HT 2008: Vergangenheitsnarrative – Narrations of the Past

HT 2008: Vergangenheitsnarrative – Narrations of the Past

Organisatoren
Mary Fulbrook, Christiane Winkler, University College London; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
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Von
Martina Steber, Deutsches Historisches Institut London

Während im Hörsaal nebenan über die deutsche Revolution 1989/90 debattiert wurde und Erinnerungen von Zeitzeugen und professionelle Deutungen aufeinandertrafen, reflektierten Historikerinnen und Historiker aus Großbritannien über die Bedeutung von erzählter Vergangenheit für die Geschichtsschreibung im Allgemeinen und die Erinnerungskulturen der Bundesrepublik und der DDR im Besonderen. In der Sektion „Vergangenheitsnarrative“ stellten sie an vier ausgewählten Beispielen ihren gleichnamigen Ansatz zur Diskussion.

Ausgehend von der Einsicht in den Konstruktcharakter von Erinnerung betonten sie die Bedeutung narrativer Strukturen und Prozesse für den individuellen wie kollektiven Umgang mit Vergangenheit. Julia Riddiford, Christiane Winkler, Mary Fulbrook und Bill Niven gingen im Wesentlichen drei Leitfragen nach: Sie suchten erstens die historische Bedingtheit von Vergangenheitsnarrativen zu verfolgen. Zweitens stellten sie Überlegungen zur Verbindung von individueller und kollektiver Erinnerung an. Drittens reflektierten sie über die Interdependenz von Struktur und individueller Handlung. Ihren Angelpunkt fanden sie in der Fokussierung auf die Erzählung als Mittel zur Aktualisierung von Vergangenheit, die unter anderem durch kulturell geprägte Regelhaftigkeit, formale Gebundenheit und eine spezifische Topik charakterisiert sei. Vergangenheitsnarrative, so Julia Riddiford in ihrer Einführung, hätten sich immer wieder neu zu verorten im Spannungsfeld von Faktizität und Fiktion. Werde ein akteursorientierter Akzent gesetzt, so könne über eine solche erzähltheoretisch inspirierte Forschungsperspektive die Interdependenz von Identitäts- und Vergangenheitskonstruktion aus neuer Warte in den Blick genommen werden.

Es wurde durchweg work in progress vorgestellt, und die Vortragenden wollten die Sektion ganz ausdrücklich als Problemaufriss denn als ausgefeilte Vorstellung eines Konzepts oder gar neuen Paradigmas verstanden wissen. Dementsprechend näherten sie sich auf unterschiedlichen Wegen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln dem Sektionsthema. Während Bill Niven sich mit der Literatur über Flucht und Vertreibung seit den 1950er-Jahren auseinandersetzte und sich damit auf klassische narrative Angebote konzentrierte, die auf den öffentlichen Raum zielten, gingen Julia Riddiford, Christiane Winkler und Mary Fulbrook von individuellen Vergangenheitskonstruktionen aus und interessierten sich für die gegenseitige Durchdringung von individueller und kollektiver Ebene. Alle Vorträge kreisten um die spätere Erinnerung an das NS-Regime und den Holocaust.

Dass das Sprechen über Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung in Osteuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Bonner Republik wie in der DDR (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) ein Tabu gewesen sei, gehört zu den Topoi der gegenwärtigen Diskussion. BILL NIVEN (Nottingham Trent University) entlarvte diesen Topos indes selbst als „erzähltes Konstrukt“. Die Annahme, dass das Thema ausgespart worden sei, sei gerade das eigentlich Interessante, für das er unterschiedliche Erklärungsansätze bot: Unter Verweis auf Foucault wollte er es als Streben nach diskursiver Hoheit verstanden wissen und vermutete gleichzeitig eine Rekontextualisierung des Themas nach dem Tod der unmittelbar Betroffenen. In erzähltheoretischer Perspektive folge die Tabubehauptung der Logik des bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigungsdiskurses.

