Grenzüberschreitende Arbeitergeschichte: Konzepte und Erkundungen

Grenzüberschreitende Arbeitergeschichte: Konzepte und Erkundungen

Organisatoren
Internationale Tagung der HistorikerInnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen (ITH)
Ort
Linz
Land
Austria
Vom - Bis
10.09.2009 - 13.09.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Ralf Hoffrogge, Berlin

„Konzepte und Erkundungen“ war das Motto der 45. Linzer Konferenz der Internationalen Tagung der HistorikerInnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen (ITH), die vom 10. bis 13. September 2009 in Linz stattfand. Dementsprechend experimentell im besten wissenschaftlichen Sinne liefen dann auch die Diskussionen ab. Denn die ITH, gegründet als Austauschforum für HistorikerInnen aus Ost und West, hat diesen Gegensatz längst hinter sich gelassen und strebt eine grundlegende Neuorientierung des Faches an.

Ein notwendiger Prozess, der allerdings auch Ausdruck einer Krise ist – nicht zuletzt einer Finanzkrise: die Mittel der ITH sind zwar kurzfristig gesichert, aber Deckungslücken sind absehbar, die bald durch neue Einnahmen geschlossen werden müssen. Die ITH steht mit ihrem Defizit aufgrund fehlender staatliche Zuwendungen exemplarisch für viele Institutionen zur Erforschung der Arbeiterbewegung. Geschuldet ist die allgegenwärtige Subventionsknappheit nicht nur dem Ende des Blockkonfliktes, sondern vor allem dem seit den 1990er-Jahren rapiden und fortschreitenden Verlust von gesellschaftlichem Einfluss seitens der Arbeiterbewegung selbst.

Die Krise des Faches ist daher nicht nur finanzieller, sondern vor allem politischer Natur: wozu soll eine Arbeiterbewegung erforscht werden, die auch im kapitalistischen Westen zunehmend ihre gesellschaftliche Basis und ihr Subjekt verloren hat? So beschreibt etwa die in der BRD wohl meistgelesene Darstellung von Axel Kuhn zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ihren Gegenstand ganz selbstverständlich als historisches, also abgeschlossenes Kapitel. Der Autor hat recht, wenn er zur Begründung vor allem auf das Ende proletarischer Milieus in BRD und Westeuropa verweist, auf eine nahezu vollständige Integration der Arbeiterklasse in bürgerliche Verkehrsformen.

Diese Analyse trifft jedoch nur zu, wenn man unter „Arbeiter“ sich nichts anderes vorstellen kann als jene Proletarier aus den Gesängen von Ernst Busch. Auch wenn dieses Milieu Geschichte ist – was keineswegs historisch überwunden wurde, ist der globale Widerspruch von Arbeit und Kapital. Herauskommen aus einer rein musealen, historisierenden Darstellung der Arbeiterbewegung und sich diesen globalen Widersprüchen und Arbeitskämpfen widmen, das war das Ziel der diesjährigen ITH.

Dementsprechend programmatisch war die Preisrede von MARCEL VAN DER LINDEN, der für sein Buch „Workers of the World – towards a Global Labor History“ den diesjährigen Reneé Kuczynski-Preis der ITH erhielt. Van der Linden sieht sein Konzept einer Global Labor History als Nachfolge der mittlerweile in die Jahre gekommenen „New Labor History“, ohne jedoch deren Erkenntnisse völlig zu verwerfen. Kritik übte der Preisträger vor allem an der Orientierung auch und gerade der New Labor History am Nationalstaat als unhinterfragter Bühne für geschichtliches Handeln – eine Idee, die er im Wesentlichen als Konstruktion sah und durch eine grenzüberschreitende Geschichtsschreibung ersetzt wissen wollte. Bekräftigt wurden seine Ausführungen durch DICK GEARY aus Nottingham, der seinerseits kritisch über Vergleiche nationaler Geschichtsräume berichtete.

Diesem Aufruf folgte das Programm der ITH. Die Zusammenstellung der RednerInnen war nicht nur international in dem Sinne, dass viele Nationen und Regionen vertreten waren. Vor allen Dingen spiegelte das Programm tatsächlich aktuelle Debatten wider, wie sie im angelsächsischen Raum, aber auch in Schwellenländern wie China und Indien zur Geschichte der Arbeit geführt werden. Hervorzuheben ist etwa die Teilnahme von RANA BEHAL von der Association of Indian Labor Historians, der nicht nur die Tätigkeit seiner Organisation vorstellte, sondern die TeilnehmerInnen auch mit aktuellen Debatten zur Geschichte der Arbeit in Südostasien bekannt machte.

