8. Werkstattgespräch: DDR-Planungsgeschichte - Stand und Perspektiven der Planungsgeschichte

8. Werkstattgespräch: DDR-Planungsgeschichte - Stand und Perspektiven der Planungsgeschichte

Organisatoren
Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) Erkner
Ort
Erkner (bei Berlin)
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.01.2003 - 24.01.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Wolfes, Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) Flakenstr. 28-31 15537 Erkner/TU Berlin

I. DDR-Planungsgeschichte in interdisziplinärer Perspektive:

Die Beschäftigung mit der Geschichte der Architektur und des Städtebaus, vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts, stößt hierzulande seit einigen Jahren auf ein zunehmendes Interesse. Man denke dabei etwa an die beiden von der Wüstenrot-Stiftung finanzierten Publikationen, zum einen die voluminöse, fünfbändige Reihe zur "Geschichte des Wohnens" von der Vorgeschichte bis in die Gegenwart 1 sowie an den Band "Villa und Eigenheim" zum Prozess der Suburbanisierung des Wohnens in Deutschland 2 oder auch an die zahlreichen großen Architekturausstellungen wie die im Sommer 2000 im Neuen Museum in Berlin gezeigte Schau zur Baugeschichte der Stadt von 1900-2000 3 oder die vor kurzem zu Ende gegangene Ausstellung über die "Legende" des modernen Bauens, Oscar Niemeyer, im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt. Einen nicht unwesentlichen Anteil an diesem gestiegenen Interesse für die Architektur und Stadtplanung hat dabei die DDR, deren baugeschichtliche Entwicklung stets aufs engste mit der politischen Entwicklung des Arbeiter- und Bauernstaates verbunden sowie politisch-ökonomischen Leitbildern und Zwängen unterworfen war. Vor allem in den 1950er Jahren unterschied sich der Städtebau im Osten Deutschlands wesentlich von dem seines westdeutschen Nachbarn: Auf der einen, östlichen Seite die an den urbanen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts und dem sowjetischen Städtebau orientierte, aber den Erfordernissen des Repräsentationsbedürfnisses der SED unterstellte kompakte Stadt 4, auf der anderen westlichen Seite die aufgelöste, funktionsentmischte und verkehrsgerechte Stadtlandschaft. Die "Stalinallee" (heute Karl-Marx- und Frankfurter Allee) in Berlin ist zu einem Sinnbild für die ostdeutsche Auffassung des frühen sozialistischen Städtebaus geworden. 5 Erst mit der Industrialisierung des Bauens Ende der 1950er Jahre kehrte die DDR zur international-modernen und funktionalen Architektur zurück, entwickelte dabei jedoch eine eigene Architektursprache, die sich von der der Bundesrepublik unterschied. Bei der Betrachtung der physischen Umwelt rückt nun im Zuge des "Cultural Turn" zunehmend auch der Mensch mit in den Blickpunkt der Forschung, einerseits der Akteur, als Architekt oder Stadtplaner, als Parteifunktionär oder auch als für das Bauwesen zuständiger Stadtrat, andererseits als Betroffener, als Bewohner einer Stadt bzw. eines Viertels oder eines Wohngebietes. Themen wie die Handlungsspielräume der Städte in zentralistischen Systemen, die Bildung von staatlicher Legitimation auf der kommunalen Ebene oder auch die Entstehung von Identität mit der Stadt oder dem Viertel nehmen mittlerweile einen breiten Raum in den Forschungsarbeiten ein.

Das Institut für Regionalgeschichte und Strukturplanung (IRS) in Erkner bei Berlin hat sich als Nachfolgeinstitut des Instituts für Städtebau und Architektur der Bauakademie der DDR durch seine Bestände, vor allem aber auch durch seine seit 1997 jährlich stattfindenden Werkstattgespräche, zu einem Schwerpunkt der diskursiven und interdisziplinären Auseinandersetzung mit der Bau- und Planungsgeschichte der DDR entwickelt. In diesem offenen Forum können junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den unterschiedlichen Fachdisziplinen einem interessierten Publikum neue Projekte und Forschungsarbeiten vorstellen und zur Diskussion stellen und sich gegenseitig austauschen. 6