Statt über die Erfahrung gewaltsamer Vertreibung zu schweigen, begann die Literatur der Bundesrepublik und der DDR unmittelbar nach den Ereignissen, so Niven, von ihnen zu erzählen. In der jungen Bundesrepublik wurde die Vertreibungsliteratur gefördert. Sie erschien bei namhaften Verlagen, wählte zwar in überwiegendem Maße die erzählerische Form, doch konstituierte sich auch in Lyrik und Drama und brachte nicht nur Triviales hervor. In den 1970er-Jahren ebbte das Interesse temporär ab, was Niven auf den Einfluss der Neuen Ostpolitik zurückführte, im folgenden Jahrzehnt schwoll es dann aber wieder an. Obschon das Thema in der bundesrepublikanischen Literatur prominenter belegt wurde als in der ostdeutschen, finden sich in vielen DDR-Romanen trotz der engen Grenzen, die das SED-Regime dem Schreiben über die „Bruderstaaten“ setzte, Hinweise auf die Gewalterfahrung der deutschen Bevölkerung am Ende des Krieges.

Seiner Forderung nach einer „Morphologie der Literatur zu Flucht und Vertreibung“ suchte Niven über einen ersten großflächigen Aufriss näherzukommen, in dem er vor allem die Verwobenheit der literarischen Erzählung über Flucht und Vertreibung mit der deutschen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime aufzeigte. Beschrieben die Romane der frühen Bundesrepublik1 das Leiden der Vertriebenen in narrativer räumlicher Synchronizität mit dem von Juden oder Wehrmachtssoldaten, beschwor die ostdeutsche Literatur2 die Deutung eines universellen Leidens. Ost- und westdeutschen Narrativen gemein war die Darstellung eines kollektiven Martyriums, die Niven als Mittel der Schuldabwehr deutete. Die Romane seit den 1960er-Jahren setzten genau an diesem Punkt an: Sie erzählten ihre Geschichte in weiter diachroner Perspektive, so dass Flucht und Vertreibung entweder als tragisches Schlusskapitel einer langen deutschen Siedlungsgeschichte erschienen, wie etwa bei Siegfried Lenz, oder als Scharnierstelle der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts interpretiert wurden. Das Bekenntnis zu deutscher Verantwortung erhielt im Rahmen dieser neu arrangierten narrativen Struktur bald topische Gestalt. Im neuen Interesse an solcher Literatur am Ende der 1970er- und in den 1980er-Jahren wollte Niven eine „zweite Flucht“ erkennen, eine mentale Flucht mithin in die „verlorenen Landschaften des Ostens“. Sie verband sich mit der Neukontextualisierung des „Heimatromans“ zum „Heimatverlustroman“, so dass Niven Edgar Reitz’ „Heimat“ in diesen Kontext als Abwendung vom Osten und als Aussöhnung mit der „Heimat“ im Westen analytisch einzupassen suchte. Die literarischen Erzählungen nach 1989/90 verschoben ihren Fokus auf die Nachkriegszeit, um mit dem „Mythos von der gelungenen Integration“ aufzuräumen und die Leiden der zweiten und dritten Generation zu akzentuieren. Nach Nivens historischem Durchgang durch die Literatur zu Flucht und Vertreibung blieb ihm nur mehr die Beobachtung übrig, dass es die direkte Empfindung des Leidens war, über die bislang nicht erzählt wurde. Der angebliche Tabubruch ist in dieser Lesart nichts anderes als eine abermalige Verschiebung in der Tektonik einer über sechs Jahrzehnte hinweg tradierten Erzählung.

Streng formalisierten Konstruktionen von Narrativen nahm sich JULIA RIDDIFORD (University College London) an, die nach Vergangenheitsnarrativen in westdeutschen Justizverfahren zur Ahndung von Verbrechen im NS-Regime im Allgemeinen und der Rolle von sogenannten „Nazijägern“ im Besonderen fragte. Gerichtsverfahren verstand sie als komplexes Geflecht individueller und kollektiver Narrative, aus denen nach verfahrensrechtlichen Vorgaben ein Narrativ zu schaffen sei, das eindeutig und faktengestützt zu sein und allein dem Nachweis individueller Schuld zu dienen habe. Das dabei entstehende Narrativ sei ein „Kondensat unterschiedlicher Teilnarrative“, dem deren Widersprüche weiterhin inhärent seien. Aus der Vielzahl von Narrativen griff Riddiford drei heraus und analysierte sie in ihrer Wechselwirkung: das Ermittlernarrativ, das Zeugennarrativ und das Narrativ der „Nazijäger“. Das Ermittlernarrativ zeichnete sich durch Standardisierung und Formalisierung aus, enthielt Fragezeichen und Lücken und präsentierte letztlich eine Version des „wie es gewesen sein könnte“. Die ermittelnden Staatsanwälte arbeiteten auf den einzelnen Prozess hin, stellten Fragen an die Vergangenheit, die allein auf den Nachweis individueller Schuld zielten, und beschäftigten sich folglich mit der NS-Geschichte nur als Mittel zum Zweck.

