47. Tagung des südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung

47. Tagung des südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung

Organisatoren
Südwestdeutscher Arbeitskreis, Karlsruhe
Ort
Würzburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.11.2008 - 23.11.2008
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Von
Hans-Peter Baum, Stadtarchiv Würzburg / Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Vom 21. bis 23.11.2008 traf sich in Würzburg zu seiner 47. Tagung eine in Fachkreisen hoch angesehene Vereinigung von Stadtgeschichtsforschern, der Südwestdeutsche Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung. Der Arbeitskreis, dem Historiker aus Deutschland, Österreich, Frankreich, der Schweiz und Norditalien angehören, war damit zum ersten Mal nach Würzburg gekommen. Die Konferenz, die vom Stadtarchiv Würzburg ausgerichtet wurde, stand unter dem ebenfalls vom Stadtarchiv vorgeschlagenen übergreifenden Motto „Stadt und Stadtverderben“. Damit wurde eine Thematik aufgegriffen, die derzeit in der Forschung verstärktes Interesse findet. Der Südwestdeutsche Arbeitskreis legt bei seinen Jahrestagungen Wert darauf, dass neben etablierten, älteren Stadthistorikern auch Nachwuchswissenschaftler zu Wort kommen. Dies wurde bei der Würzburger Tagung in hohem Maße berücksichtigt, denn rund die Hälfte der Referenten können als jüngere Wissenschaftler bezeichnet werden. Die Beiträge der hier beschriebenen Tagung sollten, soweit es die Quellenlage zuließ, außer den Ereignissen selbst die Reaktion der Zeitgenossen darauf, z. B. im Hinblick auf technische Verbesserungen beim Schutz gegen und bei der Bewältigung solcher Ereignisse, und insbesondere auch die Deutung der Katastrophen durch die Zeitgenossen, etwa als Strafe Gottes oder als nicht vorhersehbares Naturereignis berücksichtigen.

In der ersten Sektion „Naturkatastrophen – Feuersbrunst und Wassersnot“ führte ein Überblicksvortrag von DIETER SCHOTT (Technische Universität Darmstadt) an den Beispielen London 1666 (Brand), Lissabon 1755 (Erdbeben, Brand und Tsunami) und Hamburg 1962 (Sturmflut) in sehr eindrucksvoller Weise in die Thematik ein und konnte schon eines der Ergebnisse der Tagung vorwegnehmen: Bei Naturkatastrophen in Städten waren die Reaktionen der Bevölkerung und der Obrigkeit für die Frage von Niedergang oder erneuter Blüte wichtiger als die Ereignisse selbst. Die zeitgenössische Deutung dieser drei zeitlich und räumlich stark divergierenden Ereignisse zeigte praktisch die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten auf. GERRIT JASPER SCHENK (Stuttgart) konnte in einer tiefgründigen Analyse bisher kaum genutzter Quellen aus Florenz und Straßburg den Umgang mit und die Vorsorge vor Überschwemmungsschäden durch speziell gebildete Verwaltungskörperschaften und Flussanliegergenossenschaften am Arno einerseits, am Rhein und seinen kleinen elsässischen Nebenflüssen Ill, Breusch und Zembs andererseits beschreiben. Hierbei vermochte er auch deutliche Unterschiede zwischen der Bewältigung der Hochwasserereignisse im südlichen und mittleren Europa aufzuzeigen, die insbesondere in personellen Ressourcen und mentalen Strukturen begründet waren. MARIE LUISA ALLEMEYER (Göttingen) beschäftigte sich vor dem Hintergrund der tatsächlichen Abläufe von Stadtbränden in der Frühen Neuzeit vorrangig mit deren Deutung. Hier zeigte sich, dass diese in einem Spannungsfeld zwischen dem Verständnis des Feuers als Strafe Gottes, als einer Naturkatastrophe oder auch menschlicher Fahrlässigkeit liegt. RÜDIGER GLASER (Freiburg) konnte pointiert verdeutlichen, dass historische Forschungen – in diesem Fall lange Beobachtungszeitreihen von Überschwemmungs- oder Erdbebenereignissen – in unserer Gegenwart zu einer völligen Neubewertung von Gefahrenlagen führen können, sodass zum Beispiel Gebäude in Gefahrenzonen nicht mehr versicherbar sind. Trotzdem werden auch heute, wie die Beispiele Hamburg, Vancouver oder Shanghai zeigen, hoch verdichtete städtische Neubaugebiete in topographisch völlig ungeeigneten Stadtbereichen geplant, sodass die nächsten Katastrophen bereits vorprogrammiert sind. Historische Erfahrungen wie die der Hamburger Sturmflut von 1962 sind offensichtlich schon vergessen.