Am 23./24.1.2003 fand das 8. Werkstattgespräch zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR statt, das in diesem Jahr mit einem Forum zum Stand und den Perspektiven der Planungsgeschichte in Deutschland verbunden war. Organisiert wurde die Veranstaltung wie schon im vergangenen Jahr von Christoph Bernhardt (IRS) in Zusammenarbeit mit Harald Bodenschatz vom Schinkelzentrum der TU Berlin. 7
In ihren Begrüßungsansprachen betonten beide die Bedeutung von interdisziplinär angelegter Forschung für den Erhalt und den Ausbau der Siedlungs- und Baugeschichte an Universitäten und wissenschaftlichen Instituten. Angesichts der derzeit jedoch eher zu beobachtenden institutionellen Schwächung der Planungsgeschichte sei eine Standortbestimmung und Perspektivdiskussion überfällig. Beide plädierten für die stärkere Einbeziehung methodischer Reflexionen in den Forschungsdialog und dessen Einbindung in eine "Kultur der Vernetzung" mit dem Ziel, die vorhandenen Möglichkeiten und Ressourcen im wissenschaftlichen Betrieb zu optimieren. Das Schinkelzentrum sei bestrebt, an der TU Berlin eine Vernetzung von internationalen Wissenschaftlern aus den Bereichen Denkmalpflege, Baugeschichte, Städtebaugeschichte und Planungsgeschichte zu etablieren.