Solche Debatten und ihre Vertreter zu einer lebendigen Diskussion zu holen ist das eigentliche Verdienst der ITH, denn gerade in der manchmal recht konservativen deutschsprachigen Geschichtswissenschaft mangelte es lange am Willen zur Internationalisierung. Konzepte wie die postcolonial history oder der linguistic turn etwa kamen seit den 1990er-Jahren nur mit großer Verspätung in den deutschen Hörsälen an. Kritische Stimmen mögen einwenden, dass es bei manch einem dieser Trends eher um die geschickte Anwendung eines postmodernen Jargon denn um einen genuinen Paradigmenwechsel ginge. Oder noch schlimmer, dass zwar ein Paradigmenwechsel stattgefunden habe, dieser jedoch mit seiner Betonung auf Faktoren wie Kultur, Sprache und symbolische Ordnungen einer materialistischen Analyse von Geschichte als Geschichte von Interessenkonflikten und Klassenkämpfen direkt zuwiderlaufe. Diese Kritik ist nicht unberechtigt, und dennoch tut die ITH gut daran, sich kritische Vertreterinnen neuer Ansätze ins Haus zu holen und gerade die Geschichte der Arbeiterbewegung mit diesen neuen Konzepten zu konfrontieren.

Unter anderem wird in dieser Konfrontation klar, wie viel die ehemals bitter verfeindeten Opponenten sozialdemokratischer und marxistisch-leninistischer Historiographie doch gemeinsam hatten: die Konzentration auf Westeuropa, auf den nationalen Rahmen, auf männliche weiße Lohnarbeiter und ihre Organisationen. Zu Recht werden nun diese Engführungen aufgelöst und der Begriff der Arbeit erweitert auf Phänomene wie unfreie Arbeit, informelle Arbeit, Sklaverei und Arbeitsmigration. Letzteres Feld war eindrucksvoll vertreten mit Referaten von MICHELE FORD (Sydney), ABDOULAYE KANE (Florida), DIRK HOERDER (Arizona) und MINJE ZANG (China). Insbesondere der Bildvortrag von Zang machte anschaulich, was für Umwälzungen sich unter dem Deckbegriff der „Globalisierung“ aktuell abspielen in Asien, wo das Kapital heute im wahrsten Sinne des Wortes chinesische Mauern einreißt und die Lebensbedingungen von Milliarden Menschen in revolutionärem Tempo verändert.

Aber auch für die Vergangenheit ergeben sich durch transnationale Herangehensweise neue Einsichten. Schon im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts gab es eine enge Verbindung von so anachronistisch anmutenden Phänomenen wie dem globalen Baumwollmarkt und einem an die Antike erinnernden Sklavenhalterregime in den Südstaaten der USA, wie die Ausführungen von SVEN BECKERT (Harvard), ELISE VAN NEDERVEEN MEERKERK (Amsterdam) und ANDREA KOMLOSY (Wien) eindrucksvoll klarmachten.

Die auf der Konferenz praktizierte zeitliche und räumliche Öffnung des Arbeitsbegriffes hat jedoch auch ihre Kehrseiten. So wurde von einigen TeilnehmerInnen der Diskussion angemahnt, die Erkenntnisse der Marxschen Werttheorie nicht gänzlich außer Acht zu lassen. Denn auch wenn die klassische Lohnarbeit sich in der historischen Rückschau eher als Sonderform erweisen sollte, so stehe doch das Kapitalverhältnis im Zentrum genau jener Entwicklungen, die seit dem 16. Jahrhundert in verschiedenen Wellen immer wieder eine Internationalisierung und Transnationalisierung von Arbeit und Produktion anschöben. Denn, und dies zeigte das erwähnte Beispiel der Baumwollindustrie, gerade die zahlreichen Formen von unfreier und informeller Arbeit sind keine Abweichungen, sondern vielmehr elementare Bestandteile von globalen Produktions- und Verwertungsketten im Weltkapitalismus.

