Ehe. Haus. Familie. Konzepte und Inszenierungen häuslichen Lebens 1750-1820

Ehe. Haus. Familie. Konzepte und Inszenierungen häuslichen Lebens 1750-1820

Organisatoren
Inken Schmidt Voges, Universität Osnabrück; Fritz Thyssen-Stiftung
Ort
Osnabrück
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.12.2007 -
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Von
Inken Schmidt-Voges, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Osnabrück

Der fundamentale Transformationsprozess der Familienstrukturen und Familienwahrnehmung im späten 18. Jahrhundert war Gegenstand eines Workshops in Osnabrück, der von der Fritz Thyssen-Stiftung gefördert wurde. Aus interdisziplinärer wie internationaler Perspektive wurde die Frage nach den unterschiedlichen Formen, in denen über häusliches Leben im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert kommuniziert wurde, erörtert. Galt bislang in der Forschung, dass das traditionale, ‚vormoderne’ Konzept des ‚Hauses’ von dem bürgerlichen, ‚modernen’ Familienentwurf abgelöst wurde, so lautete die der Tagung zu Grunde liegende These, dass es sich hierbei vielmehr um eine funktionale Erweiterung der Wahrnehmung häuslichen Lebens handelt, die parallel neben einander bestanden. Mit den methodischen Ansätzen der neueren Kulturgeschichte setzten sich die Teilnehmenden aus Deutschland, Estland, Tschechien und Österreich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Frage nach der sich wandelnden Wahrnehmung und ihrem Verhältnis zur sozialen Praxis auseinander.

In ihren einleitenden Bemerkungen skizzierte die Organisatorin, INKEN SCHMIDT-VOGES, die Forschungsproblematik. Wenngleich in zahlreichen Fallstudien mittlerweile belegt wurde, dass eine apodiktische Trennung zwischen dem „Primat der Ehe/des Hauses“ und dem „Primat der Familie“ kaum aufrechtzuerhalten ist, wurden bisher kaum wissenschaftliche Anstrengungen unternommen, den Zusammenhang zwischen sozialer Praxis und kommunikativen Strukturen der Perzeption und Konstruktion auf übergeordneter, thematischer Ebene zu untersuchen und in Zusammenhang mit dem grundsätzlichen Wandel des Ehe- und Familienverständnisses zu setzen. Ebenso wenig wurden unterschiedliche Geschwindigkeiten und Dynamiken in den unterschiedlichen Ständen thematisiert. Genau diese Gleichzeitigkeit des vermeintlich Ungleichzeitigen in der Phase des Wandels selbst gilt es in den Blick zu nehmen und darüber auch Aufschlüsse über Ehe-, Haus- und Familienverständnis der Frühen Neuzeit zu erhalten. Gerade die Multiperspektivität der unterschiedlichen Disziplinen und der herangezogenen Quellengattungen von Niedergerichtsakten über Erziehungsschriften bis hin zu Romanen und Briefen war integraler Zugang zu einem übergreifenden, vernetzenden Ansatz. Die erste Sektion beschäftigte sich mit der Frage der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit Ehe und Familie.

EVELYNE LUEF analysierte anhand von vier mikrohistorischen Betrachtungen von häuslicher Gewalt das Eingreifen des städtischen Rates des Markts Perchtoldsdorf in Oberösterreich. Mehrere interessante Aspekte konnten dabei kontrastierend zur bisherigen Forschung aufgezeigt werden. Zum einen bestanden weibliche Handlungsspielräume durch das Anrufen der städtischen Obrigkeit, die eben nicht ausschließlich zugunsten der hausväterlichen ‚potestas’ urteilte, sondern durchaus den Positionen der klagenden Frauen folgte. Zum anderen wurde deutlich, dass vor diesem städtischen Gericht durchaus auch Trennungen ausgesprochen wurden, ohne dass das Wiener Konsistorium zu Rate gezogen worden wäre. Inwiefern auch informelle Trennungen (und umgekehrt auch informelles Zusammenleben) die Handlungsspielräume der Ehepartner bestimmten, ist nach wie vor ein Forschungsdesiderat. Darüber hinaus fand insbesondere auch in der Diskussion das aktive Einschreiten des Rates große Beachtung sowie die Beobachtung, dass dies vor allem bei bereits auffällig gewordenen Bürgern der Fall war. Häusliche Gewalt war also keine eheinterne Angelegenheit, sondern eine Frage der öffentlichen Ordnung.

