Naturtrüb: Die 60er Jahre zwischen Planung und Protest

Naturtrüb: Die 60er Jahre zwischen Planung und Protest

Organisatoren
Westfälisches Institut für Regionalgeschichte, Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.02.2000 - 26.02.2000
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Von
Christoph Classen

Wenn in der publizistischen Oeffentlichkeit von den sechziger Jahren in der Bundesrepublik die Rede ist, dann geht es meistens um die spektakulaeren Ereignissen im Zuge der Studentenunruhen 1967/68, respektive um ihre vermeintlichen Folgen. Nicht selten stoesst man nach wir vor auf das Klischee, erst die Studenten haetten Ende des Jahrzehnts die bis dato weitgehend restaurative Gesellschaft "revolutioniert" und die Basis fuer die demokratischen Errungenschaften der folgenden Jahrzehnte und der Gegenwart gelegt. Kaum seltener anzutreffen ist eine Gegenposition, die der Studentenbewegung ziemlich umstandslos die Verantwortung fuer eine breite Palette gegenwaertiger Probleme und (vermeintlich) krisenhafter Entwicklungen zuschreibt. Beiden Positionen ist die ueberbewertung der Bewegung, die Isolierung von ihrer Vorgeschichte und damit letztlich ihre Mystifizierung gemein.

Von einer solch verengten Sichtweise setzten sich die Veranstalter der Tagung Die 1960er Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch" vom Westfaelischen Institut fuer Regionalgeschichte in Muenster durch einen breiten, vorwiegend sozialgeschichtlichen Zugriff auf das gesamte Jahrzehnt bewusst ab. In sechs Sektionen trugen Wissenschaftler Ergebnisse ihrer empirischen Untersuchungen zu Geschlechterrollen, Oeffentlichkeiten, Planungsbestrebungen, Lebensstilen, Verwaltung und zeitgenoessischen Deutungsmustern vor. Dabei wurde einmal mehr deutlich, dass die studentischen Proteste mehr Ausdruck eines bereits frueher einsetzenden tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels waren, als Initiatoren eines demokratischen Aufbruchs. Die in ihrer Fuelle beeindruckende Praesentation zeigte nebenbei, dass die Konzentration der zeitgeschichtlichen Forschungsressourcen auf die sogenannten "Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit" nach 1990 die empirischen Forschungen zur bundesrepublikanischen Geschichte jedenfalls nicht zum Erliegen gebracht hat.

Die erste Sektion unter Leitung von Merith Niehuss (Muenchen) beschaeftigte sich mit der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und den damit verbundenen Rollenstereotypen. Obwohl in den sechziger Jahren die Erwerbsarbeit von Frauen stark zunahm und sich die Rahmenbedingungen durch bessere technische Ausstattung der Haushalte sowie die modernen Moeglichkeiten der Familienplanung in vieler Hinsicht aenderten, war damit nur ein langsamer Wandel der Geschlechterrollen verbunden. So zeigte Christine von Oertzen (Berlin), dass die breite Integration der Frauen in die Erwerbsarbeit und die sozialstaatliche Absicherung ein langwieriger und zaeher Aushandlungsprozess war, dessen Ergebnis in den sechziger Jahren das Leitbild der teilzeitarbeitenden Ehefrau war, also eine geschlechtsspezifische Nische innerhalb des Systems. Mit der zunehmenden Erwerbstaetigkeit war keineswegs gleichzeitig eine Veraenderung der Arbeitsteilung im Haushalt verbunden. Ulrike Lindner (Muenchen) stellte dar, dass sich nun fuer viele Frauen vielmehr eine Doppelbelastung aus Hausarbeit und Erwerbstaetigkeit ergab. Die zahlreichen neuen technischen Haushaltsgeraete halfen bei deren Bewaeltigung weniger, als man annehmen koennte: Die Arbeitserleichterungen wurden durch sich parallel entwickelnde hoehere Standards im Bereich der Hygiene und der Mahlzeiten zum groessten Teil wieder kompensiert. Die Sektion zeigte insgesamt, dass sich gesellschaftlich so tief verwurzelte Vorstellungen wie diejenigen der Geschlechterrollen selbst in Zeiten dynamischen Wandels nur langsam veraendern. Neue Arrangements mussten muehsam ausgehandelt werden, und auch die "sexuelle Revolution" war, so der kaum ueberraschende Befund von Kristina Schulz (Bielefeld), eher ein Schlagwort und ein zeitgenoessischer politischer Kampfbegriff, als dass sie 1968 tatsaechlich stattgefunden haette.