Zeugennarrative hingegen, die in Form von Vernehmungen und Gerichtsaussagen in das Gesamtnarrativ Eingang fanden, widersetzten sich oftmals den juristischen Vorgaben und Notwendigkeiten. Weil die Überlebenden der Shoa mit den traumatischen Erlebnissen zurande zu kommen versuchten, mit größtem Unbehagen vor ein deutsches Gericht traten und ihre Erinnerung in hohem Maße emotional geprägt war, passten sie sich selten in das Narrativ ein, das die Ermittler konstruiert hatten. Jene standen der Erinnerung der Verfolgten kritisch gegenüber, gaben Akten und Dokumenten Vorrang und ließen Zeugen nicht zu, deren Erzählungen die Verurteilung des Angeklagten gar gefährden konnten, weil die Logik individueller Vergangenheitsnarration den juristischen Regeln zuwiderlief.

Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der sogenannten „Nazijäger“ für die Verfahren offensichtlich: Sie vermittelten zwischen Zeugen und Staatsanwaltschaft, erklärten den Opfern der NS-Herrschaft die juristischen Vorgänge und unterstützen gleichermaßen die Ermittler, etwa wenn Akten aus den Staaten des Warschauer Paktes benötigt wurden. Dies galt in besonderem Maße für die erste Generation von „Nazijägern“, wie Simon Wiesenthal oder Hermann Langbein, die selbst Überlebende der Shoa waren und im Mittelpunkt von Riddifords Analyse standen. Über die Zeit professionalisierte sich deren Arbeit. Zunehmend orientierten sie sich an den für die juristischen Ermittlungen bedeutenden Eckpunkten. Ihre Narrative passten sich damit dem Ermittlernarrativ immer stärker an. Trotz der teilweise engen Zusammenarbeit entspannen sich wiederholt tiefgreifende Konflikte zwischen Staatsanwaltschaften und „Nazijägern“. Nicht nur wurde ihnen vorgeworfen, über die Beeinflussung von Zeugen und Medien den Ausgang der Prozesse lenken zu wollen und damit die Strategien der Ankläger zu durchkreuzen, vielmehr hatten sie in der Logik der Massenmedien zu handeln, waren auf Publizität schon allein aus finanziellen Gründen angewiesen. Die dort verlangten Narrative mussten andere sein als jene, die im formalisierten juristischen Prozess angezeigt waren. Doch auch wenn das Ermittlernarrativ den Prozess dominierte, lernten die Staatsanwälte von den „Nazijägern“: Sie adaptierten Techniken der medialen Selbstdarstellung und veränderten damit auch ihre in der medialen Öffentlichkeit vertretenen Vergangenheitsnarrative. Im komplexen Geflecht von individueller Erinnerung, juristischer Konstruktion und medial konstituiertem öffentlichen Diskurs bündelten die Verfahren zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen daher individuelle und kollektive Erzählungen über die Vergangenheit. Und mehr noch: Sie schufen selbst solche Vergangenheitsnarrative.

CHRISTIANE WINKLER (University College London) wählte die Autobiographie Bernt von Kügelgens, um detailliert der Konstruktion eines Vergangenheitsnarrativs im Schnittpunkt von individueller Erinnerung, geschichtspolitischem Interesse und ideologischer Überzeugung nachzugehen und dessen Adaption bzw. Abwehr im öffentlichen Raum zu analysieren. Anstelle der Differenzierung von individueller und kollektiver Erinnerung plädierte sie für ein vielschichtiges Modell von „Erinnerungsnetzwerken“, das das Zusammenspiel von „Erinnerungsproduzenten und -konsumenten“ (Wulf Kansteiner) und den interessegeleiteten Handlungsaspekt hervorhebt.

