Die Ingelheimer Haderbücher. Mittelalterliches Prozessschriftgut und seine Auswertungsmöglichkeiten

Die Ingelheimer Haderbücher. Mittelalterliches Prozessschriftgut und seine Auswertungsmöglichkeiten

Organisatoren
Historisches Seminar, Abteilung II, Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften, Historisches Seminar, Abteilung III Mittlere und Neuere Geschichte und Geschichtliche Landeskunde, Johannes Gutenberg Universität Mainz; Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V.
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.07.2008 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Sabine Reichert, Mainz

Während Ingelheim unter den Rechtshistorikern einen bedeutenden Klang hat dank der vielfältigen Arbeiten zu den Prozessen am Ingelheimer Oberhof, sind die Gerichtsbücher der Ingelheimer Ortsgerichte, die sogenannten Haderbücher in der Forschung erst vereinzelt zur Kenntnis genommen worden. Die Tagung in Mainz widmete sich diesen Haderbüchern in historischer, rechtshistorischer und germanistischer Interpretation und stellte sie zudem in den Kontext mit eher normativen Quellen aus dem ländlichen Bereich wie auch vergleichbaren Quellen aus den Städten.

In seinem einleitenden Vortrag umriss WERNER MARZI die Ortsgeschichte Ingelheims und damit den Entstehungskontext der Haderbücher. Karl IV. verpfändete die Ortschaften des „Ingelheimer Grundes“ an die Kurpfalz, was das Selbstbewusstsein der Ingelheimer in den nächsten Jahrhunderten aber nicht schmälern sollte, die weiterhin zum „Ingelheimer Reich“ gehörten. In den Ortschaften des Ingelheimer Grundes tagten mehrere Gerichte: die ungebotenen Dinge, Hubgerichte in den Dorfschaften, die Ortsgerichte in den drei Hauptorten Ober- und Niederingelheim sowie Winternheim und der Oberhof.
Dem Überlieferungszufall ist es zu verdanken, dass wir heute anhand der erhaltenen Haderbücher einen Einblick in die Ingelheimer Rechtspraxis des 15. Jahrhundert nehmen können. Bei der Überführung der Haderbücher in das Staatsarchiv in Darmstadt wurden viele der Bücher von skeptischen Einwohnern vor dem Zugriff der Behörde versteckt. Aus heutiger Perspektive zum Glück, denn 1944 verbrannte der gesamte Darmstädter Bestand. In Ingelheim blieben 18 Bücher und Fragmente weiterer 6 Bücher erhalten.

Eine genaue kodikologische Untersuchung der verbliebenen Haderbücher (daneben hat sich noch ein Band der Oberhofprotokolle im British Museum erhalten) erfolgt an der Universität Köln. Marita Blattmann hatte sich mit einer Gruppe Studierenden um die Aufnahme der Haderbücher bemüht. Aus diesem Projekt und seinem daraus entstehenden Dissertationsprojekt zu den frühen Ingelheimer Haderbüchern berichtete RAINER OPITZ. Die genaue Dokumentation des kodikologischen Befundes war notwendig geworden durch den teilweise sehr schlechten Erhaltungszustand der Bücher und der daraus resultierenden Restaurierung bzw. Neubindung der Kodices. Besonders die frühen Bücher (bis 1413) zeigen ihren Charakter deutlich: Sie waren in erster Linie als Gedächtnisstütze des Gerichtsschreibers konzipiert und nicht für den öffentlichen Gebrauch bestimmt. Sie unterscheiden sich damit deutlich von den frühen Rechtsbüchern oder verschriftlichten Weistümern jener Zeit. So sind in der Regel nur die Grunddaten der Streitigkeiten vermerkt, während über deren Ausgang und die Urteilsfindung die Überlieferung meist schweigt. Aus diesem Grunde eignen sich die Ingelheimer Haderbücher weniger für eine klassische rechthistorische Untersuchung. Auf der anderen Seite gibt es nur sehr wenige vergleichbare Quellen in Deutschland (Rothenburg und Würzburg), und die Ingelheimer Bestände stechen vor allem durch ihre Quantität und die länge des überlieferten Zeitraums (1387-1534) heraus. Die Parallelüberlieferung von Oberingelheimer und Niederingelheimer Haderbüchern mit den Oberhofprotokollen bietet eine Fülle von Möglichkeiten der Erschließung, auch mit statistischen Methoden.

