Kritische Unternehmensgeschichte heute

Kritische Unternehmensgeschichte heute

Organisatoren
Arbeitskreis für kritische Unternehmens- und Industriegeschichte (AKKU); in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.11.2009 - 07.11.2009
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Von
Juliane Czierpka / Claas Siano, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Ruhr-Universität Bochum

Am 6. und 7. November 2009 fand in Bochum die Jahrestagung des Arbeitskreises für kritische Unternehmens- und Industriegeschichte (AKKU) unter dem Titel 'Kritische Unternehmensgeschichte heute' statt. Organisiert und konzeptioniert wurde diese Tagung, gleichzeitig die Festveranstaltung zum 20-jährigen AKKU Jubiläum, von Stefanie van de Kerkhof (Bochum) und Alfred Reckendrees (Kopenhagen). Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die Frage nach der Position des AKKU in einer sich verändernden wissenschaftlichen Landschaft, welche sich vor allem durch eine gestiegene Akzeptanz von wissenschaftlich betriebener Unternehmensgeschichtsschreibung auszeichnet. So vollzog sich seit der Gründung des AKKU ein Wandel weg von einer einseitigen und eher unternehmensopportunen Betrachtungsweise hin zu theoretisch und methodisch fundierter historischer Forschung. Eine solche Entwicklung wirft natürlich die Frage auf, welchen Platz eine 'kritische Unternehmensgeschichte' in diesem transformierten Rahmen einnehmen sollte.

Nach der Begrüßung durch DIETER ZIEGLER (Bochum) und STEFANIE VAN DE KERKHOF (Bochum) resümierte ALFRED RECKENDREES (Kopenhagen) in seinem einführenden Vortrag die Entwicklung der Unternehmensgeschichtsschreibung seit der Gründung des AKKU und stellte die Motive derer, die den Arbeitskreis ins Leben riefen, dar. Hier stellte er die damals bestehende Notwendigkeit einer von den Unternehmen unabhängigen Forschung dar und leitete anschließend zu der Podiumsdiskussion über, die dem transdisziplinären Charakter der Unternehmensgeschichte Rechnung trug, in dem sie Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen ein Forum bot. Unter Leitung von MANFRED KÖHLER (Frankfurt am Main), Gründungsmitglied des AKKU und heute als Wirtschaftsjournalist tätig, nahmen mit ALFRED KIESER (Mannheim), MICHAEL HARTMANN (Darmstadt) und PAUL WINDOLF (Trier) ein Betriebswirt und zwei Soziologen Stellung zur Bedeutung einer modernen Unternehmensgeschichte und reflektierten zum einen über den Nutzen der historischen Unternehmensforschung für und zum anderen über die Rezeption der Unternehmensgeschichtsschreibung in ihrer Disziplin. Für den Arbeitskreis nahm Alfred Reckendrees an der Diskussion teil und vertrat den kurzfristig verhinderten Thomas Welskopp (Bielefeld). Während der Diskussion wies Alfred Kieser noch einmal auf die besondere Rolle hin, die dem AKKU durch seine Unabhängigkeit von Unternehmen zukommt. Dieser Punkt und hiermit auch die Frage nach der Beziehung zwischen AKKU und der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (GUG), in welcher – anders als im AKKU – auch die Unternehmen vertreten sind, wurde sowohl im Rahmen der Diskussion als auch in den einzelnen Sektionen immer wieder aufgegriffen. Problematisiert wurde hierbei vor allem die Frage, wie und ob sich der AKKU von der GUG abgrenzen kann, wenn ein Großteil der Mitglieder des Arbeitskreises auch in der GUG aktiv sind. An diesem Punkt schloss die Diskussion wieder an die übergeordnete Fragestellung der Tagung nach einer zukünftigen Positionierung des AKKU innerhalb der Disziplin an. Kieser und Hartmann betonten beide die besondere Relevanz einer kritischen und von den Unternehmen unabhängigen Geschichtsforschung, wobei Hartmann die Gefährdung des kritischen Potentials von Wissenschaft nach der Bologna-Reform eigens hervorhob. Der offizielle Teil des ersten Tages schloss mit dem Festvortrag, in welchem CHRISTIAN KLEINSCHMIDT (Marburg) 20 Jahre AKKU Revue passieren ließ.