Im ersten, von Axel Zutz (Berlin) moderierten Block referierte Peter Fibich (Hannover) über ein an der Universität Hannover angesiedeltes DFG-Projekt zur Entwicklung der Landschaftsarchitektur in der DDR. Die Gartendenkmalpflege habe in Ostdeutschland zwar nur einen kleinen Bereich gebildet, der jedoch aufgrund so herausragender historischer Anlagen wie Sanssouci, Wörlitz oder Muskau einen um so größeren Stellenwert besessen habe und auch international gewürdigt worden sei. Fibich wies zunächst auf die personellen Kontinuitätslinien aus den 1920er Jahren hin, die den Aufbau der Gartendenkmalpflege in der SBZ/DDR nach 1945 prägten. Hier sind vor allem Hermann Schüttauf in Sachsen, Willy Kurth in Potsdam und Kurt Klein in Wörlitz oder auch Heinrich Sulze und Folkwin Wendland in Dessau-Mosigkau zu nennen. Deren Arbeit sei zunächst vor allem auf den Erhalt der Anlagen ausgerichtet gewesen, später habe dann die Weiterentwicklung und die Korrektur von Fehlern der Vergangenheit im Mittelpunkt der Arbeit gestanden, beispielsweise, um verloren gegangene Sichtbeziehungen oder rhythmische Einheiten zwischen Garten und baulichen Anlagen wieder herzustellen. Ziel dieser "Modernisierungspolitik" der Parkanlagen sei im Kontext der sozialistischen Erbepolitik die Inbesitznahme der Gärten durch die Bevölkerung gewesen, teilweise auch durch ihre Umgestaltung zu Kulturparks. Während sich die Arbeit der Gartendenkmalpflege in den ersten Jahren stärker auf die Pflege der Gärten der Renaissance und des Barock gerichtet habe, seien die Landschaftsgärten des 19. Jahrhunderts wie Sanssouci erst etwas später, gegen Ende der 1950er Jahre, vollständig in das Blickfeld der Landschaftsarchitekten geraten. Dieser These wurde in der anschließenden Diskussion allerdings widersprochen. Mit ihrer Institutionalisierung durch den Kulturbund habe die Gartendenkmalpflege seit den sechziger Jahren einen regen Aufschwung genommen, der sich auch in der Herausbildung einer eigenen Methodik widerspiegelte. Als Musterbeispiel für den Umgang mit historischen Gartenanlagen gestaltete sich, so Fibich, in den 1970er Jahren die Restaurierung des Parks von Schloss Rheinsberg, etwa bei der Wiederherstellung des Wörlitzer Gartens 1984. Ein Jahr später, 1985, wurde in der DDR ein Gartendenkmalpflegegesetz verabschiedet. Probleme bereiteten vor allem die zu geringen personellen und materiellen Kapazitäten, die sich in dem Verfall von Anlagen widerspiegelten, aber auch vereinzelte Widerstände gegen die Arbeit der Denkmalpfleger aus der Politik.
"Weder Stadt noch Land" lautete der Titel des Vortrags von Ulrich Wieler (Weimar) über den Entwurf einer "bandstadtartigen" Siedlung für die thüringische Stadt Mühlhausen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von Egon Hartmann, den dieser als Diplomarbeit an der Hochschule für Baukunst und bildende Künste in Weimar erarbeitet hatte. Das in jenen wenigen Jahren bis 1949 herrschende "Aufbruchsklima" sei noch nicht von ideologisch-politischen Einflüssen dominiert worden und habe Architekten und Städtebauern offene Diskussionen über die Zukunft der Stadt ermöglicht, auch wenn die materiellen Voraussetzungen für die Verwirklichung von Bauprojekten nicht gegeben waren. Zentrum dieser freien Diskussion sei die Hochschule in Weimar gewesen. Wieler zufolge konzipierte Hartmann, Schüler Gustav Hassenpflugs, welcher Ende der 1920er Jahre zusammen mit Ernst May in der Sowjetunion an der Planung der Industriestadt Magnitogorsk beteiligt gewesen war, die Erweiterung Mühlhausens als industrielle Kolonie (für die Ansiedlung der aus dem tschechischen Gablonz vertriebenen Arbeiter aus der Glasindustrie), in der optimierte Prozessabläufe den Gegensatz zwischen Kernstadt und Peripherie, zwischen Stadt und Land zugunsten einer optimalen Versorgung und angeglichener Lebensbedingungen beseitigen sollten. Vorbilder für diesen Entwurf ließen sich beispielsweise in den Planungen für die Erweiterung Madrids 1894 oder in der Cité industriell von Tony Garnier und vor allem bei den russischen Desurbanisten wie Miljutins Plan für Nowgorod finden. Verwirklicht worden sei freilich auch Hartmanns Konzeption nicht, und zwar nicht nur wegen des Mangels an Geld und Baumaterial: mit der Verabschiedung der "Sechzehn Grundsätze" 1950 hatten sich die städtebaulichen Determinanten grundlegend geändert.
In der anschließenden Debatte wurde vor allem auf die Rolle Reinhold Lingners für die Gartendenkmalpflege sowie auf Bezüge zwischen Bandstadt- und Zwischenstadt-Konzepten hingewiesen.