DANIELA WAGNER führte anhand einer Analyse des Bildungsprogramms der österreichischen Bildungsbehörde und der Programmschrift einer privaten Mädchenschule in Preußen in den 1790er Jahren aus, dass der bisher angenommene bildungsbegrenzende Fokus der aufklärerischen Bildungsschriften differenzierter zu betrachten sei. Denn beiden Programmen liegt ein über die engeren, praxisorientierten Wissensbestände in Vorbereitung der Aufgaben als Hausfrau und Mutter hinausgehender Anspruch zu Grunde. Er zielt auf eine umfassendere, allgemein gelehrtes Wissen einbeziehende Bildung der Mädchen, mit der Begründung, dass diese die Bedeutung ihrer Tätigkeiten als Hausfrau und Mutter nicht nur im häuslichen Rahmen, sondern vielmehr im Kontext von Staat und Gesellschaft zu verorten hätten. In der Diskussion wurde hervorgehoben, dass es wichtig wäre, die Frage nach dem Verständnis von „privat“ im Kontext privater vs. nicht-privater Bildung zu klären; hier bestehe nach wie vor eine Forschungslücke. Die zweite Sektion befasste sich mit Wahrnehmungsstrukturen in unterschiedlichen literarischen Medien.

IRIS CARSTENSEN zeigte anhand der Tagebuchaufzeichnungen des holsteinischen Adeligen Reichsgraf Friedrich zu Rantzau auf Breitenburg (1729-1806), dass dieser je nach Bezugskontext ganz unterschiedliche Formen der Selbstdarstellungen wählte. Während sich der nicht erbberechtigte Landadelige im Hinblick auf seinen Adelssitz ganz im Lichte der ökonomischen Literatur als „Hausvater“ stilisierte, werden in seinen Darstellungen über die Auseinandersetzung mit seinem Sohn Erziehungs- und Elternideale erkennbar, die man bisher als „bürgerlich“ bezeichnete.

FRIDRUN FREISE zeigte am Beispiel stadtbürgerlicher Gelegenheitsgedichte zu familiären Anlässen den Quellenwert dieser literarischen Gattung für Fragen des Selbstverständnisses. Dieser „Bodensatz“ literarischer Produktion liefere eine Vielzahl unspezifischer, häufig topischer Sichtweisen zu „Ehe“ und „Familie“ und ließe in dieser Kompilation Rückschlüsse auf gesamtgesellschaftliche Sichtweisen zu. Dies sei umso wichtiger, als die Gelegenheitsdichtung im 18. Jahrhundert nicht zu „privaten“ Anlässen entstand, sondern als Repräsentationsinstrument in einem anerkannten Werteumfeld diente. In der Diskussion wurde vor allem der symbolische Wert der „öffentlichen“ Inszenierung des „Privaten“ hervorgehoben.

ANDREA ALBRECHT nahm die Selbstverständlichkeit in den Blick, mit der die Geschlechtergeschichte das ‚Verheiratet-Sein’ agierender Frauen voraussetzt. Anhand publizistischer, autobiographischer und literarischer Zeugnisse zeigte sie auf, dass Frauen um 1800 gerade die Ehelosigkeit als Emanzipationsraum wahrnahmen und diesen zunächst im Rahmen fiktionaler Texte ausloteten. Indem sie die institutionalisierten Wertbedeutungen in Frage stellten, sei es ihnen möglich gewesen, diese schließlich auch grundlegend zu transformieren. In der Diskussion wurde vor allem auf den sozialhistorischen Hintergrund abgehoben und danach gefragt, inwiefern auch der erfahrene demographische Zwang zur Ehelosigkeit gerade im späten 18. Jahrhundert eine Rolle spielte und ob sich Kontraste gegenüber tradierten Formen der Stiftsdame, der „Tante“ oder der „alten Jungfer“ finden ließen. Die dritte Sektion befasste sich mit Fragen des Wandels von Familienverständnis im Hinblick auf ökonomisches Handeln, wobei insbesondere ostmitteleuropäische Regionen im Zentrum der Fallbeispiele standen.