Der zweite Tagungstag wurde eröffnet durch Vorträge von MARTIN LUTZ (Konstanz) und BORIS GEHLEN (Bonn), welche zwar in einem Block zusammengefasst waren, sich jedoch nicht durch inhaltliche Homogenität auszeichneten. So testete der Beitrag von Lutz über die Interaktion von Siemens mit dem Sowjetregime bis 1933, wie sich die Neue Institutionenökonomik für die Betrachtung von wirtschaftlichem Handeln unter dem Einfluss von Ideologie eignet, während Gehlen sich in seinen Anmerkungen zu einer kritischen Verbandsgeschichte dem kollektiven Handeln von Unternehmen zuwandte. Letzterer wollte seinen Vortrag nicht so sehr als solchen, denn als Beitrag zur Diskussion verstanden wissen und prangerte die Vernachlässigung der Verbandsgeschichte durch die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte an. Laut Gehlen birgt eine theoretisch fundierte Betrachtung ökonomischer Verbandsgeschichte ein erhebliches Erklärungspotential für die Entwicklung des deutschen Kapitalismus, da die Verbände in Deutschland immer eine relativ starke Stellung innerhalb des Wirtschaftsgefüges inne hatten. Für die bisher eher stiefmütterliche Behandlung der Verbandsgeschichte von den Wirtschafts- und Unternehmenshistorikern machte Gehlen unter anderem die starke Hinwendung der Zunft auf die Zeit des Nationalsozialismus, in welcher die Verbände vergleichsweise unwichtig waren, und die in Deutschland fest verankerte Tradition einer politikhistorisch dominierten Verbandsforschung verantwortlich. Eine Folge hiervon sei, dass die Einflussmöglichkeiten von Verbänden zwar erforscht seien, die Verbände jedoch in der Regel als Black Box betrachtet würden und die Frage nach den Umständen, unter denen Unternehmen bereit sind, Aufgaben an Verbände zu übergeben, bisher unbeantwortet blieb. Um die bestehende Black Box aufzulösen, schlug Gehlen eine Untersuchung von Verbänden auf verschiedenen Ebenen vor. So regte er an, die Verbände in ihrer Funktion als soziale Gruppe zu betrachten, in welcher einzelne Akteure ihre Interessen verfolgen, und zu untersuchen, wie sich das Institutionelle Design in einer solchen Gruppe ausgestaltet. Diese internen Prozesse der Verteilung von Aufgaben und Mitspracherecht stellte er ebenso heraus, wie eine Betrachtung der Trittbrettfahrerproblematik. Hier solle seiner Meinung nach vor allem untersucht werden, wie Verbände, von deren Lobbying auch nicht angeschlossene Unternehmen profitieren, Mitglieder an sich binden. Da Unternehmen in bestimmten Bereichen Kompetenzen oder Aufgaben an den jeweiligen Verband abtreten, biete die Verbandsgeschichte viele systematische Anknüpfungspunkte an die Unternehmensgeschichte. Als Punkte, deren Analyse sowohl der Unternehmens- als auch der Verbandsforschung dienen würden, nannte Gehlen neben der Lobby- und Interessenpolitik unter anderem das Verhalten der Unternehmen in Tarifverhandlungen, den durch Kooperation entstehenden Gewinn von Know-How oder die koordinierte externe Unternehmenskommunikation. Wichtig sei natürlich auch, vor dem Hintergrund der oben erwähnten Trittbrettfahrerproblematik, eine Untersuchung des Gewinns, welchen Unternehmen bei aktiver Mitarbeit in einem Verband erzielen können.