Im zweiten Block, in dem Thomas Topfstedt (Leipzig) die Moderation übernahm, berichtete Cordula Zeidler (London) über die Geschichte der Prager Straße in Dresden, die nach dem erneuten städtebaulichen Paradigmenwechsel in der DDR in den 1960er Jahren als Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Stadtzentrum gewissermaßen als ein inszeniertes Foyer der Stadt entstanden war. Unter Rückgriff auf Foucaults utopische Räume skizzierte Zeidler diesen nüchternen Vorzeige-Konsumentenboulevard als "sozialistische Welt im Kleinen", als abgekapseltes Abbild und Überholung der sozialistischen Idee, in der der neue sozialistische Mensch den Alltag vergessen und die Befriedigung aller seiner Bedürfnisse erfahren sollte. Die moderne Gestaltung mit den sich zur Fußgängerzone erstreckenden Schauseiten und Ladenzeilen sowie dahinter liegenden Wohngebäuden und Sonderbauten - mit Kaufhaus, Theater, Restaurants und Hotels - sei gleichsam ein Symbol für Funktionalität, Harmonie und Schönheit gewesen. Die Weitläufigkeit der baulichen Anlage, die der Lijnbahn in Rotterdam in nichts nachstehe, habe zugleich der dem Feuersturm zum Opfer gefallenen Enge der alten Stadt entgegenstehen sowie als gesellschaftlicher Kontrollmechanismus wirken sollen. Zeidler kritisierte die derzeitige zunehmende bauliche Überformung der Straße. Auch wenn die Ästhetik derartiger städtebaulichen Ensembles generell sicherlich unterschiedlich bewertet werden kann, lässt sich doch nicht abstreiten, wie auch Zeidler betonte, dass sie für die Bewohner bis heute ein gewisses Maß an Identifikation mit "ihrer Stadt" bedeuten.
Auch Silke Satjukow (Jena) verwies in ihrem Vortrag zur "Bewohnung" von Bahnhofsstraßen in ostdeutschen Städten auf das hohe Identifikationspotenzial dieser Räume. 8 Sie seien in der DDR wie schon zuvor von den politischen Führungsschichten zugleich zur Selbstdarstellung und zur machtpolitischen Abgrenzung gegenüber denen, die die Macht bedrohten, benutzt worden. Straßen wie die "Straße der Nationen" in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz, die in den 1960er Jahren als monumentale Einkaufsmeilen gestaltet wurden, sollten die Überlegenheit des Sozialismus beweisen. Eine Sinnzuweisung erhielten diese präsentativ-symbolischen "Empfangsräume" nach Satjukow allerdings nur durch die Menschen, die folglich "hergebeten" werden mussten - durch eine Ritualisierung ihres Alltagslebens mit Aufmärschen, Demonstrationszügen, Feiern oder Fackelzügen - doch das entwickelte sich in der DDR in zunehmendem Maße zu einem Problem für die Herrschenden.
In der anschließenden Diskussion stieß Zeidlers These von der besseren Kontrollmöglichkeit über die Menschen auf Kritik. Wolfgang Kil betonte, dass die Kälte der Architektur damals durchaus gewollt, ja geradezu herbeigesehnt worden sei. Man habe dem "Mief" der stalinistischen Architektur entfliehen wollen. Zudem wurde darauf hingewiesen, man müsse bei der Betrachtung von Gebäuden oder städtebaulichen Ensembles sehr genau zwischen den ursprünglichen Absichten der Architekten und der realen Ausführung unterscheiden.