Die Untersuchung von Oeffentlichkeiten gehoert bisher weitgehend zu den Desideraten historischer Forschung.1 Fuer die sechziger Jahre der Bundesrepublik ist das Thema von besonderer Relevanz, denn hier zeichneten sich unter anderem durch die nun flaechendeckende Praesenz des Fernsehens grundlegende Veraenderungen ab. Einige Aspekte dieses Wandels wurden in der zweiten Sektion unter Leitung von Anselm Doering-Manteuffel (Tuebingen) zusammengetragen. Grundlage war dabei ein weiter Oeffentlichkeitsbegriff, der sowohl institutionsinterne Oeffentlichkeiten der Parteien, Kirchen und Milieus umfasste als auch wissenschaftliche Fachoeffentlichkeit, Massenmedien und Meinungen in der Bevoelkerung.

Christina von Hodenberg (Freiburg) beschrieb das Verhaeltnis zwischen Massenmedien und politischem System als tiefgreifend gestoert. Die Etablierung einer linksliberalen regierungskritischen Elite von Journalisten und Publizisten nach 1945 sei die Voraussetzung fuer den zunehmend kritischen, aber systemloyalen Kurs wichtiger Massenmedien gewesen. Erst ab Mitte der sechziger Jahre haetten Vertreter des politischen Systems nach zahlreichen Kaempfen und Skandalen - allen voran die Spiegel-Affaere - den Bedeutungszuwachs der Medien und den damit verbundenen Verlust an exklusiver Deutungsmacht widerstrebend hingenommen und sich mit den neuen Verhaeltnissen arrangiert. Die studentische Protestbewegung habe auf diesen Gewinn "ausserparlamentarischer Oeffentlichkeit" aufbauen koennen, ihrerseits aber nun die Grenzen der Systemloyalitaet gesprengt.

Edgar Wolfrum (Berlin) sah in den sechziger Jahren mit der Durchsetzung eines eigenen, westdeutschen Geschichtsbildes gegen das in den fuenfziger Jahren noch intakte national-kulturelle, auf einer antikommunistisch gewendeten Totalitarismustheorie gruendende Interpretationsparadigma zugleich die eigentliche Formierungsphase der bundesrepublikanischen Identitaet. Julia Angster (Oxford) und Thomas Grossboelting (Muenster) beschaeftigten sich mit Grossinstitutionen wie Parteien und Kirchen. Angster beschrieb die "Amerikanisierung" des Wahlkampfes, also die professionelle Planung von symbolisch-personalisierenden Kampagnen in beiden Volksparteien, die der SPD auch deshalb ueberzeugender als der CDU gelungen sei, weil Wahlkampftaktik und das an westlich-liberaldemokratischen Politikverstaendnissen orientierte Programm hier korrespondiert haetten. Die Veraenderung institutionsinterner Oeffentlichkeiten in der katholischen Kirche und der SPD als Folge der Erosion ihrer tragenden Grossmilieus war das Thema Grossboeltings. Zwar haetten sich in beiden Institutionen zunehmend Ansprueche auf breitere Partizipation artikuliert, doch habe die schnell wachsende Bedeutung der Massenmedien zur gleichen Zeit die auf Versammlungsoeffentlichkeit beruhende innerinstitutionelle Kommunikation weitgehend obsolet gemacht und damit letztlich eine weitreichende Emanzipation der institutionellen Oligarchien befoerdert.

