Konstanzer Meisterklasse 2008 – „Construction and Boundaries“

Konstanzer Meisterklasse 2008 – „Construction and Boundaries“

Organisatoren
Bernhard Giesen (Universität Konstanz; Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“)
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.06.2008 - 24.06.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Ana Mijic, Institut für Soziologie, Universität Wien

Das Konzept der „Meisterklasse“
Ist von einer „Meisterklasse“ die Rede, denkt man zuallererst an den künstlerischen Bereich. Die Konstanzer Meisterklasse, begründet von BERNHARD GIESEN (Konstanz), Lehrstuhlinhaber für Makrosoziologie an der Universität Konstanz, bietet jedoch seit 1999 ein Forum, innerhalb dessen der akademische Nachwuchs unterschiedlicher Disziplinen mit renommierten Wissenschaftlern in einen Dialog treten kann. Dieser Generationenaustausch ist das zentrale und auszeichnende Charakteristikum der darüber hinaus international sowie interdisziplinär angelegten Konstanzer Meisterklasse.

In diesem Jahr fand die Meisterklasse bereits zum zweiten Mal innerhalb des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ statt. Vom 16. bis zum 24. Juli kamen insgesamt 25 Doktoranden und Postdoktoranden aus neun verschiedenen Ländern zusammen, um sich der Thematik „Construction and Boundaries“ zu widmen. Zu einer Bewerbung um die Teilnahme an der Meisterklasse wurden diese nicht zuletzt durch die prominenten Namen der diesjährigen „Meister“ – THOMAS LUCKMANN (Konstanz), JOHN R. SEARLE (Berkeley) und FREDERIK BARTH (Oslo) –motiviert.

Der sich über die Jahre hinweg eingespielten Struktur des Seminars folgend, fanden an den Vormittagen die Vorträge der renommierten Professoren mit anschließender Diskussion statt. Die Nachmittage waren gänzlich den Präsentationen der Teilnehmer gewidmet. Diese stellten in kurzen Inputreferaten ihre aktuellen Forschungsprojekte vor, um sie im Anschluss daran – nach eröffnenden Kommentaren durch die „Meister“ – von der gesamten Gruppe diskutieren zu lassen. Zwischen den einzelnen Programmpunkten blieb genügend Zeit für den informellen Austausch, auch – wenn nicht gar vor allem – mit den „Meistern“.

„Construction and Boundaries“
Der inhaltliche Schwerpunkt der Meisterklasse 2008 lag auf einem gleichermaßen wissenschaftlich wie auch politisch relevanten Thema: der Konstruktion, Reproduktion sowie Transformation sozialer Grenzen.

Soziale Grenzen trennen religiöse, nationale oder ethnische Gruppen – letztere sind Fredrik Barth zufolge lediglich durch die trennende Grenze zu definieren; sie stehen zwischen den Geschlechtern, zwischen Milieus oder zwischen gesellschaftlichen Schichten. Soziale Grenzen können materielle Formen annehmen und sichtbar sein, wie etwa Staatsgrenzen, die Peace Line in Belfast oder die israelische Sperranlage. Doch sie können ebenso ideell existieren und durch Normen, Regeln und Wertvorstellungen aufrechterhalten werden.

Die verschiedensten Formen sozialer Grenzen haben jedoch eines gemeinsam: sie sind sozial, d.h. durch gesellschaftliche Prozesse konstruiert und werden in eben diesen Prozessen reproduziert oder transformiert. Dieser Konstruiertheit bzw. der Frage nach den Prozessen der Konstruktion der Gesellschaft oder gesellschaftlicher Tatbestände näherten sich der Soziologe Thomas Luckmann und der Sozialphilosoph John R. Searle von jeweils unterschiedlichen Perspektiven.

„The Social Construction of Reality“ – die 1966 erstmals veröffentlichte Abhandlung von Peter L. Berger und Thomas Luckmann – sowie die darauf aufbauenden Schriften Luckmanns widmen sich dieser Frage aus der Perspektive einer „empirischen Wissenssoziologie“, die von einer fundamentalen Dialektik des Sozialen ausgeht. In seinen Beiträgen konzentriert sich Luckmann auf die (subjektive) Konstitution von Erfahrung und im Zusammenhang damit auf die Frage nach Möglichkeiten der Rekonstruktion der bereits selbst schon sozial konstruierten Wirklichkeit.

Searle dagegen entwickelt in „The Construction of Social Reality“ aus dem Jahr 1995 eine realistische Ontologie der sozialen Wirklichkeit und grenzt diese soziale bzw. institutionelle Wirklichkeit als konstruierte Wirklichkeit von den so genannten „brute facts“ ab, die von sozialen Wirklichkeitskonstruktionen gänzlich unabhängig sind. Der Sprache kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. So konzentriert er sich in seinen Beiträgen auf die Beleuchtung eben dieser Bedeutung von Sprache für seine Sozialontologie und auf die Frage, was Sprache eigentlich ist sowie schließlich und darauf aufbauend auf die Struktur sozialer Institutionen.