JOSEF GRULICH führte anhand einer Analyse der Erbpraxis in Böhmen aus, dass das Heirats- und damit auch das Erbverhalten sich durch die gesetzlichen Veränderungen im späten 18. Jahrhundert deutlich verschob. Der Übergang der untertänigen, gekauften Güter war nun vom jüngsten auf den ältesten Sohn verschoben, so dass die Geschwister sicherer auf eine Auszahlung bei Heirat rechnen konnten. Besonders interessant war die Differenzierung der Heiratsstrategien zwischen Ledigen und Verwitweten. Während die Ledigen sehr deutlich von den familiären Interessen der Besitzwahrung und –mehrung bestimmt waren, konnten die Vewitweten nicht so frei entscheiden, wie bisher angenommen. Das dichte soziale Netz der Verwandtschaft und der Dorfgemeinde, sowie der Vormünder der Kinder setzen enge Schranken.

ALICE VELKOVÁ zeigte anhand einer Analyse von Heirats- und Erbverträgen, dass sich mit dem Nachlassen der großen Migration der ländlichen Bevölkerung im 18. Jahrhundert soziale Strategien ausbildeten, die sich auf die Stabilisierung der Beziehungen in der Dorfgemeinde, Nachbarschaft und Verwandtschaft ausrichteten. Mit der zunehmenden ökonomischen Dynamisierung lässt sich um 1800 auch eine dynamisierte Differenzierung der ländlichen Bevölkerung ausmachen, da sich die Weitergabe des Hofes nicht mehr an den Interessen der Sippe orientierte, sondern immer stärker an einer Gewinnoptimierung des Hofbesitzers und seiner Kernfamilie. In der Diskussion beider Vorträge wurde insbesondere die enge Verflechtung der „Kernfamilie“ nicht nur mit der weiteren Verwandt- und Freundschaft hervorgehoben, sondern vor allem auf die Inadäquatheit der isolierten Betrachtung durch die Wissenschaften.

ULRIKE PLATH skizzierte ein Forschungsfeld, das bisher nicht nur in der mitteleuropäischen Forschungswahrnehmung, sondern auch in der historischen Forschung des Baltikums selbst kaum bearbeitet wurde. Am Beispiel von Familien deutschstämmiger Gutsverwalter in Estland konnte sie zeigen, dass das Phänomen transnationaler Familienstrukturen sich im Laufe des 18. Jahrhunderts deutlich wandelte. Während die meist indigenen estnischen leibeigenen Bauern das Gesinde stellten, blieben die deutschstämmigen Verwalterfamilien schwedischer Gutsherrn selten kontinuierlich an einem Ort, um intensivere Bindungen im Sinne der „Hausväterliteratur“ an die Bauern zu knüpfen. Insbesondere die Rolle der Wärterin, der Kinderfrau wurde hier als Mittlerin zwischen den Kulturen betrachtet, da sie die Kinder zweisprachig auch mit Wissen der „Volkskultur“ in Kontakt brachte.

