Aspekte der Medizinphilosophie

Aspekte der Medizinphilosophie

Organisatoren
Redaktion 'Aspekte der Medizinphilosophie'; Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.10.2008 - 19.10.2008
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Von
Christian Hoffstadt, Sinzheim; Michael Nagenborg, Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, Universität Tübingen

Seit 2004 veranstalten die Herausgeber der Schriftenreihe „Aspekte der Medizinphilosophie“ ein jährlich stattfindendes Symposium zu wechselnden Themen. Die Themen werden so gewählt, dass sie einen multi- und interdisziplinären Zugang erlauben. Das diesjährige Symposium zum Thema „Essen“ fand am 18. und 19.10.2008 in Kooperation mit dem Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) in Tübingen statt.

Insgesamt wurden 23 Vorträge auf Deutsch und Englisch angeboten. Zum ersten Mal fanden Vorträge dabei auch Parallelsektionen statt. Diese wurde von den Besucherinnen und Besuchern positiv aufgenommen, da dies intensive Diskussionen ermöglichte. Das Symposium bot auch in diesem Jahr wieder ein breites Spektrum an Beiträge, wobei in diesem Jahr ungewöhnlich viele Beiträge aus dem Bereich Ethik/Theologie eingegangen waren.

Zunächst war auch in diesem Jahr das Interesse vieler Referentinnen und Referenten an der Geistes- und Ideengeschichte evident. So schlug beispielsweise gleich zur Eröffnung FRANZ PESCHKE (München) einen Bogen von der griechischen Diätetik über die Medizin von Salerno, über die Ethnologie und die Philosophie Arnold Gehlens einen Bogen bis zu anthropologischen Fragen der Diätetik und des Essens. Eine prominente Rolle nahm dabei Immanuel Kant ein. Während sich PETER M. STEINER (München) die Differenz zwischen der pseudo-brüderlichen, tatsächlich jedoch sozial "vertikal" bestimmten Tafelrunde Friedrichs II. und dem geselligen, "horizontalen" Mittagstisch des Königsberger Philosophen Immanuel Kant herausarbeitete, präsentierte KURT RÖTTGERS (Hagen) das Fragment einer Kritik der kulinarischen Vernunft. Zunächst schilderte er dazu die Verfemungen der Kochkunst in der Philosophie seit Platon. Dann wurde mit der Darstellung der Erfindung der "Gastrosophie" die mit der bürgerlichen Revolution einsetzende Umwertung skizziert, um im dritten und vierten Schritt, ausgehend von einer bestimmten Interpretation des Abendmahls, den Kommunikationsaspekt des Mahls in den Mittelpunkt zu rücken.

Insbesondere in den beiden Sektionen zum Thema „Medien und Essen“ wurde ein geteiltes Interesse der Referentinnen und Referenten an der Verbindung von Medizin- und Wissenschaftsgeschichte mit aktuellen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen sichtbar. PATRICK BAUR (Freiburg) thematisierte die Essstörung Aby Warburgs, wegen der er die Jahre 1921 bis 1924 in Ludwig Binswangers Nervenheilanstalt Bellevue verbrachte. Da Warburg selbst diese Erkrankung als pathologisches Verhältnis zur Bildlichkeit verstanden hatte, präsentierte Baur einen ersten Versuch, aus der Perspektive der Lacanschen Psychoanalyse den Zusammenhang von Ess- und Bildpathologie im ‚Fall Warburg‘ zu interpretieren. MICHAEL NAGENBORG (Tübingen) ging dann in einem Querschnittsbeitrag dem Phänomen der Grammatophagie auf den Grund. ISABELL OTTO (Köln) widmete sich einer medienorientierten Interpretation des Themas „Essen“, wobei sie die Metaphern der falschen und richtigen Ernährung in Fredric Werthams Seduction of the Innocent als Ausgangspunkt nahm. Ihrer Ansicht nach findet die medizinische Diätetik Eingang in Mediendiskurse, indem der falsche Gebrauch von Medien in Analogie zu falscher Ernährung vor Augen geführt wird. Diese Argumentationsfigur findet sich beispielsweise in der Lesesuchtdebatte des 18. Jahrhunderts. DIRK SOLIES (Mainz) konnte hieran sehr gut anknüpfen, denn mit seinem Diktum „Der Geist ist ein Magen“ (Zarathustra) bezog sich Nietzsche implizit auf den breiten Ernährungsdiskurs des 19. Jahrhunderts. Hierbei griff Nietzsche gerade diejenigen Argumente auf, die um die Jahrhundertmitte von Seiten der „Vulgärmaterialisten“ (Vogt, Büchner, Moleschott) gegen die Existenz einer Seele und gegen die Willensfreiheit vorgebracht worden waren, wand diese Argumente jedoch im Sinne seiner eigenen Kritik an der „kleinen Vernunft“ des Geistes. Auch CHRISTIAN HOFFSTADT (Karlsruhe) widmete sich dann der neueren Wissenschaftsgeschichte, wenn auch in einer anderen Sektion, und stellte das Werk von Edward Bernays vor. Dabei wurden sowohl die Ursprünge der „Propaganda“ aus der Psychoanalyse und der Psychologie der Massen, aber auch die Rolle der „Sexualität“ in der Essenswerbung thematisiert.