Bernt von Kügelgen (1914-2002) gehörte zu jenen Mitgliedern des „Nationalkomitees Freies Deutschland“, die wichtige Funktionen in der DDR besetzten. Von 1957 bis 1976 fungierte er als Chefredakteur der kulturpolitischen Wochenzeitschrift „Sonntag“, war Informeller Mitarbeiter der Stasi und Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere“. Seine Autobiographie, die 1983 in der DDR („Nacht der Entscheidung. Erinnerungen an Familie und Jugend“) und 1984 als unveränderte Lizenzausgabe in der BRD („Nacht der Entscheidung. Der Weg eines deutschen Offiziers zum Nationalkomitee Freies Deutschland“) erschien, erzählt seine persönliche „Konversion“ vom Offizier in der nationalsozialistischen Wehrmacht zum antifaschistischen Widerstandskämpfer und späteren KPD-Mitglied während seiner Zeit in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zwischen 1942 und 1945. Neben der Adaption des in der DDR gängigen Narrativs von der „antifaschistischen Konversion“ bestimmte ein zweites Narrativ Kügelgens Autobiographie: die Integrationsgeschichte eines Bürgerlichen und von Bürgerlichkeit in den sozialistischen Staat und die sozialistische Gesellschaft. Dabei griff Bernt von Kügelgen auf die Autobiographie eines Vorfahren als Beispiel einer bürgerlichen Bildungserzählung aus humanistischem Geist zurück und knüpfte so an eine in der DDR immer wieder bemühte humanistische Bildungstradition an. Neben der für Zensur zuständigen Instanzen, dem Verlag und den Gutachtern hatte die Antizipation von (politischen) Reaktionen in Ost- und Westdeutschland Einfluss auf die autobiographische Erzählung.

Während in der Bundesrepublik die öffentliche Reaktion ablehnend und kritisch war, zeigten die individuellen Leserreaktionen ein disparates Bild, das von Zustimmung bis zu entschiedener Abwehr ging. In der DDR dagegen wurde das Werk – kaum überraschend – positiv aufgenommen, wobei besonders Männer im Alter von Kügelgens in dem angebotenen Vergangenheitsnarrativ Anknüpfungspunkte an die eigene Biographie fanden und die vermeintliche Authentizität des Dargestellten unterstrichen. Sowohl der „Erinnerungsdiskurs“ wie die „persönliche Haltung“, so folgerte Winkler, nähmen Einfluss auf die individuelle Rezeption der autobiographischen Erzählung. Als sich mit der Revolution 1989/90 der politische und ideologische Rahmen änderte und von Kügelgens Erzählung in der Öffentlichkeit der Berliner Republik kaum mehr plausibel erschien, suchte er sein persönliches Vergangenheitsnarrativ den veränderten Bedingungen anzupassen. Doch trotz mancher Konzessionen an die veränderte Situation: Er hielt an seiner antifaschistischen und sozialistischen Überzeugung fest. Die Struktur der Konversionserzählung veränderte von Kügelgen nicht. Diese war, so schloss Winkler, daher nicht allein rhetorisches Konstrukt, um in der geschichtspolitischen Landschaft der DDR Erfolg zu haben, sondern gehörte zum Kern von Kügelgens Identitätsentwurf.

Die Autobiographie Bernt von Kügelgens, so resümierte Winkler, ist als „prozesshaftes Erinnerungsprojekt“ zu lesen, in dem sich „unterschiedliche Stränge eines komplexen Erinnerungsnetzwerkes“ verdichteten. Es integrierte und antizipierte Topoi und narrative Angebote des öffentlichen Diskurses, prägte diesen aber gleichermaßen mit. Individuelles und kollektives Erinnern sind aus dieser Sicht eng miteinander verknüpft und werden von den Akteuren entscheidend mitgeprägt. Drei Modi von Erinnerung identifizierte Winkler davon ausgehend abschließend: Historisierung (das Ziel, die öffentliche Geschichtskonstruktion zu beeinflussen), Memoralisierung (die Tradierung von Vergangenheit in kontextgebundener Form) und Aktualisierung (Einpassen von Erinnerung in aktuelle, politische und soziale Kontexte). In wechselseitiger Verschränkung bestimmten und dynamisierten sie den „sozialen Handlungskomplex“ Erinnerung.

