarkeit von dessen Terminologie zu prüfen, in seiner Porträtstatue bewusst als Mensch dargestellt, dem „nichts von Heroen beigemischt“ (Poseidippos) sei. Das Gegenbild dazu stellen die heroischen Bildnisse Alexanders und der Könige dar. So wird schon durch die Darstellungsweise augenfällig gemacht, dass Demosthenes zum anderen Lager gehörte. DETLEV WANNAGAT (Rostock) untersuchte, von der uns als inkohärent erscheinenden situationsunabhängigen archaischen Mimik ausgehend, die Entwicklung der mimischen Darstellung von Affekten in der antiken Kunst. Im 4. Jh. v. Chr. entstand ein pathetisches Grundmuster, in dem er die neue Qualität der Authentizität zu erkennen meint, die nun durch veränderte Sehgewohnheiten nicht mehr als Grimasse wahrgenommen wird. Den ersten Tag beschloss ein in der antiken Tradition der Gespräche im Elysium stehender Disput „Um die Ecke gebracht“ zwischen Iktinos (HELGE SVENSHON) und Ludwig Mies van der Rohe (MAX BÄCHER, Darmstadt) über die „Ecke“ als künstlerisches und moralisches Problem.

Um die Darstellung bedrohlicher Leidenschaften war es CATERINA MADERNA (Mainz) zu tun. Ihre Unterscheidung zwischen Physiognomie und Mimik machte den Gegensatz von stark gefühlsbewegt dargestellten positiv konnotierten Figuren sowie negativen Charakteren wissenschaftlich ergiebig: Bedrohliche Gefühle wurden durch ein Ungleichgewicht der Form dargestellt, Leidenschaften positiver Figuren dagegen stets symmetrisch. Diese Tradition konnte anhand eindrücklicher Beispiele bis in unsere Zeit verfolgt werden. ANJA BRATENGEIER (Darmstadt) untersuchte die Anfänge der peripteralen Tholos in Rom und Umgebung, wo sie um 100 v. Chr. eingeführt wurde. Während der Rundtempel am römischen Forum Boarium sehr griechisch, zum Teil auch in griechischem Marmor ausgeführt wurde, zeigen die Tempel in Tibur und am Largo Argentina in Rom in ihren Mischformen, wie die griechischen Formen bewusst transformiert und adaptiert wurden, um den römischen Bedürfnissen und Vorstellungen entsprechen zu können.

Die Geschichte der Erforschung der Tempel von Paestum stellte DIETER MERTENS (Rom) vor. Nach der schwierigen Erstbegegnung um 1750 begann ein Wettlauf der Architekten um die Vorlage und Erfassung der Bauten zugleich mit der erneuten Diskussion um die Grundlagen der griechischen Architektur, die zuvor in Ermangelung authentischen Materials durch die Auslegung Vitruvs bestimmt gewesen war. Trotz dieser langen Forschungsgeschichte halten die Tempel immer noch Überraschungen bereit: So stellte Mertens bei der Vermessung des „Heratempels“ sowohl die Verwendung von Spolien wohl eines Vorgängerbaus fest, als auch unerwartete Differenzen der Maße im Oberbau, die mit der äußerst exakt gearbeiteten Peristase konfligieren und vorläufig noch nicht erklärt werden können. MARION BOOS (Darmstadt) behandelte die chronologische Abfolge der Bauten des Bezirks um das Hercules-Heiligtum von Ostia und stellte die These auf, dass der Tempel des Hercules, der als einziger der Tempel von Ostia nicht nach dem Straßennetz ausgerichtet ist, der jüngste der drei Tempel sei. Exakten Aufschluss darüber könne jedoch letztendlich nur eine Grabung erbringen.

Der bisher nahezu unbeachtete große domitianische Baukomplex am Hang des Palatin zum Forum Romanum hin, in den die Kirche S. Maria Antiqua eingebaut worden war, ist von MICHAEL HEINZELMANN (Bern) untersucht worden. Die völlige Umnutzung bereits in traianischer Zeit ließ ihn vermuten, dass der ursprüngliche Zweck nach Domitians Tod nicht mehr akzeptabel gewesen sein muss. Er brachte den bestechenden Vorschlag, hierin einen Neubau der curia zu sehen, der genug Platz für alle 600 Senatoren sowie dem Kaiser unmittelbaren Zugang vom Palast her geboten habe. Den Senatoren müsse es unzumutbar erschienen sein, sich für ihre Versammlungen gewissermaßen zum Kaiser zu begeben. RUDOLF STICHEL (Darmstadt) verglich Ammians Bericht über den Rombesuch Constantius’ II. mit den archäologisch fassbaren Zeugnissen. Ammians tendenziöser und dem Kaiser wenig gewogener Bericht unterstellt ihm nicht nur Fehlverhalten, sondern auch Gesten der Demut vor den angeblich unerreichbaren Bauwerken der Vergangenheit. Das passt nun keinesfalls zusammen mit den gewaltigen zeitgenössischen Bauten in Konstantinopel sowie mit der übertreffenden Augustusnachahmung des Constantius, die er in Rom pflegte. Der archäologische Befund kann also durchaus in der Lage sein, verzerrte Nachrichten missgünstiger Quellen zu objektivieren.

