Frakturen der Identitäten. Jugend im 20. Jahrhundert

Frakturen der Identitäten. Jugend im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Wissenschaftsverlage; Moses-Mendelssohn Zentrum
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.11.1997 - 20.11.1997
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Von
Bodo Mrozek

Jede Gesellschaft hat bekanntlich die Jugend, die sie verdient. Ob die angeblich skeptische Generation der 50er Jahre, "68er" oder die heutige "Generation Tamagotschi": Untersuchungen der jungen Generation erlauben auch Rueckschluesse auf den Werte- und Mentalitaetswandel. Hier liegt wohl auch das zunehmende Interesse von Sozialwissenschaftlern an der Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein begruendet. Auf Einladung dreier Wissenschaftsverlage und des Moses-Mendelssohn Zentrums diskutierten Historiker, Soziologen und Politologen in Potsdam neue Arbeiten zur historischen Jugendforschung.

Ein auffallendes Phaenomen im ersten Drittel dieses Jahrhunderts sind junge "Grenzgaenger", die oft mehrfach zwischen den politischen Extremen wechseln. Arnolt Bronnen etwa (1895-1959), Autor von Skandalstuecken ("Vatermord"), orientierte sich an so gegensaetzlichen Leitbildern wie Brecht und Goebbels - eine schillernde und ambivalente Figur. Ebenso Eberhard Koebel (1907-1955), Publizist und Fuehrer eines elitaeren Jugendbundes. Mal bezeichnete er sich als "Faschist in Reserve", mal suchte er seine jugendlichen Anhaenger fuer den Kommunismus zu begeistern. Nach GeStaPo-Haft emigriert, folgte er 1948 Honeckers Ruf in die DDR, wo er von der SED ausgeschlossen schliesslich vereinsamt starb - eine ausgesprochen deutsche Karriere.

Die Politologin Gudrun Schneider-Nehls sieht in den Lebenswegen der Grenzgaenger, darunter auch Erich Loest, "eine typisch maennliche Sinnkonstruktion" ueber die politischen Lager hinaus wirksam: antiliberale Gemeinschaftsutopien.

Die Generationen, die ihre Jugend unter Hitler verbracht haben, markiert Sybille Huebner-Funk vom Deutschen Jugendinstitut in Muenchen mit den Jahrgaengen Helmut Schmidts (1918) und Helmut Kohls (1930). Anhand der Erinnerungen von Vertretern bundesdeutscher Eliten aller Couleur untersucht die Soziologin Konzepte, mit der Hypothek von Holocaust und Kriegsschuld umzugehen: "Kaum jemand, der nicht durch Erlebnisse und Verluste traumatisiert wurde." Erst juengst betonte Ex-Bundeskanzler Schmidt in einem Fernseh-Interview die Wehrmachtsvergangenheit der Mitglieder des Anti-RAF-Krisenstabes im "deutschen Herbst" 1977. Aber auch die "spaet geborenen" Kinder des Kohl'schen Jahrgangs seien martialisch auf Rassenkampf und Krieg gedrillt worden: eine "Jugend ohne Jugend". Das Jahr 1945 erscheine somit als "Fraktur der Identitaeten" und Jugend als Seismograph fuer die Akzeptanz der importierten politischen Neuordnung. Das Nuernberger Kriegverbrechertribunal habe die Kinder des NS 1946 zwar juristisch amnestiert, zugleich aber die vorhergehenden Jahre moralisch tabuisiert. Wie tief die kollektive Verdraengung der Kriegsjahre sass, zeige die spaete Welle der Selbstreflexion in den 80er Jahren.

Mitglieder jener juengeren HJ-und BDM-Jahrgaenge, die Ernst Friedlaender "die Suchenden" nannte, hat Friedhelm Boll in lebensgeschichtlichen Interviews befragt ("Zwischen Hitlerjugend und nationalsozialistischem Terror", in: Andreas Gestrich, Hg., Gewalt im Krieg. Ausuebung, Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20. Jahrhunderts. Muenster: LIT-Verlag 1996. 247 Seiten, 24 Mark). Das Erleben von Greultaten habe bei Jugendlichen mitunter zum Bruch mit dem Terrorregime gefuehrt. Fuer eine befragte ehemalige BDM-Fuehrerin war es die Begegnung mit Zwangsarbeitern, die sie spaeter dazu brachte, sich der Teilnahme an Werwolfaktionen zu verweigern. Nach dem Krieg habe die "Last des Schweigens" die Verstaendigung zwischen den Generationen in den Familien nachhaltig gestoert - vor allem bei Kindern von Taetern.

Jugendpolitik unter der Regie der SED hiess "Erziehung der Kinder zu bewussten Kaempfern im Lager des Fortschritts" - so die offizielle Umschreibung fuer die erneute zentralistische Kontrolle der Jugend. Die Anfangszeit der SED-Kinderorganisation hat Leonore Ansorg in ihrem Buch "Kinder im Klassenkampf. Die Geschichte der Pionierorganisation von 1948 bis Ende der 50er Jahre" (Berlin: Akademie-Verlag 1997, 243 Seiten, 78 Mark) nachgezeichnet. Sie vergleicht die Jugendorganisationen der ungleichen Diktaturen und zeigt so Unterschiede auf. War die Hitlerjugend streng nach Geschlechtern getrennt, so betonte die DDR-Staatsjugend die Gleichberechtigung. Die Pioniererziehung habe sich in misstrauischer Konkurrenz zur Familie befunden - im Gegensatz zum Nationalsozialismus, der auf die Familie als Staette der Kinderproduktion gruendete. Beide Diktaturen strebten jedoch nach dem - hoechst verschiedenen - "neuen Menschen." Jugend wurde somit - wie so oft in diesem Jahrhundert - zur politischen Manoevriermasse.

Weitere Literatur: Die Buecher von Gudrun Schneider-Nehls ("Grenzgaenger") und Sybille Huebner-Funk ("Macht und UEberleben") erscheinen 1998 im Verlag fuer Berlin-Brandenburg. Von Friedhelm Boll erschien auch: Verfolgung und Lebensgeschichte. Berlin: Berlin-Verlag Arno Spitz 1997. 287 Seiten 29 Mark).

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Deutsch
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