Die Abschlussdiskussion hob drei Aspekte hervor, die sich in einem Großteil der Vorträge gezeigt hatten. Zum einen stellt sich die Frage nach dem zeitgenössischen Verständnis von „privat“ und „öffentlich“ neu. Es war deutlich geworden, dass Ehe, Haus und Familie zwar mehrfach als „privat“ bezeichnet wurden, zugleich aber ein allergrößtes Bemühen darauf verwandt wurde, diese „Privatheit“ möglichst öffentlich (im Sinne von außenwirksam) zu inszenieren. Darüber hinaus wurde das intensive Beobachten seitens der Obrigkeiten herausgestellt – sei es als potenzielle Störung der öffentlichen Sicherheit, als Fragen der Versorgung durch Erbschaft oder im Kontext der Repräsentation und der Bildung bzw. Gelehrsamkeit. Daraus folgt, dass das Verhältnis von Familie und Öffentlichkeit, Herrschaft und Staat noch einmal aus den Kategorien und den Praktiken des 18. Jahrhunderts heraus bestimmt werden muss. Zum anderen wurde auf die Bedeutung der Ökonomie verwiesen. Trotz aller Berechtigung der Fragen nach Herrschaft und Wahrnehmung darf nicht die Rolle ökonomischer Zwänge übersehen werden, wenn es um Aspekte des Wandels und der Handlungsspielräume geht – insbesondere die Frage nach der Neubestimmung weiblicher Rollenmuster sollte in diesem Kontext gesehen werden. Hier muss ein stimmiges Konzept gefunden werden, das sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Faktoren mit jenen der Wahrnehmung und Kommunikation zusammenführt. Der dritte Aspekt zielte auf die Einführung der Kategorie „Erfahrung“ in die Erforschung von Ehe und Familie. Gerade im Hinblick auf die Organisation des Ehelebens, beispielsweise auf Anwendung und Wahrnehmung von Gewalt, sei es wichtig zu analysieren, mit welchen Erfahrungen von Ehe die jeweiligen Ehepartner ihr eigenes Eheleben interpretierten. Dabei spielen biographische Aspekte (Ehe der Eltern) ebenso eine Rolle wie die Präsenz der Nachbarschaften und Verwandtschaften. Ebenso wie sich das „Haus“ – das als „Ganzes Haus“ oder „Geschlossene Hauswirtschaft“ als europäisches Phänomen betrachtet wurde –, lediglich auf die Gemeinsamkeit christlich begründeter Herrschaftsverhältnisse berufen könne, müsse auch für die Kategorien „Ehe“ und „Familie“ viel eher von „Ehekulturen“ und „Familienkulturen“ gesprochen werden. Denn weder Ehe noch Familie funktionieren losgelöst von einem je spezifischen Setting der involvierten Individuen, der näheren und weiteren Verwandtschaft, der Nachbarschaft und der Obrigkeit. Dies zeigt sich nirgends deutlicher als in den dynamischen Wandlungsprozessen des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts.

Konferenzübersicht:

Ehe. Haus. Familie. Konzepte und Inszenierungen häuslichen Lebens 1750-1820

Sektion 1: Häusliches Leben im gesellschaftspolitischen Kontext
Moderation: Heike Düselder, Osnabrück/Cloppenburg
Evelyne Luef, Wien: „und vom drohen sey noch niemand gestorben“. Häusliche Gewalt im 18. Jahrhundert
Daniela Wagner, Trier: Mädchenbildung im Kontext sich verändernder Vorstellungen von Familie und Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert

Sektion 2: Literarische Inszenierungen von Ehe, Haus und Familie
Moderation: Inken Schmidt-Voges
Iris Carstensen, Hamburg: Friedrich Reichsgraf zu Rantzaus auf Breitenburg (1729-1806). Hausvater, Ehemann und Vater in Tagebuch und Briefen.
Fridrun Freise, Göttingen: Das Etikett der idealen Ehe und Familie. Wie Gelegenheitsgedichte im 18. Jahrhundert einen neuen Wertekanon repräsentieren
Andrea Albrecht, Freiburg im Breisgau: „Heurathen! – Was versprechen Sie sich denn davon?“. Ehe und Familie bei Rahel Levin, Esther Gad und Therese Huber

Sektion 3: Wandel der Struktur und Wahrnehmung von Familien(interessen) in Mittel- und Nordosteuropa 1750-1850
Moderation: Michaela Hohkamp (Berlin, FU)
Josef Grulich, České Budějovice/Budweis: Ehe, Haus und Familie in Böhmen (1750-1820)
Alice Velková, Prag: Die Familie und ihre materiellen Interessen. Der Wandel in der Wahrnehmung des Familieninteresses auf dem böhmischen Lande im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Ulrike Plath, Tallinn: Familie und Haus in den baltischen Provinzen Russlands. Aspekte der transnationalen Vergemeinschaftung 1750-1850

Kontakt

Dr. Inken Schmidt-Voges
Historisches Seminar, Geschichte der Frühen Neuzeit
Universität Osnabrück
Neuer Graben 19/21
49069 Osnabrück
0541/ 969 4383
inken.schmidt-voges@uos.de


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