Letzteres traf auch genau den Kern des Referats - im dritten, von Gerd Kuhn (Stuttgart) moderierten Block - von Ute Jochinke (Berlin ) über die Planungen für die Stadt Senftenberg nach dem Rückgang der Braunkohleförderung zu Beginn der siebziger Jahre. Die Stadt wurde im Zuge eines umfangreichen Strukturwandels Teil des Erholungsgebietes "Lausitzer Oasen" und sollte dementsprechend städtebaulich umgestaltet und erweitert werden. So wurde beispielsweise 1973 durch das Braunkohlekombinat ein Ferienlager mit Veranstaltungszentrum errichtet. Der in den 1970er Jahren prognostizierte Bevölkerungsanstieg rechtfertigte, wie Jochinke erläuterte, den Bau eines umfangreichen Wohnkomplexes. Der Idealentwurf der Architekten Seiler und Thomae sah vor, Senftenberg durch die Errichtung eines industriell gefertigten, aus mehreren Wohnscheiben bestehenden "Wohngebiets am See" auf den neuen, durch den Tagebau entstandenen See hin auszurichten. Dessen Ausführung von 1976 bis 1980 habe jedoch eine erhebliche Diskrepanz zu dem ursprünglichen Entwurf erkennen lassen und die Stadt eher vom See abgeschirmt. Auch die später geplanten Wohngebiete hätten keine harmonische Verbindung zwischen der alten und der neuen Bebauung hergestellt. Erst mit dem Wettbewerb "Altstadt" zu Beginn der 1980er Jahre sei dann auf der Basis der Grundsätze für Architektur und Städtebau für Innenstadtbebauungen ein Richtungswechsel erfolgt, durch den etwas mehr Rücksicht auf die historische Bebauung genommen wurde. Heute bereite dieses städtebauliche Erbe der unter Schrumpfungsprozessen leidenden Kommune erhebliche Probleme und sei Gegenstand von Abriss und Neuplanung.
Anschließend berichtete die Historikerin Elfi Rembold (Hannover) über das Verhältnis von Stadt und Großbetrieb in der DDR am Beispiel der "Wilhelm-Pieck-Stadt" Guben. Die Teilstadt, die nach dem Krieg ihr historisches Zentrum an Polen verloren hatte und die innerhalb der DDR zugleich in eine periphere Lage geraten war, sei in erheblichem Maße den Bedürfnissen des 1958 errichteten Chemiefaserkombinats und den Vorstellungen des Rates des Bezirks und der SED-Kreisleitung ausgesetzt gewesen. Eine eigenständige Stadtentwicklungspolitik habe die am unteren Ende der Entscheidungshierarchie gelegene Kommune kaum zu bewerkstelligen vermocht. Der Wohnungsbau erfolgte weitgehend zweckgebunden für die Beschäftigten des Kombinats, die vom Rat befürwortete Zentrumsplanung wurde, so Rembold, von Bezirk und Kreisleitung und von der Kombinatsleitung verhindert, da einerseits die Kapazitäten fehlten, andererseits aber auch kein echtes Interesse an einem Engagement in der Stadt bestanden habe. Auch die Namensgebung nach dem verstorbenen Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck 1961 sei gegen den Willen vieler Einwohner erfolgt, das Anhängsel "-Guben" sei der Minimalkonsens gewesen. So beschränkten sich die staatliche Förderung bzw. der Ausbau der Stadt auf den Wohnungsbau, wodurch nach Rembold der "Sterbeprozess" Gubens, der 1945 begonnen hatte, nur hinausgezögert worden sei. Diese These wurde in der Diskussion allerdings heftig kritisiert. Rembold wies darauf hin, dass es schon in den 1960er Jahren schwierig gewesen sei, die Einwohner in der Stadt zu halten, seit den 1980er Jahren habe der Schrumpfungsprozess eingesetzt, der sich seit der Wende und dem weitgehenden Zusammenbruch des größten örtlichen Arbeitgebers noch verstärkt habe.