Martin Lutz befasste sich ebenfalls mit der Analyse eines Unternehmens in seiner Umwelt. In seinem Vortrag über den Konzern Siemens und dessen Handlungsoptionen im Rahmen der Sowjetgeschäfte unter Bedingungen der Unsicherheit stellte Lutz einige Ergebnisse seiner Dissertation vor, in welcher er sich mit den Handlungsoptionen eines Unternehmens unter Bedingungen der Unsicherheit auseinandersetzte. Diese Unsicherheit wurde vor allem durch die sich radikal verändernden politischen Bedingungen und deren nicht vorhersehbare und damit auch nicht antizipierbare Folgen ausgelöst. Innerhalb eines solchen Umfelds, mit einem nicht rational sondern ideologisch agierenden staatlichen Akteur, müsse ein Unternehmen sich entweder auf diesen irrationalen Akteur einstellen oder versuchen, die neuen Umstände dem eigenen Handeln zu unterwerfen. Um diesen Zusammenhang in befriedigender Weise untersuchen zu können, gilt es – so Lutz – den Fokus der Analyse zu erweitern, um auch die Umwelt verstehen und so das Handeln des Unternehmens in den richtigen Kontext setzen zu können. Auch die verwendete Theorie muss diesem erweiterten Untersuchungsfeld angepasst werden, da sich die Sowjetunion als irrationaler Akteur nicht mit den üblichen Analysemethoden, denen die Annahme rationalen Handelns zugrunde liegt, erfassen lässt. Lutz verwendete ein auf der Neuen Institutionenökonomik basierendes Modell, welches den akteurszentrierten Institutionalismus in ein Modell des Wandels von Zielpräferenzen und Institutionen integriert. Dieses Analysetool operationalisierte Lutz am Beispiel von Siemens in drei Schritten. In einem ersten Schritt untersuchte er die Zielpräferenzen des Unternehmens, dessen Strategie im Sowjetgeschäft sowie die Folgen ideologischer Einflüsse auf unternehmerisches Handeln. In einem zweiten Schritt analysierte Lutz das Steuerungspotential von Siemens im Rahmen des Sowjetgeschäfts als Beispiel für institutionellen Wandel im Bereich der sekundären Institutionen. In einem dritten und letzten Schritt untersuchte er, ob durch die fehlende Anpassung an die fundamental veränderten Umweltbedingungen im Sowjetgeschäft und die grundlegenden Präferenzprobleme das Sowjetgeschäft von Siemens stagnierte. Auch wenn der von Tim Schanetzky in seinem Kommentar angeregte Fokus auf die Frage nach dem Umgang der Vorträge mit Theorie und ihrem Beitrag zu einer Standortbestimmung in der Diskussion nicht die Hauptrolle spielte, entwickelte sich eine interessante Debatte über das angemessene Maß an Theorie in der Unternehmensgeschichte. So wurde in Bezug auf Lutz‘ Vortrag die Frage diskutiert, inwieweit man auch ohne ein elaboriertes Theoriekonzept zu ähnlichen Befunden hätte kommen können. Immer wieder flossen auch Gedanken über einen möglichen neuen Platz des AKKU innerhalb der Unternehmensforschung in Deutschland mit ein. So könnte 'kritische Unternehmensgeschichte' in Zukunft dafür stehen, sich auch mit Bereichen abseits des Mainstream, wie zum Beispiel der Verbandsgeschichte, auseinander zu setzen oder auch durch eine erneute Betrachtung verschiedener Themen sich selbst und die Zunft immer wieder neu zu reflektieren.

Die zweite Sektion widmete sich dem Management und Konzepten seiner Analyse. Hier trug zuerst KARSTEN UHL (Darmstadt) seine Erkenntnisse zur Anwendung von Scientific Management am Beispiel eines deutschen Motorenherstellers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Anschließend führte FRIEDERIKE SATTLER (Potsdam) das Thema chronologisch weiter an das Ende des 20. Jahrhunderts, indem sie das Konzept der Animal Spirits vorstellte. Das von Karsten Uhl untersuchte Unternehmen, der Motorenhersteller Deutz, eignete sich vor allem, weil hier schon vor dem Ersten Weltkrieg Versuche einer Reorganisation der Arbeit unternommen wurden. Nach amerikanischem Vorbild sollte ein System eingeführt werden, welches ähnlich dem Taylor-System eine systematisierte Arbeitsteilung vornehmen und die einzelnen Bereiche verschiedenen spezialisierten Vorarbeitern unterstellen sollte. Im Unterschied zu der Umsetzung dieses Systems in seinem Ursprungsland, den USA, erweiterte man bei Deutz das ursprüngliche Scientific Management, um auf die Individualität der Arbeiter einzugehen. Diese hielt man für intelligent und eifrig genug, um sie mit aktiv einzubeziehen, anstatt ihnen ein System aufzuzwingen. Hierdurch erhoffte man sich die Schaffung einer vertrauensvollen Atmosphäre zwischen den Arbeitern und dem Unternehmen, wovon sich letzteres eine Schwächung der Position der Gewerkschaften und eine effizientere Nutzung der Fähigkeiten der Arbeiter erhoffte. Während sich Uhl also mit einem eher klassischen ökonomischen Ansatz beschäftigte, stellte Friederike Sattler einen Ansatz vor, der erst in den vergangenen Jahrzehnten aufkam. Die „Animal spirits“ versuchen nicht rational begründetes Verhalten zu erfassen, sondern beschäftigen sich vielmehr mit den irrationalen und widersprüchlichen Aspekten menschlichen Handelns. Nach Auffassung von Akerlof und Shiller, den Begründern dieses Modells, ist eine Betrachtung der oben aufgeführten Elemente notwendig, um Entscheidungen von Individuen im Bezug auf Wirtschaft erklären zu können. Sattler stellte diesen Ansatz vor, um ihn auf seine Anwendbarkeit in der Erforschung von Unternehmen hin zu untersuchen. Am Beispiel des Liquiditäts- und Risikomanagements der Dresdner Bank in den 1970er-Jahren versuchte sie exemplarisch das vorgestellte Konzept an einem historischen Beispiel zu operationalisieren. Auch hier zeigte sich wieder eine Nische im Bereich der historischen Unternehmensforschung, die durch den AKKU ausgefüllt werden könnte: Die Einführung und das Testen neuer Konzepte und theoretischer Modelle in die Unternehmensgeschichte.