In der zweiten Sektion „Gefahren der Technik – Bau-und Industrieunfälle“ berichtete FRANK AHLAND (Witten) anschaulich über die von Experten für beinahe unmöglich gehaltene Explosion einer Sprengstoff-Fabrik in Witten 1906, ihre Folgen für die Stadt und für benachbarte Industrieunternehmen sowie über die Bewältigung der Katastrophe durch die Betroffenen. GÜNTHER BINDING (Bergisch Gladbach) konnte anhand ausgewählter erzählender Quellen des Hochmittelalters nicht nur über schwere Bauunfälle im 12. und 13. Jahrhundert, sondern auch über deren technische Ursachen Auskunft geben, wobei anscheinend Probleme mit Lehr- und Baugerüsten sehr häufig zugrunde lagen. MARTINA BAUERNFEIND (Nürnberg) schilderte anhand Nürnberger Beispiele die Zunahme der Unfälle, die durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert verursacht wurden und die vorher in derselben Weise gar nicht möglich gewesen wären. Sie konnte allerdings auch deutlich machen, dass Industrieunfälle gegenüber Krankheiten als Todesursachen zahlenmäßig stark zurücktraten und in der Statistik eine völlig untergeordnete Rolle spielten, sodass die Einführung von Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz nur langsame Fortschritte machte. ERICH SCHNEIDER (Schweinfurt) beschrieb die Folgen des Eisenbahnbaus für die Stadt Schweinfurt und ihre Umgebung, als spektakuläres Ereignis insbesondere das völlige Niederbrennen des Dorfes Schonungen, ausgelöst durch den Funkenflug aus einem Lokomotivschornstein, aber auch die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen auf die Mainschifffahrt und andere Branchen.

In Sektion III mit den Themenfeldern „Hunger, Seuchen, Epidemien“ konnte MONIKA HÖHL (Tecklenburg) anhand einer über drei Generationen geführten Hildesheimer Familienchronik sehr detailliert beleuchten, wie die Bürger deutscher Städte auf Pestepidemien reagierten, z. B. wie eine ratsfähige Familie sich zwischen dem städtischen Ausreiseverbot und dem Wunsch, die Angehörigen in Sicherheit auf das Land zu verbringen, entschied. ROBERT JÜTTE (Stuttgart) zeigte die Möglichkeiten süddeutscher Reichsstädte, sich vor den Folgen der um 1500 neu auftretenden „Franzosenkrankheit“ (die in Frankreich als „mal américain“, jedoch auch als „bayerische Krankheit“ bekannt war) zu schützen. Es kann nicht entschieden werden, ob die Seuche wirklich aus dem gerade neu entdeckten Amerika eingeschleppt wurde oder schon vorher in Europa auftrat. Wichtig ist, dass die „Syphilis“ zur Einrichtung von Krankenhäusern führte, in denen man versuchte, die Krankheit zu behandeln, während früher die Leprosenhäuser noch reine Bewahranstalten waren. THOMAS HEILER (Fulda) schilderte Hungersnöte in hessischen Städten zwischen 1816 und 1947 und die Maßnahmen der Regierungen und Stadtverwaltungen zur Bewältigung des Nahrungsmittelmangels, wobei z. B. auffällt, dass 1947 in der Bevölkerung allein die Besatzungsmächte als verantwortlich für den Mangel an Nahrungsmitteln angesehen werden. Das Hungerjahr 1848 mit seinen politischen Umwälzungen tritt in den hessischen Quellen kaum hervor.