Über die Verbindung der Konzepte „Vergangenheitsnarrativ“ und „Generation“ gelangte MARY FULBROOK (University College London) zu neuen Perspektiven auf die Geschichte der DDR. Geleitet von einer streng auf das Individuum und individuelles Erleben konzentrierten Sichtweise („history from within“) wollte sie Generationenanalyse nicht als Erklärung, sondern als Ansatz verstanden wissen. Generation sei zum einen „Realität“ in einer historischen Situation, die an den Einzelnen bestimmte Herausforderungen herantrage und das Individuum zu Entscheidungen zwinge. Struktur und Individuum verschränkten sich demnach in der historischen „Ereignisarena“. Wichtiger als individuelle Motive und Intentionen seien, so Fulbrook, daher die strukturelle und kulturelle Verfügbarkeit des Einzelnen für Prozesse der politischen Mobilisierung, die Potenziale von innerer Distanz genauso wie zu Rollenspielen beinhalte.

Zum anderen aber sei Generation eine retrospektive Konstruktion, die in späteren Diskursen über „unsolved issues“ der Vergangenheit, über die oben beschriebenen individuellen Schlüsselsituationen mithin, im Nachhinein „geboren“ werde. Generation als Vergangenheitsnarrativ werde von einer kleinen, diskursmächtigen Gruppe konstruiert und erst dann wirkmächtig, wenn diese Erzählung als Deutungsangebot individuellen Erlebnissen und prägenden Erfahrungen einen sinnvoll erscheinenden Rahmen zu geben vermöge. Das kollektive Gedächtnis sei daher, so folgerte Fulbrook, im Gegensatz zu den von Jan und Aleida Assmann oder Harald Welzer vorgeschlagenen Definitionen, zu verstehen als Kombination von „Engrams“, individuellen „Bildern im Kopf“, und narrativen Deutungsstrukturen, die in einem bestimmten historischen Kontext sozial vermittelt und ausgehandelt werden und zu historischer Bedeutung gelangen können.

Am Beispiel der prominenten „Kriegsjugendgeneration“ (Geburtsjahrgänge 1900-1912), der „ersten HJ-Generation“ (Geburtsjahrgänge 1913-1924) sowie der „zweiten HJ-Generation“ (Geburtsjahrgänge 1925-1932) – letztere mochte Fulbrook als „1929er“ bezeichnet wissen – veranschaulichte die Londoner Historikerin ihre theoretischen Prämissen. Im Besonderen suchte sie zu erklären, warum in der DDR Angehörige des Jahrgangs 1929 in hohem Maße öffentliche Funktionen bekleideten, während die „Kinder des Dritten Reiches“, worunter sie die Geburtsjahrgänge 1933 bis 1945 fasste, sich in den sozialistischen Einparteienstaat nicht an vorderster Stelle einbinden ließen. Auf einer breiten Quellenbasis aufbauend, die unter anderem von Tagebüchern über Autobiographien und Briefe bis hin zu 271 Fragebögen und 40 qualitativen Interviews reichte, identifizierte Fulbrook drei Gründe für das Engagement der „1929er“: erstens demographische Faktoren, zweitens politisch-strukturelle Karrieremöglichkeiten für vorgeblich „Unbelastete“ und für jene, die nicht in den Westen geflüchtet waren, in der frühen DDR und drittens lebensgeschichtliche Deutungen und Vergangenheitsnarrative. Die Angehörigen dieser Alterskohorte nahmen, so Fulbrook, die DDR als Chance für die Konsolidierung des persönlichen Lebens wahr, aber auch als Angebot, die aus dem jugendlichen Erlebnis der NS-Herrschaft erwachsenden bewussten und unbewussten Schuldgefühle im Einsatz für den sozialistischen Staat abzuarbeiten. Genau hier ortete Fulbrook den entscheidenden Unterschied zu den „Kindern des Dritten Reiches“, die sich von individuellen Schuldgefühlen frei machen konnten. Den Start im „Arbeiter- und Bauernstaat“, als der Aufbau des Staates und die Konsolidierung der persönlichen Lebenssituation zusammenfielen, charakterisierten die „1929er“ als lebensgeschichtlich „gute Zeit“. Das Leben im NS-Regime sowie die Erfahrung von dessen Zusammenbruch wurden dazu in scharfen Kontrast gesetzt und die persönliche Identifikation mit der DDR deshalb nur noch enger. Das aus der Konstruktion von Vergangenheit gespeiste Narrativ diente zur Gestaltung von individueller und kollektiver Zukunft im sozialistischen Staat.