Dem Verhältnis zwischen Kaiserrecht und den Ingelheimer Rechtsquellen widmete sich DIETLINDE MUNZEL-EVERLING in ihrem Vortrag. Im Interessensmittelpunkt stand die Frage, inwieweit Rechtsbücher die tatsächliche Rechtspraxis ihrer Zeit wiederspiegeln. Das „Kleine Kaiserrecht“, entstanden um 1330-1340 ist heute in 36 Handschriften überliefert und stammt wohl aus des Feder des stauferfreundlichen Rudolf von Sachsenhausen-Praunheim. Den Namen „Kleines Kaiserrecht“ erhielt es in Abgrenzung zum „großen Kaiserrecht“, dem sogenannten Schwabenspiegel. Der Vergleich mit den edierten Oberhofprotokollen zeigt deutlich, wie eng die Verbindungen zwischen Rechtsbüchern und Rechtspraxis waren. Am Beispiel „Kummer“ bzw. „Klage auf Gut“ konnte Munzel-Everling veranschaulichen, dass beispielweise das Gericht in Kreuznach regelmäßig beim Oberhof in Ingelheim anfragte. Der Vergleich der Quellen zeigt deutlich die vielfachen Übereinstimmungen, auch hinsichtlich der Rechtsbegriffe. Dabei geht der Oberhof aber an vielen Stellen weiter als das Kaiserrecht. Während das Kaiserrecht oftmals in sehr allgemeinen Klauseln formuliert und damit für die praktische Anwendung wenig geeignet war, musste der Oberhof auf die ganz alltägliche Praxis der Streitfälle reagieren. Nur sehr wenige Fälle zeigen, dass das Kaiserrecht das Ingelheimer Recht beeinflusst oder korrigiert hatte.

Zwar standen mit den Ingelheimer Haderbüchern klar die ländlichen Rechtsquellen im Focus der Tagung, doch der Blick in den städtischen Raum sollte die Diskussion bereichern. CARL A. HOFFMANN stellte die Breite der städtischen Überlieferung anschaulich dar. In Augsburg blieb vom 14. bis 16. Jahrhundert eine Fülle städtischer Rechtsaufzeichnungen erhalten. Neben dem ältesten Achtbuch (Beginn der Aufzeichnungen 1302) gab es Ratsbücher (seit 1392), die Protokolle der Dreizehn (1524-42), Strafbücher des Rats (seit 1509; Suppliken ab 1513), Straf- und Zuchtbücher (seit 1537), Urgichten (1474-1481 nur Antworten überliefert, vollständig ab 1496), um hier nur einige zu nennen. Hoffmann stellte exemplarisch einige der Quellen vor und erläuterte ihre Charakteristika. Dabei zeigte sich deutlich die zunehmende Differenzierung der Quellen. Neben der verstärkten Schriftlichkeit lag dies auch an den sich immer weiter ausdifferenzierenden Gerichtsinstitutionen. Im Befund der städtischen Gerichtspraxis stellte Augsburg aber kein singuläres Phänomen dar, sondern spiegelte die „normale“ Praxis einer frühmodernen Reichsstadt wieder. Die Hintergründe schienen aber nicht willkürlich zu sein, sondern der zunehmenden Institutionalisierung geschuldet. Der durch die städtische Bikonfessionalität geschwächte Rat scheint sich durch die von ihm fokussierte Obhut über die Strafverfahren seiner Machtbasis in der Stadt zu sicher gewesen zu sein. Es hat laut Hoffmann den Anschein, als wäre die Fülle der Strafverfahren fast zu Hauptaufgabe des Rates geworden.