Mit ähnlichen Fragen befasste sich auch der Ethnologe Fredrik Barth ab Mitte der 1960er Jahre. Mit dem mittlerweile zum Klassiker gewordenen Band „Ethnic Groups and Boundaries“ leiteten er und seine Mitstreiter eine Wende in der Forschung über Ethnizität ein: nicht die Kultur bestimme eine ethnische Gruppe, sondern Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibung, d.h. letztlich die sozial konstruierte Grenze zwischen zwei Gruppen. Diese in der wissenschaftlichen Diskussion über Ethnizität zwischenzeitlich weit verbreitete These leiteten die Autoren um Barth aus einer Vielzahl von ethnographischen Studien ab. „Von der Feldforschung zur Theorie“ ist das zentrale Gebot des norwegischen Wissenschaftlers. So waren seine Beiträge über Traditionen von Wissen und den Zusammenhang zwischen Ethnizität und Identität in der Meisterklasse geprägt von großer empirischer Anschaulichkeit. Seine Berichte „aus dem Feld“ standen im starken Kontrast zu den Vorträgen von Luckmann und Searle und faszinierten aufgrund der Nähe zum jeweiligen „Forschungsobjekt“ die gesamte Gruppe.

Präsentationen der Fellows
Die Beiträge der Fellows waren thematisch und disziplinär breit gefächert. Es wurden Dissertations- oder allgemein Projektvorhaben ebenso wie bereits abgeschlossene Arbeiten präsentiert.

Ein Schwerpunkt lag auf der theoretischen Auseinandersetzung vor allem mit John Searles Arbeiten. Diskutiert wurde einerseits sein Verständnis von Intentionalität aus philosophischer Perspektive (PAVLA TORACOVA, Prag), und andererseits in Kontrastierung mit Alfred Schütz’ und Thomas Luckmanns Phänomenologie und George Herbert Meads Sozialpsychologie – letzteres mit dem Ziel, aufzuzeigen, dass es konstitutive Regeln gibt, die Grenzen zwischen verschiedenen Disziplinen begründen und aufrechterhalten (WERNER BINDER, Konstanz). Im Rahmen eines weiteren Beitrags wurden Searles Begriffe „participation-dependence“ und „observer-dependence“ diskutiert, und es wurde dafür plädiert, die Unterscheidung zwischen „brute facts“ und institutionellen Tatsachen daran festzumachen, dass letztere „participation-dependent“ seien (MICHAEL SCHMITZ, Konstanz).

Ein großer Teil der Präsentationen bewegte sich im thematischen Feld von Ethnizität, Rasse, Nation und nationaler Zugehörigkeit. So wurde etwa aus literaturwissenschaftlicher Perspektive der Frage nachgegangen, wie „Rasse“ in neuen US-amerikanischen Romanen – die implizit auch die Frage aufwerfen, inwieweit die USA ein „post-race“-Zeitalter erreicht haben – thematisiert wird (EVA GRUBER, Konstanz). Die Ethnisierung der Vergangenheit stand im Mittelpunkt einer archäologischen Präsentation, in deren Rahmen auch Möglichkeiten und Grenzen interdisziplinärer Forschung diskutiert wurden (GHEORGHE ALEXANDRU NICULESCU, Bukarest). In drei weiteren Präsentationen wurden nationale Identität, ethnische Grenzen und Konflikte mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – Globalisierungsprozesse in Irland (MARTIN SAUTER, Dublin), Transformation von Deutungsmustern in Bosnien und Herzegowina (ANA MIJIC, Wien) sowie „Hegemonie, Ideologie und Politik der Angst in geteilten Gesellschaften“ (HERBERT PREISS, Wien) – thematisch. Ein Vortrag beschäftigte sich mit dem Film „Subission Part One“ der niederländischen Politikerin Ayaan Hirsi Ali und dem getöteten Filmemacher Theo van Gogh sowie der „Person“ Hirsi Ali, um anhand dieser Auseinandersetzung die politische Dynamik hinsichtlich des „Anti-Islamismus“ in den Niederlanden aufzuzeigen.

Des Weiteren wurden die Ergebnisse einer 18-monatigen ethnographischen Untersuchung über ukrainische Migrantinnen in Norditalien vorgestellt, die aufzeigen, wie Migrantinnen ihre sexuelle Identität in der Öffentlichkeit „performen“, indem sie bestimmte, fest definierte Rollen ausüben (MARTINA CVAJNER, Bologna).