Die dritte und letzte Sektion beschäftigte sich mit Unternehmen und Gesellschaft, hier trugen INGA NUHN (Münster) und DAVID GILGEN (Bielefeld) vor. Während Inga Nuhn untersuchte, inwieweit es sich bei Corporate Social Responsibility um eine reine Marketing-Strategie handelt oder nicht, stellte David Gilgen dar, wie sich die Anwendung des selbigen Konzepts in transnationalen Unternehmen entwickelte.

Stefanie van de Kerkhof resümierte in ihrer abschließenden Zusammenfassung, dass die Unternehmensgeschichte in ihrer Gesamtheit zwar reif, jedoch bei weitem nicht gesättigt sei. Neben der schon erwähnten und bisher vernachlässigten Verbandsgeschichte nannte sie unter anderem die Erforschung transnationaler Unternehmen und die moderne Marketinggeschichte als weitere Desiderate der Forschung. In der folgenden Diskussion bekräftigte Alfred Reckendrees auch van de Kerkhofs Forderung nach einer Internationalisierung der Unternehmensgeschichte, da sich die deutsche Unternehmensgeschichtsschreibung bisher stark auf die Erforschung nationaler Unternehmen konzentriert hat. Im Bezug auf die verwendeten Theorien plädierte Stefanie van de Kerkhof dafür, die Neue Institutionenökonomik stärker in Frage zu stellen und sich dafür – wie auch Christian Kleinschmidt gefordert hatte – vermehrt kultursoziologischen und psychologischen Ansätzen zuzuwenden. Eine Erweiterung des Theorieangebots könne auch helfen, den bisher vernachlässigten Bereichen mit einer angemessenen theoretischen Grundlage zu begegnen. So fänden sich zum Beispiel für die Erforschung von kleinen oder mittleren Unternehmen bisher nur bedingt geeignete Analysemethoden im Angebot des Theoriebaukastens. Des weiteren wies Stefanie van de Kerkhof darauf hin, dass im Bereich der Auftragsarbeiten, deren Qualität sich nach Meinung der meisten Tagungsteilnehmer in den Jahren seit der Gründung des AKKU stark gesteigert hat, eine kritische Reflexion auch weiterhin unabdingbar sei. Hier fasste sie die Beiträge der Tagungsteilnehmer zusammen, und betonte noch einmal die Notwendigkeit einer kritischen Instanz wie dem AKKU. Aus Tradition kritisch und unbequem, vermöge der Arbeitskreis eher auf Missstände und Forschungslücken aufmerksam zu machen und sei alles in allem unabhängiger von den Unternehmen als die GUG. So habe der AKKU durchaus auch nach 20 Jahren und einer Zeit der Homogenisierung der Disziplin seine Daseinsberechtigung innerhalb der Unternehmensgeschichtsschreibung auf keinen Fall verloren.

Konferenzübersicht:

Sektion: Handlungsmodelle für die Neue Institutionenökonomik?

Martin Lutz: Rationales Handeln unter der Bedingung fundamentaler Unsicherheit. Siemens im Sowjetgeschäft 1917-1933

Sektion: Kollektives Handeln von Unternehmen

Boris Gehlen: Prolegomena zu einer Kritischen Verbandsgeschichte

Kommentar: Tim Schanetzky

Sektion: Management und Konzepte seiner Analyse

Karsten Uhl: Deutz und die Humanisierung des Scientific Management, 1910-1945

Friederike Sattler: Animal spirits – ein neues Schlüsselkonzept für die historisch-kritische Analyse von Managerverhalten im späten 20. Jahrhundert

Kommentar: Ruth Rosenberger

Sektion: Unternehmen und Gesellschaft

Inga Nuhn: Corporate Social Responsibility – mehr als eine Marketing Strategie?

David Gilgen: Die Institutionalisierung globaler Corporate Social Responsibility in transnationalen Unternehmen

Kommentar: Kim Christian Priemel


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