Diese Mahnungen sind ernst zu nehmen. Sie verweisen darauf, dass die Erfassung der Geschichte der Arbeit als globales Phänomen nicht auf einer beschreibenden Ebene und mit naiver Freude an der neu entdeckten Vielfalt stehenbleiben kann Sie muss sich vielmehr auch theoretisch auseinandersetzen mit den ökonomischen Triebfedern hinter den verschiedenen Organisationsformen von Arbeit. Dies ist unerlässlich auch und gerade dann, wenn die Geschichte der Arbeit nicht nur in akademischer Manier reflektieren will, sondern durch eingreifende Kritik auch gesellschaftlich wirksam werden möchte. Es wäre spannend, wenn zukünftige Konferenzen der ITH sich verstärkt auch den theoretischen Herausforderungen des erweiterten Arbeitsbegriffs stellen würden.

Konferenzübersicht:

Eröffnung der Konferenz durch den Präsidenten der ITH, Berthold Unfried, Vertreter der Stadt Linz (Walter Schuster), der AK-Oberösterreich (Reinhold Entholzer) sowie vom AK-Bildungshaus Jägermayrhof (Erwin Kaiser)

Verleihung des René-Kuczynski-Preises 2009 für herausragende Publikationen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an Marcel van der Linden für sein Buch "Workers of the World: Essays toward a Global Labor History", Leiden 2008

Einleitung: Berthold Unfried (Wien): Der ITH-Konferenzzyklus 2007-2009 "Labour History beyond Borders"

Einführung in die Konferenz: Marcel van der Linden (Amsterdam)

PANEL I (Stand der Labour History: Konzepte, Erkundungen und Perspektiven)
Vorsitz: Marcel van der Linden

Dick Geary (Nottingham): The Benefits and Pitfalls of Comparative Labour History across National Boundaries

Rana P. Behal (New Delhi): Changing Paradigms of South Asian Labour Historiography

PANEL II (Verflechtungen innerhalb der Textilbranche und deren Folgen für Arbeitsverhältnisse und -kämpfe)
Vorsitz: Karin Fischer

Andrea Komlosy (Wien): Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Standortkombinationen, Arbeitsverhältnisse und Protestformen in der Textilindustrie, 1700-2000

Sven Beckert (Harvard): Labor Regimes after Emancipation: The Case of Cotton

Elise van Nederveen Meerkerk (Amsterdam): Covering the world: textile workers and globalization, 1650-2000. Experiences and results of a collective research project

Zwischeninventur von Jan Lucassen (Amsterdam): Welche Interpretationsstränge wurden bisher verfolgt?

Öffentliche Podiumsdiskussion: "Migration von Arbeitsplätzen? Auswirkungen globaler Produktionsnetzwerke auf Arbeitsverhältnisse und die Arbeiterbewegung"
Podium: Unter der Leitung von Marcel van der Linden (IISG Amsterdam) diskutieren Sven Beckert (Harvard University), Andrea Komlosy (Universität Wien), Karin Lukas (Ludwig-Boltzmann Institut für Menschenrechte, Wien) und Erich Schwarz (Betriebs- und Aufsichtsrat Fa. MAN, Steyr)

PANEL III (Arbeitsmigration und die Transformation ländlicher Regionen)
Vorsitz: David Mayer

Michele Ford (Sydney): Constructing Legality – Defining Irregular Labour Migration in Thailand and Malaysia

Abdoulaye Kane (Gainesville, Florida): Senegalese Migrants in Europe and the United States, and Home Connections: Remittances and Social Change in the Senegal River Valley

Dirk Hoerder (Tempe, Arizona): Capitalization of Agriculture, 1850s to 1960s: Rural Migrations in a Global Perspective

PANEL III

Minjie Zhang (Hangzhou, China): Urbanization and Migrant Workers in Yiwu, China

PANEL IV (Religion und Klassenbildung in globaler Perspektive)
Vorsitz: Berthold Unfried

Lex Heerma van Voss (Amsterdam): Competing identities: religion and working class formation

Juliana Ströbele-Gregor (Berlin): Soziale Krise und Ausbreitung des evangelikalen Fundamentalismus in Lateinamerika

Schlussdiskussion
Moderation: Jan Lucassen (Amsterdam)