Dass Grenzen bzw. Grenzziehungen nicht nur im Kontext nationaler, ethnischer oder kultureller Grenzen gedacht werden können, zeigt sich auch an der Bandbreite der Beiträge: So wurden etwa die Grenze zwischen „celebrities“ und „normalen“ Menschen anhand der (medialen) Geschehnisse rund um die Schwangerschaft von Jamie Lynn Spears, der minderjährigen Schwester von Britney Spears, thematisiert (ELIZABETH BREESE, Yale), oder die Grenze zwischen Lärm und Musik anhand der Beschäftigung mit so genannter „Noise Music“ (JOSEPH KLETT, Yale). Schließlich ging ein weiterer, stadtsoziologischer Beitrag der Frage nach, wie „Orte“ als sozial konstruierte und kulturelle Variablen mit „Zeit“ interagieren (DOMINIK BARTMANSKI, Yale).

Trotz einer großen Bandbreite an Präsentationsthemen bewegten sich die Diskussionen rund um die einzelnen Beiträge, deren Schnittmenge die Konstruktion, Reproduktion und Transformation sozialer Grenzen war, stets auf einem hohen Niveau. Dies ist wahrscheinlich nicht zuletzt auf die für die Meisterklasse charakteristische Interdisziplinarität und Internationalität sowie auf das große Interesse aller Teilnehmer an der diesjährigen Thematik zurückzuführen.

Fazit
Die Meisterklasse 2008 zeichnete sich durch ein hohes Maß an Diskussionsengagement der Teilnehmer aus. Geprägt waren die Diskussionen aber immer auch durch die sehr unterschiedlichen Ausrichtungen der diesjährigen Meister: während Luckmann und Searle theoretisch kaum eine gemeinsame Basis fanden, unterschied sich Barth von beiden durch seine ausgeprägt empirische Annäherung an die Thematik.

Nichtsdestotrotz waren die Beiträge und Kommentare der Professoren für die Teilnehmer, und im Besonderen für die Präsentierenden – sicherlich auch abhängig vom eigenen Forschungsinteresse in unterschiedlichem Ausmaß – sehr bereichernd.

Hervorzuheben bleibt schließlich noch die überaus kollegiale Atmosphäre innerhalb der Gruppe, die nicht zuletzt von der großzügigen Zeitplanung von Seiten der Organisatoren positiv beeinflusst wurde.

Konferenzübersicht

16. Juni 2008
Auftaktveranstaltung
Thomas Luckmann (Konstanz): Constitution of Experience I

John R. Searle (Berkeley): Language and Social Ontology

17. Juni 2008
Thomas Luckmann (Konstanz): Constitution of Experience II

Ana Mijić (Wien): “Hurt Identities?” Transformation of Patterns of Interpretation in Ethnicized Post-War Societies

Martina Cvajner (Bologna): The Sexualized Self in Public Spaces: Immigrant Women in Northern Italy

18. Juni 2008
John R. Searle (Berkeley): What is Language?

Kirsten Kraus (Yale): Surrounded by Abjection: Constructing and Rupturing the Discursive Coherence of the Modern Nation State

Joseph Klett (Yale): The Ears Remain Open: Toward the Social Definition of Noise

19. Juni 2008
John R. Searle (Berkeley): The Logical Structure of Social Institutions

Pavla Toracova (Prag): To be Able to Do and to Have the Right to Do

20. Juni 2008
John R. Searle (Berkeley): Applications of the Theory: Political Power and Human Rights

Werner Binder (Konstanz): Intentionality, Construction and Scientific Boundaries

Marc De Leeuw (Utrecht/Yale): The Civilization Spectre in Liberalism and Tolerance: A Dutch Treat

Michael Schmitz (Konstanz): The Construction of Social Reality: Participation-Dependence vs. Observer-Dependence

22. Juni 2008
Fredrik Barth (Oslo): Traditions of Knowledge: An Anthropological Analysis

Gheorge A. Niculescu (Bucharest): Some Interdisciplinary Practices and the Ethnicization of the Past

Eva Gruber (Konstanz): Straddling the Boundaries of Racial Thinking

23. Juni 2008
Fredrik Barth (Oslo): Ethnicity and Identity

Dominik Bartmanski (Yale): Cityspace in Time. The Iconic Construction of Emplacement

Elizabeth Breese (Yale): Iconic Anxiety: Social Performance and the Underage Pregnancy of Jamie Lynn Spears

24. Juni 2008
Fredrik Barth: Political Action in the Pashtun Areas of Afghanistan: System or Turmoil?

Martin Sauter (Dublin): Construction and Management of Boundaries in Globalising Societies

Herbert Preiss (Wien): Hegemony, Ideology, and the Politics of Fear in Divided Societies

Kontakt

Ana Mijic
Institut für Soziologie, Universität Wien
Rooseveltplatz 2
A-1090 Wien
Tel.: +43 (1) 4277-49243
E-Mail: <ana.mijic@univie.ac.at>


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