Die 60er Jahre markierten nicht zuletzt eine Epoche des Glaubens an die Planbarkeit und technokratische Steuerbarkeit gesellschaftlicher Prozesse. "Planung" wurde zu einem Modewort. Umfangreiche Planungen vor allem im Bereich der Bildungs-, Landesentwicklungs- und Arbeitsmarktpolitik sollten einen Ausweg aus dem vielfach als krisenhaft oder rueckstaendig empfundenen Status quo weisen. Trotz mancher Widerstaende, wie sie Thomas Schlemmer (Muenchen) speziell fuer die bayerische Regional- und Landesplanung aufzeigte, gelang es erstaunlich schnell, den Begriff von seinen negativen Konnotationen zu trennen. War der Terminus in den fuenfziger Jahren im Interesse der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Strukturen gezielt als Ausfluss von Zentralverwaltungsmodellen sozialistischer Praegung diskreditiert worden, wurde er nun zum Synonym fuer Modernitaet und Fortschritt, wie Georg Altmann (Muenchen) im Hinblick auf die Arbeitsmarktpolitik zeigte. Erkennbar stand hinter den Modellen umfassender Planung der Wunsch nach Begrenzung von Kontingenz und Steuerung des raschen gesellschaftlichen Wandels. Die einzelnen Vortraege illustrierten in vielfaeltiger Form die Grenzen, an die die meist viel zu optimistisch und gross angelegten Plaene stiessen. Letztlich bewegten sich die Konzepte zwischen den Polen der "Extrapolations-" und der "Utopiefalle", so Wilfried Rudloff (Speyer) unter Rueckgriff auf eine Formulierung von Helmut Klages.

Schliesslich markieren die sechziger Jahre jenen Zeitraum, in dem Wohlstand und Konsum breiten Schichten der bundesdeutschen Bevoelkerung zuteil wurden. Aspekte der damit verbundenen Diversifizierung von Lebensstilen waren Gegenstand einer weiteren Sektion unter Leitung von Axel Schildt (Hamburg). Eine vor allem generationell bedingte Ausdifferenzierung von Musikpraeferenzen habe es allerdings, so Konrad Dussel (Forst), gewissermassen "subkutan" schon viel laenger gegeben. Aber erst jetzt begann der oeffentlich-rechtliche Rundfunk unter dem massiven Druck drohenden Hoererverlustes durch die private Konkurrenz von Radio Luxemburg und die zunehmend verfuegbaren Tontraeger, differenzierte Hoereranalysen durchzufuehren, die dann ab Ende der 60er Jahre in der Umsetzung des Konzepts der Zielgruppenorientierung ihren Niederschlag fanden und zur weiteren Verfestigung einschlaegiger Subkulturen beitrugen. Die Aneignung der typischen technokratisch-seelenlosen Neubausiedlungen der Zeit durch individuelle Wohnungseinrichtungen der Bewohner sei, so die These Georg Wagner-Kyoras (Halle), "eigensinniger" und eklektizistischer gewesen, als es die autoritaeren Stilvorgaben und -konzeptionen jener Zeit erwarten liessen.

Die traditionsreichen, genossenschaftlich organisierten Konsumvereine gingen in den sechziger Jahren unter. Das war, wie Michael Prinz (Muenster/Muenchen) zeigte, vor allem eine Folge des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels, denn aufgrund ihrer komplizierten Organisationsstruktur fehlten ihnen die Moeglichkeiten zur schnellen Reaktion auf umwaelzende Entwicklungen wie die wachsende Mobilitaet. Wichtig waren daneben aber auch Erwartungshorizonte, die sich noch sehr lange aus den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit mit ihrer schnellen Folge von oekonomischen Prosperitaets- und Krisenphasen speisten: Die Investitionen in Selbstbedienungslaeden wurden u. a. deshalb skeptisch beurteilt, weil man nicht an eine laengere lineare Wachstumsphase glaubte, solche Laeden aber nur in ueberfluss-Gesellschaften Sinn machen.

In einer abschliessenden Sektion wurden auf verschiedenen Ebenen Deutungsmuster der 60er Jahre diskutiert. Hans-Ulrich Thamer (Muenster) fragte dabei nach den Ursachen fuer die ploetzliche Renaissance sozialistischer Gesellschaftskritik in der studentischen Protestbewegung und der Neuen Linken. Er deutete die Re-Ideologisierung mit Richard Loewenthal vor allem als romantische (Jugend-)Bewegung, die ihre Wurzel in der allgemein als krisenhaft empfundenen Situation des schnellen sozialen Wandels und der Schaerfung des Bewusstseins fuer die gesellschaftlichen Widersprueche durch die liberale Gesellschaftskritik gehabt habe. Aehnlich argumentierte Gabriele Metzler (Tuebingen) im Hinblick auf "Planung und Machbarkeit" als Paradigmen dieser Zeit: Auch der Versuch, Politik durch umfassende Bestandsaufnahmen und Zukunftsplanungen durch Experten und Wissenschaftler zu "rationalisieren", kann als (entgegengesetzter) Versuch der Bewaeltigung von Transformation begriffen werden. Den Rahmen zeitgenoessischer Deutungsmuster verliess schliesslich Juergen Zinnecker (Siegen) mit seinem Plaedoyer fuer eine heuristische Verknuepfung der beiden Kategorien "Milieu" und "Generation" zur Analyse des gesellschaftlichen Umbruchs.