Die ständige Vergegenwärtigung der Vergangenheit sowie ihre konstruierende Aneignung durch die Zeitgenossen sei in die historische Analyse einzubeziehen, appellierte Fulbrook abschließend. Zudem biete sich auf diesem Wege eine Möglichkeit, sowohl strukturelle Analyse als auch lebensgeschichtliche Perspektive in die historische Erzählung zu integrieren.

Die in der Diskussion angesprochene Gefahr, individuellen Selbstkonstruktionen „aufzusitzen“, die Forderung nach Differenzierung von formalen Traditionen der gewählten Textgattung und Strukturen kollektiver Erinnerung, sowie das thematisierte Dilemma, über einen Gegenstand wie „Flucht und Vertreibung“ zu schreiben und gleichzeitig von dessen Konstruktcharakter auszugehen, zielten ins Zentrum der methodischen Schwierigkeiten des vorgestellten Ansatzes „Vergangenheitsnarrative“. Darüber hinaus wurde auf die Problematik des zeitgenössischen Begriffs „Nazijäger“ verwiesen und zudem eine stärkere Historisierung von deren Rolle im Verlauf bundesdeutscher „Vergangenheitsbewältigung“ gefordert.

Der Ansatz wurde im Großen und Ganzen zustimmend aufgenommen und dessen Potenziale in den vier sehr unterschiedlichen Annäherungen der Vortragenden deutlich, auch wenn dieser als gemeinsame Klammer an der einen oder anderen Stelle hätte deutlicher profiliert werden können. Erstaunlich war allerdings, dass Sprache – abgesehen von einem Hinweis Fulbrooks auf die Bedeutung von Sprache für die Internalisierung von gesellschaftlichen Regelsystemen – in keinem der Vorträge eine Rolle spielte. Dass Erzählungen erst sprachlich gefasst wirksam werden, dass die Einpassung von individuell Erzähltem in Diskurszusammenhänge über Begrifflichkeiten und linguistische Strukturen erfolgt, müsste in zukünftigen Untersuchungen, die sich das Konzept „Vergangenheitsnarrativ“ zu eigen machen, mit bedacht werden. Darüber hinaus wäre es sicherlich fruchtbar, über die Gewichtung von „struktureller Verfügbarkeit“ auf der einen und der Bedeutung von Ideologie, von Wertvorstellungen und persönlichen Überzeugungen auf der anderen Seite weiter nachzudenken, wenn Mobilisierung und Selbstmobilisierung in diktatorischen Regimen erklärt werden sollen. Der Konstruktion von Vergangenheit über Erzählungen nachzugehen, eröffnet auch in dieser Hinsicht wichtige weiterführende Perspektiven.

Sektionsübersicht:

Bill Niven (Nottingham): Literatur zu Flucht und Vertreibung im Spannungsfeld des kulturellen Gedächtnisses

Julia Riddiford (London): Konkurrierende Narrative. „Nazijäger“ in westdeutschen Justizverfahren

Christiane Winkler (London): Erinnerter Wandel und Wandel der Erinnerung. Die „Konversions“-Erzählung des Heimkehrers Bernt von Kügelgen

Mary Fulbrook (London): Die Ungleichheit des Gleichzeitigen. Generation, Gedächtnis und Geschichten

Anmerkungen:
1 So z.B. Heinz-Werner Hübner, Das Floß der Vertriebenen, 1954; Herbert Cysarz, Neumond, 1953; Jens Rehn, Feuer im Schnee, 1956.
2 Explizit nannte Niven Fritz Selbmann, Die Heimkehr des Joachim Otto, 1962.