Im abschließenden vierten Block des ersten Tages, den Harald Bodenschatz moderierte, berichtete der Architekt Thomas Hafner (Berlin/Stuttgart) aus den Ergebnissen eines DFG-Projektes über die städtebaulichen und architektonischen Leitbilder in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit 1945 am Beispiel Halle-Neustadts. Die komplett industriell erstellte Wohnstadt besaß als sozialistische Modellsiedlung eine herausragende Vorbildfunktion für die DDR und die Verräumlichung der Lebensverhältnisse des neuen sozialistischen Menschen. Das Ziel bestand nach Hafner trotz des Baues unterschiedlicher Haustypen in den Wohnkomplexen in der Schaffung eines nahezu identischen Wohnungsstandards. Wie in den 1960er Jahren auch im Westen üblich, wurden die unterschiedlichen Funktionen Wohnen, Arbeiten, Erholung räumlich autogerecht getrennt. Tatsächlich habe Halle-Neustadt den hoch gesteckten Ansprüchen aufgrund einer unzureichenden Umsetzung der Planvorgaben und Defiziten bei der Infrastruktur und Nachfolgeeinrichtungen jedoch nur bedingt gerecht werden können. Die Frage, ob Halle-Neustadt der sozialistische Gegenentwurf zum westlichen Wohnungsbau oder nur eine leicht abgewandelte ostdeutsche Variante desselben gewesen sei, konnte an diesem Tag nicht beantwortet werden. Hafner wies auf die architektonischen und städtebaulichen Ähnlichkeiten seit den späten 1950er Jahren hin, etwa bei der Typisierung und Rationalisierung und schließlich auch bei der Industrialisierung des Bauwesens. Unterschiede bestanden aber, so Hafner weiter, in der geringeren Verwendung von Großplatten im Westen und der unterschiedlichen Anordnung der Gebäude. So seien im Westen eher "Wohngebirge" entstanden im Gegensatz zu den ostdeutschen Wohnscheiben. Abschließend resümierte Hafner, dass bei allen Ähnlichkeiten im Großsiedlungsbau in der Bundesrepublik doch immerhin eine offene Diskussion um den richtigen Weg im Wohnungsbau und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft möglich gewesen sei. Im Osten hingegen wurden Kritik und auch brisante Untersuchungsergebnisse, so weit sie überhaupt gestattet wurden, etwa durch die Soziologen und Stadtplaner der Hochschule für Architektur und Bauwesen (HAB) Weimar um Fred Staufenbiel, nicht der Öffentlich zugänglich gemacht.
Ein Vertreter dieser kritischen Schule, Harald Kegler (Dessau), erläuterte anschließend die Bedeutung der radikalen Trendwende im DDR-Wohnungsbau mit der Hinwendung zum innerstädtischen Bauen und zur Postmoderne in den achtziger Jahren, die zeitgleich mit einer Renaissance des Bauhauses einherging. Zuvor sei mit Erschrecken festgestellt worden, dass die Zahl der Abrisse die der Neubauten überschritten habe. Insofern habe ein dringender Handlungsbedarf bestanden, der jedoch mit einem generellen Umdenken der Akteure zusammen fiel. Die alte Stadt mit ihrem historischen Grundriss und die Stadtbaukunst in Anlehnung an Camillo Sitte seien nun wieder respektiert und nicht mehr als "Feind" betrachtet worden, wenn auch mit Einschränkungen. So habe es einen ökologischen Stadtumbau, wie er im Westen erstmals auf der Internationalen Bauausstellung (IBA) 1987 in West-Berlin präsentiert wurde, in der DDR nicht gegeben. Kegler verwies auch auf die steigende Einflussnahme der Denkmalpfleger seit Beginn der 1980er Jahre, etwa in Weimar. Anstelle des extensiven Wohnungsbaus auf der grünen Wiese standen nun die städtebauliche Rekonstruktion mit einer Modernisierung des vorhandenen Bestandes und der Ersatzneubau in den nicht mehr erhaltungswürdigen Stadtvierteln im Mittelpunkt der Arbeit, um den Verfall der Innenstädte aufzuhalten. Ein Beispiel für die zumindest partiell durchaus erfolgreiche Arbeit der Stadtplaner sei die Erneuerung des Andreasviertels in Erfurt gewesen. Eine wichtige Rolle bei der methodisch-instrumentellen und diskursiven Umsetzung dieser Maßnahmen spielte nach Kegler die Sektion Städtebau und Gebietsplanung der Hochschule für Architektur und Bauwesen (HAB) Weimar.
Die Architektin Barbara Engel (Cottbus) erweiterte den Blick über die Grenzen mit ihrem Referat über den Bau neuer Industriestädte in Sibirien nach 1945, anhand derer sich der Umgang mit den Plattenbausiedlungen in Hinblick auf Weiterentwicklung und Umbau bis in die Gegenwart und die Auswirkungen westlicher Einflüsse auf den Siedlungsbau gut nachvollziehen ließen. Die - aufgrund ihrer Abgeschiedenheit und mysteriösen Aura - "blaue Städte" genannten kleinen bis mittelgroßen, insgesamt über 900 Siedlungen seien nach einem Generalschema gleichmäßig über das zu erschließende Land verteilt worden, um die Entwicklung sehr großer Städte zu verhindern. Da die Planung in der Regel entsprechend den vorherrschenden städtebaulichen Leitbildern - d.h. bis Ende der 1950er Jahre im Stil des realistischen Sozialismus, danach industriell und modern - zentralistisch im weit entfernten Moskau erfolgte, hatten lokale Stadtarchitekten kaum Einfluss. Seit der Wende leiden diese Siedlungen, Engel zufolge, angesichts der Deindustrialisierung unter den oft überzogenen Planungen und der defizitären Ausstattung und teilweise fehlenden Stadtzentren, was sich häufig in Stagnation oder Schrumpfungsprozessen äußert. Andererseits bieten sie ihren Bewohnern nach wie vor ein gewisses Maß an Identifikationskraft. In der Diskussion betonte Thomas Topfstedt die ambivalente Eigendynamik der in Halle-Neustadt in Gang gesetzten "Maschine Großsiedlungsbau". Als größter Unterschied zum westdeutschen Bauwesen wurden die spezifischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse in der DDR genannt, die jene Großsiedlungen und Innenstadtgestaltungen hervorgebracht und die in der Form des komplexen Wohnungsbaus auch den Bau der Nachfolgeeinrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Grünanlagen etc. mit geplant hätten. Hierzu ist allerdings kritisch anzumerken, dass gerade die Ausstattung mit diesen sozialen Einrichtungen in der DDR oft nur sehr schleppend oder ungenügend erfolgte. Ulrich Hartung wies auf den Primat des Städtebaus mit der Gestaltung der Stadt hin und Albrecht Wiesener auf die unterschiedliche Aneignung der Siedlungen durch ihre Bewohner, die im Westen freier, kritischer und ungeregelter möglich gewesen sei. Gerhard Fehl machte auf die großen Unterschiede in der Zusammensetzung der Bewohner von Großsiedlungen aufmerksam. Während diese im Westen oft von sozial schwachen Gruppen oder Randgruppen bewohnt wurden und noch heute werden, war die soziale Durchmischung im Osten sehr hoch. Hier wurden Randgruppen jedoch oft in die verfallenden Altbauquartiere verwiesen.