Insgesamt sensibilisierten die Vortraege fuer die Vielschichtigkeit dieser Phase in der Geschichte der Bundesrepublik. Der in vielen Bereichen festzustellende Prozess einer "Vitalisierung" der Gesellschaft, also der zunehmenden Partizipation und Kommunikation von bis dato eher isolierten Milieus und Institutionen unter den Rahmenbedingungen wachsender Prosperitaet und beschleunigten sozialen Wandels, trug zur Polarisierung und Pluralisierung bei. Damit verbunden waren auffaellige Ambivalenzen, die auch heute noch fuer Zuendstoff sorgen, wie die engagierten Debatten der Tagungsteilnehmer bewiesen: Umstritten war beispielsweise der Begriff der "Krise" fuer eine Zeit, die sich zugleich durch noch kaum gebrochenen Fortschrittsoptimismus auszeichnete. Es verwundert daher kaum, dass auch der Tagungstitel, der eine demokratische "Wende" und einen gesellschaftlichen "Aufbruch" der Bundesrepublik in dieser Zeit postulierte, am Ende relativiert erschien. Auch hier zeigte sich, dass diese Tendenzen nicht nur Gegenbewegungen provozierten (ablesbar etwa an den Wahlerfolgen der NPD), sondern dass es vor allem gleichzeitig ein erhebliches Beharrungsvermoegen aelterer, konservativer Einstellungen und Praxen gab. Zudem lieferten mehrere Sektionen Hinweise dafuer, dass viele Veraenderungen zugleich mit gesellschaftlichen "Kosten" verbunden waren, sei es in Form der Etablierung von Expertendiskursen und buergerfernen Planungen oder der Professionalisierung von Oeffentlichkeitsarbeit und Legitimationsstrategien, die partizipatorischen Anspruechen entgegenstanden.

Obwohl die Periodisierungsfrage (wie meist) umstritten war, spricht aus einer gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive einiges dafuer, die "langen" sechziger Jahre als Einheit zu begreifen, also etwa den Zeitraum ab 1957 bis zur konjunkturellen Krise 1973. Weiterer Untersuchungen beduerfen dagegen noch uebergeordnete Fragen, etwa nach den Voraussetzungen der gesellschaftlichen Transformation: Kann man beispielsweise von einer "nachholenden" kulturellen Modernisierung sprechen, die ihre Voraussetzungen in der Etablierung institutioneller Strukturen nach westlichem Vorbild in den vierziger und fuenfziger Jahren hatte? Systematisch zu untersuchen bleibt weiter die Bedeutung internationaler Einfluesse und kulturellen Transfers, fuer deren Relevanz in mehreren Referaten Indizien geliefert wurden.

Die Ungleichzeitigkeit von Erneuerung und Beharrung, die Pluralisierung von Gesellschaft und Oeffentlichkeit scheint es zu verbieten, die Entwicklungen der sechziger Jahre auf einfache Begriffe und Formeln zu bringen. So konnte man jenes Nipperdey-Zitat, das Hans Guenter Hockerts (Muenchen) am Ende in die Runde warf, durchaus als Trost verstehen: "Das wirkliche Leben", so Nipperdey, "ist immer naturtrueb".

Anmerkung:

1 Das liegt wohl nicht zuletzt an der schwierigen Operationalisierbarkeit dieser Kategorie; vgl. hierzu Joerg Requate: Oeffentlichkeit und Medien als Gegenstaende historischer Analyse; in: GG 25 (1999), H. 1, S. 123-145.


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