Eine ausführliche Schlussdebatte, moderiert vom Tagungsleiter BERND ROECK (Zürich) brachte zahlreiche zusätzliche Aspekte der besprochenen Themen ans Licht und rundete die Konferenz ab, die von den Teilnehmern allgemein als informativ und anregend beurteilt wurde. Ein Ergebnis der Tagung war sicherlich, dass trotz interessanter Denkanstöße für die Deutung von Krisen und Katastrophen in der Stadtgeschichte, wie sie etwa von Foucault oder Latour vorgelegt worden seien, die Kärrnerarbeit in den Archiven, die Auswertung umfangreicher serieller Quellen auf absehbare Zeit im Vordergrund der historischen Forschung stehen muss. Wie kaum anders zu erwarten, war ein deutlicher Rückgang der religiösen Deutungsmuster für Naturkatastrophen zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert zu verzeichnen. Bemerkenswert erscheint, dass weniger die Ereignisse selbst als vielmehr die Reaktionen von Bevölkerung und Stadt- oder auch Landesobrigkeit entscheidend für eine erneute Blüte der Stadt oder für einen Niedergang sind, wie etwa die Beispiele London und Lissabon zeigen. 2009 wird ein bebilderter Tagungsband erscheinen, der die neuen Forschungsergebnisse im ganzen Umfang zugänglich machen wird.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Naturkatastrophen – Feuersbrunst und Wassersnot
Leitung: Hans-Joachim Hecker, Stadtarchiv München

Dieter Schott, Darmstadt: Resilienz oder Niedergang? Zur Bedeutung von Naturkatastrophen für Städte in der Neuzeit

Gerrit Jasper Schenk, Stuttgart: Politik der Katastrophe? Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Strukturen und dem Umgang mit Naturrisiken am Beispiel von Florenz und Straßburg in der Renaissance

Marie Luisa Allemeyer, Göttingen: „Wie dieses Brandes Wuth / dies große Stadt-verseeren durch Huelf der Seinigen mit Gottes Huelf zu stoeren.“ Zur Deutung und Bekämpfung von Stadtbränden in der Frühen Neuzeit

Rüdiger Glaser, Freiburg: Klimatische und geogene Naturrisiken und Naturkatastrophen im Kontext von Städten

Sektion II: Gefahren der Technik – Bau-und Industrieunfälle
Leitung: Dieter Schott, Darmstadt

Frank Ahland, Witten: „Es sind nicht eure Toten. Es sind unsere Toten.“ Die Wahrnehmung der Explosion der Roburit-Fabrik in Witten 1906

Günther Binding, Bergisch-Gladbach: Bauunfälle und Einstürze im Mittelalter (11. – 14. Jahrhundert)

Martina Bauernfeind, Nürnberg: Gefahren der Technik. Neue Unfallrisiken im Zeitalter der Industrialisierung. Ereignis, Wahrnehmung und Reaktion am Beispiel Nürnbergs

Erich Schneider, Schweinfurt: „…von den Rädern des Bahnzugs zerschnitten.“ Technische Entwicklungen und deren Wahrnehmung durch die Zeitgenossen

Sektion III: Hunger, Seuchen, Epidemien
Leitung: Michael Stolberg, Würzburg

Monika Höhl, Tecklenburg: Leben in Sterbenszeiten. Überlebensstrategien in Pestzeiten im Hildesheimer Bürgertum des 16. und 17. Jahrhunderts

Robert Jütte, Stuttgart: „Wider die abschewliche Kranckheit der Frantzosen.“ Geschlechtskrankheiten als Herausforderung an die Gesundheitsfürsorge deutscher Reichsstädte im 16. und 17. Jahrhundert

Thomas Heiler, Fulda: Hungersnöte in hessischen Städten