Zu Beginn des zweiten Konferenztages referierten Carsten Benke, Philipp Springer und Thomas Wolfes (Berlin/Erkner) (Moderation: Thomas Topfstedt) über ein an der TU Berlin angesiedeltes VW-Projekt zur Entwicklung von Industriestädten in der SBZ/DDR. 9 Im Vordergrund ihrer Betrachtungen standen die Handlungsspielräume der Kommunen, die trotz ihrer Stellung als weisungsgebundene "lokale Staatsorgane" mit geringen Kompetenzen keine bloßen Befehlsempfänger der DDR-Zentrale gewesen seien. Die Städte vertraten, so die Referenten, durchaus ihre eigenen Interessen, besaßen dabei aber sehr unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten. So konnte eine Bezirksstadt wie Rostock aufgrund ihres höheren Stellenwertes im Städtesystem der DDR die eigene Stadtentwicklung stärker in ihrem Sinne beeinflussen als kleinere Städte, stand allerdings auch mehr im Blickfeld der übergeordneten Ebenen von Partei und Staat. Doch auch eine kreisangehörige Stadt wie Ludwigsfelde konnte mitunter durch die Mobilisierung von Einwohnern und Betrieben sowie die Nutzung örtlicher Ressourcen und Netzwerke Eigensinn demonstrieren und gegen den Widerstand von "oben" ein Projekt durchsetzen. Und auch eine Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft, von den staatlichen Organen zumeist nur als "Wohnungslieferant" betrachtet, konnte, wie am Beispiel Schwedts erläutert wurde, als Akteur und als Schnittstelle zwischen den Ansprüchen der SED und des Kombinats einerseits und den Bedürfnissen ihrer Mitglieder andererseits eigenständige Interessen vertreten. Auf der anderen Seite war in dem Vortrag von Elfi Rembold deutlich geworden, dass es für eine weniger bedeutende und peripher gelegene Industriestadt wie Guben unmöglich war, gegen den Willen der höheren Funktionäre und des lokalen Kombinates, also ohne eine ausreichende Lobby, eine umfangreiche Zentrumsplanung durchzuführen. Allgemeingültige Aussagen sind zu diesem Thema schwer aufzustellen, jeder Fall ist anders gelagert. Entscheidend waren die formellen und informellen Beziehungen der kommunalen Akteure zu den übergeordneten Ebenen des Kreises und Bezirks und zu den ansässigen Wirtschaftsbetrieben.