Sollte die Arbeitstagung doch auch der Vorbereitung der Edition eines Haderbuches dienen, so war es nur angemessen, sich mit anderen Editionsprojekten von Rechtsquellen zu beschäftigen. GUNHILD ROTH stellte ihre Ausgabe des Leobschützer Rechtsbuchs vor. Der kleine Ort Leobschütz liegt im polnisch-tschechischen Grenzgebiet und wurde von der Forschung bisher kaum beachtet. Dabei zeugt von seiner prosperierenden Geschichte im Mittelalter ein prächtig illuminierter Kodex. Als Schreiber der 1421 entstandenen Rechtsammlung lässt sich Nicolaus Brevis belegen, die Illuminationen stammen von Johann von Zittau. Nach Abschriften einiger Urkunden und Privilegien bzw. deren volkssprachiger Übersetzung folgt eine Abschrift des Meissener Rechtsbuchs. Die uneinheitliche Graphie der Handschrift lässt vermuten, dass der Schreiber, von dem noch zwei lateinische Handschriften überliefert sind, vielleicht in der Abfassung volkssprachiger Texte unerfahren war. Das Leobschützer Rechtsbuch galt lange Zeit als verschollen, so wurde die Edition auf Grundlage von Schwarz-Weiss-Fotos aus den 1930er Jahren begonnen. Dass der Kodex während des Projektes wieder auftauchte, unterstützte natürlich das Editionsvorhaben und zeigt die verschlungenen Pfade der historischen Überlieferung.

REGINA SCHÄFER stellte das spätmittelalterliche Haderbuch von Oberingelheim (1476-1484) vor, dessen Edition geplant ist. Sie betonte, dass am Ende des 15. Jahrhunderts das Gerichtsbuch nicht mehr nur für den internen Gebrauch des Gerichtsschreibers bestimmt war, sondern gleichsam Gedächtnis des Gerichts und des ganzen Dorfes wurde und auch als Beweismittel diente, das man immer wieder heranzog. Der Gerichtsschreiber protokollierte daher die Aussagen bei Prozessen fast wörtlich, was neue Auswertungsmöglichkeiten zulässt. Zugleich diente das Gerichtsbuch aber als Verwaltungsdokument, in das man Ansprüche auf noch ausstehende Zahlungen festschreiben ließ (zur Fristwahrung), so dass das Gerichtsbuch neben den ausführlich geschilderten Gerichtsverhandlungen eine Fülle von seriellen Einträgen enthält. Das „Vollgericht“ tagte in mehrwöchigen Abständen; die formalen Einträge mit denen die Fristen bei Heischungen gewahrt wurden oder Rechtsansprüche eingetragen wurden fanden vor einem kleineren Rumpfgericht statt. Die Auswertungsmöglichkeiten dieser Quelle zeigte Schäfer vor allem an drei Bereichen auf: dem Sozialgefüge innerhalb des Dorfes bis hin zu Möglichkeiten der sozialen Schichtung, dem Zusammenleben in der Dorfgemeinde mit zahlreichen Facetten und dem Verhältnis der Ingelheimer zum Pfalzgrafen als Ortsherrn. Einen Schwerpunkt legte sie dabei auf den Umgang des Gerichts mit Delikten, die den Dorffrieden gefährdeten, von der öffentlichen Beleidigung bis zur Messerstecherei. Sie betonte, dass das Dorfgericht sich ganz in mittelalterlicher Tradition eher als Schlichtungsinstanz sah. Gerade die prominenten Verletzungen des Dorffriedens wurden vom Gericht nicht verfolgt sondern außergerichtlich beigelegt.