Die drei letzten Vorträge waren neuzeitlichen Themen gewidmet: Die Konzeption der Begräbnis- und Einhard-Kapelle im vor allem durch seine Antikensammlung bekannten Erbacher Schloss stellte WOLFGANG LIEBENWEIN (Darmstadt) als Novum in der Mittelalterarchäologie und großen Schritt hin zur Versachlichung des Mittelalters in der Zeit der Romantik dar. Graf Franz (1754–1823) ließ die Familiengrabsteine und den Sarkophag des Einhard ins Schloss verbringen, restaurieren und erforschen: In der Pseudo-Kapelle, die nie geweiht worden war, trat historische Erinnerung an die Stelle christlichen Gedenkens. Der Beitrag VALENTIN KOCKELs (Augsburg) drehte sich um die Quellen der Bilder, anhand derer wir die Antike imaginieren. Bau- und Städterekonstruktionszeichnungen der Architekten prägen das Bild der Archäologen von der Antike, doch ihre Entwürfe sind in Form und Stil zeitgebunden. Anhand wohlbekannter Beispiele zeigte Kockel höchst eindrücklich, wie sich beispielsweise die Trabantenstädte Schwagenscheidts in antiken Stadtbildentwürfen widerspiegeln und darin zeitverhaftet und als Entwurf datierbar bleiben. Im Streit, den die italienischen Architekten Ugo Ojetti und Marcello Piacentini in den 20er- und frühen 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts austrugen, ging es um die Verwendung von Säulen, die nach Meinung Ojettis die nationalitalienische Bauform schlechthin seien. KLAUS TRAGBAR (Augsburg) verortet diesen Streit zwischen Römertum und Moderne innerhalb der Diskussionen um die Schaffung einer faschistischen Architektur, der bis 1943 nicht letztgültig entschieden worden war. Eine der skurrilsten Ideen dieser Zeit war die „neue faschistische Säulenordnung“, die Fasces-Säulen, wie sie von Piacentini am imposant scheußlichen Triumphbogen in Bolzano verwendet wurden.

Das Publikum und die Vortragenden waren sehr diskussionsfreudig, was zusammen mit der dem Anlass entsprechenden gelösten Atmosphäre dazu beitrug, die Veranstaltung für alle Beteiligten höchst fruchtbar werden zu lassen. In der Vielfalt der angesprochenen Themen zeigte sich, wie lebendig die Archäologie ist, unabhängig vom gerade zu Ende gegangenen „Jahr der Geisteswissenschaften“, und wie anregend und nutzbringend sie gerade auch im hier vorgeführten Dialog mit Bauforschern und Architekten nach außen wirken können.

Konferenzübersicht:

Helmut Böhme (Darmstadt): Laudatio
Nadin Burkhardt (Rom): Topographische Studie zu den geometrischen Siedlungen der Kykladen
Franziska Lang (Darmstadt): Technikbilder
Hermann Kienast (München): Die Südhalle von Samos und der Zahnschnitt
Wolf Koenigs (München): Volute-Nautilus-NURBS
Helge Svenshon (Darmstadt): „Vermessen(d)e Planung“ – Heron von Alexandria und das Theater von Epidauros
Wulf Raeck (Frankfurt): „Nichts Heroisches beigemischt“ Die Bildnisstatue des Demosthenes und der ‚neue’ Poseidipp
Detlev Wannagat (Rostock): Die Entdeckung der Mimik. Gesicht und Affekt in der griechischen Kunst
Max Bächer, Helge Svenshon (Darmstadt): „Um die Ecke gebracht“
Caterina Maderna (Heidelberg): Von der Ordnung der Mimik. Bedrohliche Leidenschaften in der antiken Bildkunst
Anja Bratengeier (Darmstadt): Die peripterale Tholos in der Geschichte der römischen Architektur - Arbeitsbericht
Dieter Mertens (Rom): Die Tempel von Paestum. Historische und aktuelle Forschung
Marion Boos (Darmstadt/Heidelberg): Hercules und die „area sacra dei templi repubblicani“ in Ostia
Michael Heinzelmann (Bern): Der kaiserliche Baukomplex von S. Maria Antiqua - ein (fast) vergessener Monumentalbau Domitians am Forum Romanum
Rudolf Stichel (Darmstadt): Kaiser Constantin II und die Monumente Roms
Wolfgang Liebenwein (Darmstadt): Zwischen Ahnenkult und Altertumsforschung. Die Einhard-Kapelle im Erbacher Schloß
Valentin Kockel (Augsburg): Über das allmähliche Verfertigen von Interpretationsmodellen beim Ausgraben und Publizieren – Calzas und Gismondis Ostia
Klaus Tragbar (Augsburg): Säulen für den Duce. Anmerkungen zur Diskussion einer faschistischen Architektur


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