II. Forum: Stand und Perspektiven der Planungsgeschichte:

Das im Anschluss an das Werkstattgespräch durchgeführte Forum zum Stand und den Perspektiven der Planungsgeschichte in Deutschland regte die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU) an. 10 Ein solches Netzwerk mit einer eigenen Publikationsreihe könne die Stellung der Planungsgeschichte an den deutschen Universitäten und wissenschaftlichen Institutionen wieder stärker zur Geltung bringen, die in den vergangenen Jahren eher von einem kontinuierlichen Bedeutungsrückgang gekennzeichnet gewesen sei. So seien mehrere führende Repräsentanten der Stadt- und Planungsgeschichte wie Gerhard Fehl (TH Aachen), Wolfgang Hofmann (TU Berlin) oder Christian Engeli (Difu Berlin) in den Ruhestand getreten, deren Stellen in der Regel nicht neu besetzt oder umgewidmet wurden. Die Abhängigkeit der Planungsgeschichte von einzelnen Personen und ihre geringe Institutionalisierung sei zur Zeit ein großes Problem, da oftmals geeignete Nachfolger fehlten. Um in Zukunft ein größeres Interesse an der Planungsgeschichte zu wecken und eine bessere finanzielle Förderung zu erhalten, müsse sie sich stärker aktuellen Themen wie der Zwischenstadt, modernen Einkaufswelten, der Schrumpfung von Städten, dem ökologischen Stadtumbau und der Nachhaltigkeit von Entwicklungsprozessen oder dem Wettbewerb von Kommunen um die Schaffung von Attraktivität und Arbeitsplätzen widmen. Wichtig sei vor allem die Einbettung von aktuellen Prozessen in den historischen Kontext sowie Vergleiche auf internationaler Ebene.
Im zweiten Teil des Forums präsentierten Harald Bodenschatz und Harald Kegler eine Reihe von relevanten Themenfeldern zur Planungsgeschichte, denen sie das Motto "Lust statt Last der Geschichte" voranstellten. Dazu zählten sie u.a. die Geschichte der Raumordnung, der Verkehrsplanung, des öffentlichen Raums, des postmodernen Städtebaus, der frühen mittelalterlichen Stadtplanung, des privaten Städtebaus in Europa, der Planungsgeschichte als Disziplin, der Konversionsplanung oder auch die Geschichte der Planungen für die schrumpfende Stadt und die Vororte. In der Diskussion wurden weitere Themenfelder genannt wie Kleinstädte, Metropolitan Areas oder die Grenzen der Planbarkeit.
Das Forum endete mit einem Plädoyer an alle Beteiligten, sich stärker in die Arbeit für den Erhalt und Ausbau der Planungsgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin einzubringen.
Für den November 2003 wurde die Abhaltung einer Tagung zur Planungsgeschichte in Dortmund vereinbart mit dem Ziel, die Möglichkeiten einer Institutionalisierung und Vernetzung sowie der Gründung einer Publikationsreihe zu erörtern.

Anmerkungen:
1 Geschichte des Wohnens, 5 Bde., hg. v. Gerd Kähler, Stuttgart DVA 1996.
2 Tilman Harlander (Hrsg.): Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland, München DVA 2001
3 Stadt der Architektur - Architektur der Stadt, Berlin 1900-2000, Katalog hg. v. Thorsten Scheer u.a., Berlin Nicolai 2000.
4 Zu den Vorbildern des DDR-Städtebaus siehe die Dissertation von Brigitte Raschke: Der Wiederaufbau und die städtebauliche Erweiterung von Neubrandenburg im Zeitraum von 1945-1989, Diss. Phil. TU Berlin (unveröff.) Berlin 2003, Publikation in Vorbereitung.
5 Herbert Nicolaus, Alexander Obeth: Die Stalinallee. Geschichte einer deutschen Straße, Berlin Verlag für Bauwesen 1997.
6 Zu den bisherigen Werkstattgesprächen vgl. IMS 1/97 bis 2/98, 2/99, 2/2000, 2/01.
7 Die Abstracts der Referenten sind nachzulesen unter www.irs-net.de/download/w8_abstracts.pdf.
8 Silke Satjukow: Bahnhofsstraßen. Geschichte und Bedeutung, Köln u.a. Böhlau 2002.
9 Weitere Informationen unter: www.stadtgeschichte.tu-berlin.de/ProjekteDDR.htm.
10 Zur GSU: www.stadtgeschichte.tu-berlin.de/AktuellesGelsenkirchen.htm.


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