Der Vortrag von SIGRID SCHMITT stand unter dem Titel „Die Haderbücher im Spektrum ländlicher Rechtsquellen – Quellentypen und Auswertungsmöglichkeiten“. Dabei ging es in einem ersten Teil um die Einordnung der ländlichen Rechtsquellen in die politische Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Im zweiten Teil ihrer Ausführungen stellte Schmitt die Charakteristika der wichtigsten Quellentypen Weistümer, Dorfordnungen und Polizeiordnungen sowie der Gerichtsbücher vor. Sie betonte, dass diese Quellen geradezu ein „Aushandeln von Herrschaft“ widerspiegelten. Zwischen den verschiedenen Herrschaften, ihren adligen- und nichtadligen Vertretern und der in sich ja doch sehr heterogenen Dorfgemeinschaft bildete sich in Hinblick auf die Rechtsgewohnheiten eine durchaus dynamisch zu verstehende Dreiecksbeziehung. Diese fand ihren Ausdruck in den verschiedenen Symbolen und Ritualen, die den Rechtsakt begleiteten und spiegelte sich im Umgang und Konfliktverhalten. Gegenüber den eher normativen ländlichen Rechtsquellen bieten die Gerichtsbücher hier einen viel direkteren Einblick in die alltägliche Kommunikation und Interaktion auch von Herrschern und Beherrschten.

Die Interdisziplinarität der Tagung unterstreichend beleuchtete Rudolf Steffens die Rechtsquellen Rheinhessens abschließend aus sprachgeschichtlicher Sicht. In seiner Datenbank zur Mainzer Sprachgeschichte hat Steffens mit über 170.000 Datensätzen eine breite Basis, um die Entwicklungen der spätmittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Stadtsprache in Mainz und Umgebung auch mit statistischen Mitteln darstellen zu können. Während die aus Mainzer Klöstern stammenden Quellen kaum dialektale Einfärbungen zeigen, konnte Steffens anhand der Haderbücher anschaulich die Unterschiede zwischen Schriftsprache und gesprochener Sprache darlegen, beispielsweise bei neuhochdeutschen Diphtongierungen, Entrundungen oder Velarisierungen. Die Haderbücher zeigen sich folglich eher umgangssprachlich geprägt. Dies könnte mit der mündlichen Kommunikationssituation der Gerichte zusammenhängen.

Die interdisziplinär erarbeiteten Ergebnisse der Mainzer Arbeitstagung zeigen deutlich, wie lohnend die weitere Beschäftigung mit den Ingelheimer Haderbüchern ist. Um diese spannende Quelle einem breiteren wissenschaftlichen wie interessierten Publikum zu öffnen, ist eine Edition eines Haderbuches in Vorbereitung. Neben der Transkription und einer Übertragung des Textes in modernes Deutsch ist auch ein kommentierender Begleitband geplant.

Konferenzübersicht:

Franz J. FELTEN, Harald MÜLLER: Begrüßung und Einführung
Werner MARZI: Die Ingelheimer Gerichte und ihre Bücher –
Vorbemerkungen zu einem Editionsprojekt
Jürgen OPITZ: Codikologie und Quellenwert der frühen
Haderbücher
Dietlinde MUNZEL-EVERLING: Zum Verhältnis zwischen
Kaiserrecht und Ingelheimer Rechtsquellen
Carl HOFFMANN: Städtische Gerichtsbücher – das Beispiel
Augsburg
Gunhild ROTH: Das Leobschützer Rechtsbuch
Regina SCHÄFER: Ein spätmittelalterliches Haderbuch
(1476-1484) als sozialgeschichtliche Quelle
Sigrid SCHMITT: Die Haderbücher im Spektrum ländlicher
Rechtsquellen. Quellentypen und Auswertungsmöglichkeiten
Rudolf STEFFENS: Rechtsquellen Rheinhessens aus
sprachgeschichtlicher Sicht