SABINE MÜLLER (Hannover) beschäftigte sich mit der symbolischen Bedeutung des Essens bei dem antiken Historiographen Herodot als Paradigma für den Umgang des Menschen mit dem rechten Maß, insbesondere in politischer Hinsicht. Die Betrachtung dieses Aspekts erlaubte Einblicke in die Strukturen der aristokratischen Gesellschaft von Herodots Zeit. CLAUDIA LILLGE (Paderborn) richtete aus kulturhistorischer Perspektive ihren Blick speziell auf Aspekte kulinarischer Zeiterfahrung, wobei neben bekannten Phänomenen wie „slow food“ und „fast food“ auch Effekte und Funktionen von derzeit populären TV-Formaten zur Sprache kamen, die den kulinarischen „fast-life“-Schmerz des Alltags besonders erfolgreich zu stillen scheinen und zugleich dafür sorgen, dass sich Millionen von Menschen täglich „gemeinsam zu Tisch“ setzen. Aus medizinhistorischer Perspektive nahm BETTINA BLESSING (Regensburg) dann Bezug auf frühneuzeitliche Konsumgüter, denen nicht nur die Funktion eines „reinen“ Nahrungsmittels zukam. Ihr Interesse galt dabei Lebensmitteln, denen sozio-kulturelle, sozio-ökonomische und pharmakologisch-phyisologische Beurteilungen zugrunde lagen. Vorgestellt wurden Nahrungsmittel, die einerseits als Genußmittel, andererseits aber auch als Heilmittel fungierten.

Das Symposium bot auch in diesem Jahr ein breites Spektrum an Themen und methodischen Zugängen. Dementsprechend ist es wichtig, die verbindende Rolle der Diskussionen und auch der privaten Gespräche zu betonen. Insbesondere freute es die Veranstalter, dass sie einige Referentinnen und Referenten nun schon zum zweiten oder dritten Mal begrüßen durften, was für die freundliche Atmosphäre der Veranstaltung spricht, die dann wiederum eine kritische Diskussion ermöglicht. Die Tagungsbeiträge werden Mitte 2009 in der Schriftenreihe „Aspekte der Medizin-Philosophie“ (Projekt Verlag) erscheinen.

Kurzübersicht:

Franz Peschke: „Nach dem Essen sollst Du ruh'n oder tausend Schritte tun“

Harald Lemke: Ernährungsmedizin und gastrosophische Ethik

Sektion A1: "Essen im Werk einzelner Autoren":

Sabine Müller: Völlerei, wundersame Brotvergrößerung und Kannibalismus: Politische und soziale Konnotationen des Essens bei Herodot

Cosima Lutz: Arzt/„Artista“: Menschenfresser. Jean Pauls Poetik des Verzehrs

Angela Oster: 'Mangiare', Maßlosigkeit und Manierismus – Zur Exzentrik des Essens in Pier Paolo Pasolinis La Ricotta

Sektion B1 "Essen in der Kulturgeschichte" (B.1):

Christian Hißnauer: Essen im Film

Theo Steiner: Augenschmaus. Die Hohe Küche des Ferran Adrià und der Ausstellungswert

Peter M. Steiner: Heiterkeit des Mahles - Immanuel Kants Tischgesellschaft

Sektion A2 "Religion und Moral" (A.2)

Ari Ofengenden: First there was the Breast and the Breast was Bad: On the origins of Morality and Self in Eating

Michael Rosenberger: Gesegnete Mahlzeit! Ethische und spirituelle Aspekte von Essen und Trinken

Sektion B2 "Essen und Medien 1"

Patrick Baur: Ikonophagie. Esspathologie als Bildpathologie bei Aby Warburg

Michael Nagenborg: Seit wann können wir Wissen nicht mehr essen?

Sektion A3 "Ethik"

Lieske Voget: Nachhaltige Ernährung? Die Bedeutung von Suffizienzstrategien hinsichtlich Ernährungsfragen im Rahmen einer normativen Theorie von Nachhaltigkeit

Arianna Ferrari: Philosophische Herausforderung „In-vitro-Fleisch“

Sektion B3 "Essen und Medien 2"

Isabell Otto: Diätetik der Mediennutzung. Zu Metaphern der falschen und richtigen Ernährung in Fredric Werthams Seduction of the Innocent

Dirk Solies: „Der Geist ist ein Magen“: Nietzsche und der Ernährungsdiskurs des 19. Jahrhunderts

Claudia Lillge: Mahlzeiten. Temporale Dynamisierungsprozesse von Essen und kulinarischen Praktiken

Kurt Röttgers: Fragmente einer Kritik der kulinarischen Vernunft

Bettina Blessing: „Am Anfang war der Schnaps kein Schnaps, da war er Medizin“. Nahrungsmittel der Neuzeit zwischen Genuß und Therapie

Sektion A4 "Essen und Sexualität"

Florian Mildenberger (Berlin): Fürsorgliche Belagerung oder Problemlösung? Die Erforschung und Pathologisierung von Essstörungen bei homosexuellen Männern

Christian Hoffstadt: Essen und Verführung

Sektion B4 "Essen und alternative Lebensentwürfe"

Melanie Möller: Leben von Liebe und Licht. Ein Ernährungskonzept der modernen Esoterik am Beispiel „Lichtnahrung“

Jürgen Engel: Magersucht und Gegenrolle. Lebensgestaltung durch Unterlassen

Remo Bernasconi: Ich esse einen Apfel. Ein Beitrag zur Phänomenologie des Essens


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